Münkler, Herfried, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918. Rowohlt, Berlin 2013. 924 S., Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wie unter anderem Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ und Manfried Rauchensteiners „Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918“ zählt auch Herfried Münklers „Großer Krieg“ zu jenem Kreis so voluminöser wie erlesener Schriften, deren Publikation dem Hundertjahr-Jubiläum des Kriegsausbruchs zu verdanken ist und an denen niemand vorbeikommt, der sich um ein tieferes Verständnis der Weichenstellungen für die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts  bemüht. Münkler ist - im Gegensatz zu Clark und Rauchensteiner - kein Fachhistoriker; allerdings erweisen sich mögliche Befürchtungen, der als Professor an der Humboldt-Universität Berlin lehrende Politikwissenschaftler würde womöglich mit einer stark politiktheoretisch verengten Darstellung aufwarten, als gänzlich unbegründet.  Tatsächlich entwickelt der Verfasser über neun Kapitel ein von der Praxis des Krieges bestimmtes, weit ausladendes Zeitpanorama, dessen gute Lesbarkeit dem Buch in der kurzen Zeit seiner Präsenz auf dem Markt bereits sechs Auflagen beschert und einen beachtlichen Leserkreis erschlossen hat: Nicht nur, dass bis Mai des laufenden Jahres bereits 50.000 Exemplare des Werks an den Kunden gebracht worden sind, in der Online-Enzyklopädie Wikipedia verfügt es bereits über einen separaten Eintrag.

 

Es scheint daher sinnvoll der Frage nachzugehen, wie die vorliegende Arbeit im Vergleich mit Clarks Aufsehen erregender Schrift und Rauchensteiners Update (beide Werke wurden vom Rezensenten in der ZIER bereits eingehend analysiert) eingeordnet werden kann. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der thematische Fokus der drei Studien jeweils anders gelagert ist. Für Clark steht die diplomatische Vorgeschichte des Kriegsausbruchs im Zentrum seiner Überlegungen, sodass aus seinen Ergebnissen recht eindeutige Rückschlüsse auf die Kriegsschuldfrage dergestalt gezogen werden können, dass ein Versagen der politischen Entscheidungsträger nicht allein in Wien und Berlin, sondern in sämtlichen Zentren der europäischen Großmächte im Zusammenwirken mit der fatalen Automatik der Bündnisse einen allgemeinen Kollaps des Sicherheitssystems in Europa nach sich zog, sodass Fahrlässigkeit, Ungeschicklichkeit und mangelnde Empathie in einen Krieg führten, den im Grunde keiner gewollt hat. Rauchensteiner hingegen zeichnet ein durchgehendes Bild des Ersten Weltkriegs aus der Sicht Österreich-Ungarns. Im Hinblick auf die Frage der Verantwortlichkeit hebt er stark die Rolle des Monarchen Franz Joseph hervor, der sich unter dem Einfluss bellizistischer Strömungen in seinem Umfeld zu früh auf einen Kriegskurs festlegte oder festlegen ließ und damit von vornherein die bestehenden Handlungsoptionen für eine friedliche Beilegung des Konflikts in unverantwortlicher Weise beschnitten hat. Herfried Münkler will eine Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs vorzulegen, jenes „Brutkasten(s), in dem fast alle jene Technologien, Strategien und Ideologien entwickelt wurden, die sich seitdem im Arsenal politischer Akteure befinden“ (S. 9). Obwohl er dabei immer wieder auch die Perspektive der Entente-Mächte einzubringen sucht, sind seine Ausführungen vom Blick auf die Entwicklungen bei den Mittelmächten, insbesondere des Deutschen Reiches, dominiert, was ihm bereits von manchen Kritikern vorgehalten worden ist, vom Rezensenten aber für durchaus legitim - weil methodisch indiziert - erachtet wird. In der Frage der Verantwortlichkeiten für die Katastrophe sieht er diese - ähnlich wie Clark - polykausal gelagert, wenn er, Fritz Fischers klassischer, „bei einer komparativen Herangehensweise nicht aufrecht [zu] erhalten[der]“ Alleinschuldhypothese (1961) klar widersprechend, differenzierend festhält: „In ihren Absichten waren sich die kriegsbeteiligten Akteure […] erstaunlich gleich; infolge der jeweiligen Machtverhältnisse, Bündniskonstellationen und geopolitischen Gegebenheiten trugen sie jedoch in unterschiedlichem Maß Verantwortung für die Folgen ihres Handelns. Und in dieser Hinsicht war die Verantwortung einer Regierung in der Mitte Europas, zumal des wirtschaftlich und militärisch mächtigsten Akteurs auf dem Kontinent, eben sehr viel größer als die der Regierung eines peripher gelegenen oder schwächeren Staates. […] Andererseits konnte die Macht in der Mitte Europas ihrer Verantwortung kaum nachkommen, wenn die anderen Großmächte des Kontinents sie nicht in dieser Position akzeptierten und unterstützten. Die Macht Deutschlands war groß, aber sie war nicht groß genug, um mit den Problemen und Herausforderungen der Mittellage allein fertig zu werden. Zwar hat es in Frankreich und England […] Stimmen gegeben, die darauf hinwiesen, dass man Deutschland nicht in die Enge treiben dürfe. Auf die Politik der Regierungen in Paris und London haben sich diese Warnungen jedoch nicht ausgewirkt“ (S. 105f.).

 

Seine Einschätzungen und Analysen gründet der Politologe Herfried Münkler auf die reichhaltige Spezialliteratur zum Ersten Weltkrieg, die er annähernd vollständig rezipiert; sein klein gedrucktes, aber leider nicht binnendifferenziertes Literaturverzeichnis umfasst gut vierzig Seiten. Eigene Archivrecherchen hat er im Gegensatz zu Clark und Rauchensteiner nicht angestellt, was der Substanz seines Werks allerdings keinen Abbruch tut, sofern man dieses nicht durch die Erwartung einer über den Forschungsstand hinausgehenden, spektakulären Neuorientierung auf der Grundlage bisher unberücksichtigter Quellen überfordert. Illustriert mit einer erheblichen Anzahl aussagekräftiger, bisher kaum publizierter und erhellend kommentierter Schwarzweiß-Fotografien sowie mit Kartenmaterial von den Schauplätzen  des Krieges, bewegt sich der Text von den Wegen zum Krieg und der Frage nach dessen Sinn und Zielen über das Scheitern des Schlieffen-Plans, die Erstarrung und Ausweitung des Krieges, die Erschöpfung und den Zusammenbruch der Mittelmächte hin zu abschließenden Überlegungen zum „Erste(n) Weltkrieg als politische(r) Herausforderung“. Der Verfasser bezeichnet Krieg allgemein als den „Meister der Paradoxien“, würden sich doch selten „Absichten und Wirkungen so (verkehren) wie im Krieg und seinen Folgen“ (S. 785). Nicht, wie intendiert, der Aufstieg zu politischer Macht, sondern die „Marginalisierung des Bürgertums“, das „als klassische Zwischen- und Vermittlungsschicht den durch den Krieg freigesetzten Fliehkräften nicht standhalten konnte“, sei so ein unbestreitbares Ergebnis des Ersten Weltkriegs und zugleich eine entscheidende Voraussetzung für das nachfolgende, verheerende „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) gewesen (S. 797). Ein Lernen aus der Geschichte in Bezug auf „Konstellationen, die einer Ereignisfolge zugrunde liegen“, hält Münkler durchaus für möglich und wünschenswert und richtet dabei den Blick über Europa hinaus ins ferne Ostasien. So gehe „eine Reihe von Beobachtern davon aus, dass sich China heute in einer ähnlichen Position befindet wie das Deutsche Reich vor einem Jahrhundert und die Konstellationen im Fernen Osten denen auf dem Balkan vor dem Ersten Weltkrieg vergleichbar seien“. Schon jetzt löse „der wirtschaftliche und politische Aufstieg Chinas bei den Nachbarn Ängste aus; sie beginnen, antiimperiale Koalitionen zu bilden, um den Einfluss Pekings in der Region zu begrenzen. […] Die Führung in Peking sucht dem wiederum durch die Verbesserung ihrer Beziehungen zu Russland und eine wachsende Einflussnahme im zentralasiatischen Raum entgegenzuarbeiten. Sie befindet sich in einer Position erhöhter Verantwortung, aber das sind auch die USA: Die Regierung in Washington muss darauf achten, dass die von ihr beeinflusste antihegemoniale Koalitionsbildung bei den Chinesen nicht zu Einkreisungsängsten führt, die diese dazu verleiten, mit Präventivkriegsideen zu spielen“ (S. 773ff.).

 

Mehr noch als durch diese anregenden politischen Thesen überzeugt der vorliegende Band durch die oft anschaulich-drastische Art der Vermittlung des Kriegsgeschehens sowohl auf der Ebene des Soldatenalltags, die nichts an Realistik ausspart („Die Präsenz des Todes in Gestalt der unbestatteten Gefallenen wurde auch für Robert von Ranke-Graves, der auf britischer Seite am Krieg teilnahm, eines der Merkmale des Stellungskriegs […]: ‚Die Toten, die wir nicht aus dem deutschen Stacheldraht herausholen konnten, schwollen immer weiter, bis die Bauchdecke einfiel, entweder von allein oder infolge eines Schusses. Ein widerwärtiger Geruch wehte zu uns herüber. Die Gesichter der Toten wurden zunächst fahl, dann gelblich-grau, rot, purpur, grün und schwarz, bis sie zum Schluss die Farbe des Schlamms annahmen.‘“ S. 369; an anderer Stelle werden sogar die Bordelle und Latrinen thematisiert), der militärischen Führung („Tatsächlich erwies sich Ludendorff vor und während der Schlacht von Tannenberg als das treibende Element, während Hindenburg mit großer Ruhe und noch größerem Schlafbedürfnis dessen Entscheidungen absegnete und es überaus schätzte, wenn er einem geregelten Tagesablauf nachgehen konnte. […] Max Hoffmann, einer der wichtigsten Generalstäbler an der Ostfront, berichtete im September 1915: ‚[…] Ludendorff macht alles allein. […] Wenn das deutsche Volk wüßte, daß sein Held Hindenburg eigentlich Ludendorff heißt.‘“ S. 146ff.) als auch auf der Metaebene der zustimmenden oder distanzierten Stimmen des intellektuellen Überbaus (hier kommen neben vielen anderen Zeitgenossen Georg Trakl, Thomas Mann, Ernst Jünger und Max Weber zu Wort). Diese Qualitäten überwiegen klar die gelegentlich monierten, wenigen Schwächen und terminologischen Ungenauigkeiten in Münklers Darstellung des Seekriegs und der Rüstungspolitik.

 

Mit dem „Großen Krieg“ bemüht der Verfasser einen Titelbegriff, der vornehmlich im Westen Europas die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg kennzeichnet. Er spricht von einer wohlbegründeten „Dreiteilung des europäischen Kollektivgedächtnisses […]: Während in Westeuropa der Krieg zu dem großen Opfergang wurde und dies durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch auch blieb - die französischen und britischen Gefallenenzahlen im Zweiten Weltkrieg waren deutlich niedriger als die im Ersten -, war er für die Deutschen und für die Mitteleuropäer und Osteuropäer bloß der Auftakt zu einem weiteren furchtbaren Krieg, der noch verheerender war als der erste und noch tiefere Spuren im Leben der Menschen hinterlassen hat, vom Tod auf dem Schlachtfeld bis zur Vertreibung und Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen“ (S. 753f.). Je nachdem, ob eine Betrachtung stärker auf die Zäsuren und Interpunktionen der Geschichte abzielt oder ob sie die Kontinuität der Gewalt in den Mittelpunkt stellt, seien unterschiedliche Periodisierungsmodelle plausibel. So habe sich neben der „wesentlich von der deutschen Historiographie durchgesetzten Ordnung der Ordinalzahlen, die den Ersten Weltkrieg vom Zweiten Weltkrieg unterscheidet und es ermöglicht, den Kalten Krieg der 1950er und 1960er Jahre als den nicht stattgefundenen Dritten Weltkrieg zu bezeichnen“, als speziell für den Osten Europas tragfähiges Konkurrenzmodell auch „ein ‚Zusammenschreiben‘ des Ersten und Zweiten Weltkriegs zu einem neuen ‚Dreißigjährigen Krieg‘“ etabliert (S. 757).

 

Herfried Münkler schließt sein mit bemerkenswerter Sorgfalt lektoriertes Buch über den „Großen Krieg“ mit einer persönlichen Reminiszenz an seine Großmutter und verdichtet dabei zugleich die Quintessenz seiner Ausführungen in einem ebenso einfachen wie eingängigen Satz: „Für sie war dieser Krieg, wie für Millionen andere, ein furchtbares Unglück“ (S. 924). Dass nun mit Münklers Werk der wohlgelungene Versuch einer konsistenten Darstellung dieser Menschheitskatastrophe aus deutscher Feder vorliegt, wird man dagegen durchaus als Glücksfall werten dürfen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic