Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der Kriegswirtschaft und der Verwaltung des „Dritten Reiches“ 1936 bis 1945, hg. v. Werner, Oliver (= Nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ – Studien zu Konstruktion, gesellschaftlicher Wirkungsmacht und Erinnerung 3). Schöningh, Paderborn 2013. 328 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Bestreben, das eigentümliche Wesen der nationalsozialistischen Herrschaft zu erfassen und zu beschreiben, sucht die Geschichtsforschung unentwegt nach erfolgversprechenden Zugängen, die nicht selten an bestimmten Schlüsselbegriffen ansetzen. Eine im März 2010 unter dem Titel „Mobilisierung im Nationalsozialismus“ an der Universität Jena gemeinsam mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam abgehaltene Arbeitstagung des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts „Die NS-Gaue als Mobilisierungsstrukturen für den Krieg“ hat sich in diesem Sinne zum Ziel gesetzt, die historisch-analytischen Möglichkeiten des Terminus der „Mobilisierung“ zu umreißen und tiefer auszuloten.

 

Im Großen zielt der Ausdruck „Mobilisierung“ auf die gesellschaftliche Dynamik des NS-Systems, auf seine Kriegsvorbereitungen und seine Durchhaltefähigkeit. Wie Oliver Werner, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projekts und Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes zur Tagung, in seiner auch die einzelnen Beiträge prägnant zusammenfassenden Einführung darlegt, seien in der bisherigen Forschung zum Nationalsozialismus vier Varianten der Mobilisierung zu unterscheiden: Erstens die öffentliche oder psychologische Mobilisierung, welche „die Aktivierung und Herrschaftsbeteiligung der Bevölkerung durch institutionelle Einbindung und Propaganda“ bezeichne, zweitens die Selbstmobilisierung insbesondere akademischer Eliten, die „ihre Mitarbeit und ihre Ressourcen auch unaufgefordert in den Dienst des Regimes zu stellen“ bereit waren, drittens die Mobilisierung als Synonym für die umfassende militärische Mobilmachung sowie, in Erweiterung dieser und mehr auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang fokussierend, viertens „die Fähigkeit von Staaten, Kriege vorzubereiten, zu führen und durchzuhalten“ (S. 9ff.).

 

Die anschließenden 16 Beiträge des Bandes gruppieren sich zu insgesamt vier Themenblöcken. Drei Aufsätze bemühen sich um eine genauere Justierung des Begriffs in Anwendung auf die NS-Herrschaft (Jürgen John zur Frage der Mobilisierung als Charakteristikum des NS-Systems; Detlef Schmiechen-Ackermann zu Mobilisierung und Volksgemeinschaft; Rüdiger Hachtmann zum Umgang mit Schlagworten in der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte der NS-Diktatur), die große Mehrheit, nämlich acht, untersucht die Praxis der nationalsozialistischen Mobilisierung anhand der besonderen Rolle regionaler und lokaler Instanzen des Regimes und ihres Zusammenwirkens mit ad hoc eingesetzten Sondergewalten (Paul Fröhlich zum Wehrwirtschaftsstab; Alexander Kranz zum Allgemeinen Heeresamt; Lars Amenda zu den Reichswerken „Hermann Göring“ im Salzgittergebiet; Hedwig Schrulle zu den preußischen Regierungspräsidenten am Beispiel Westfalens; Markus Strehle zum NS-Gau Thüringen; Joachim Hendel zu den Ernährungsämtern; Ralf Blank zum Gau Westfalen-Süd; Oliver Werner zu den Rüstungskommissionen des Speer-Ministeriums). Die der starken Dynamik dieser Mobilisierung inhärenten, räumlichen wie ideologischen Entgrenzungsprozesse werden von drei weiteren Autoren ins Blickfeld gerückt (Stephan Lehnstaedt zum Generalgouvernement als Mobilisierungsreserve; Tilman Plath zur Arbeitseinsatzpolitik im Baltikum; Marc Bartuschka zu Mobilisierungsstrategien des totalen Krieges und der NS-Betriebsgruppe „Reichsmarschall Hermann Göring“), bevor zwei vergleichende Perspektiven einbringende Darstellungen (Claus Bech Hansen zur Kriegsmobilisierung in der usbekischen Sowjetrepublik; Oliver Werner zur administrativen Mobilisierung in der DDR) den Band beschließen.

 

Die Beiträge des Sammelwerks stellen die hohe Bedeutung heraus, die den bisher weniger beachteten mittleren Instanzen der Verwaltung bei der Umsetzung und Durchsetzung der Ziele des nationalsozialistischen Staates zukam, und dokumentieren auch die der Vielzahl konkurrierender Akteure zuzurechnenden, unvermeidlichen Reibungsverluste. Jürgen John führt interne Konflikte nicht nur auf die der „sozialdarwinistischen Systemlogik des Nationalsozialismus“ zuzurechnende „Fülle der Zuständigkeiten unterschiedlicher Instanzen für die gleichen Sachverhalte“ zurück, sondern auch auf „Sachzwänge“ sowie die „Handlungslogik und […] Interessenslagen verschiedener Instanzen, Handlungsebenen und Politikfelder“. Wissenschaft und Hochschulwesen seien „Musterbeispiele für Mobilisierungsgewinner und –verlierer. […] Zu den Gewinnern gehörten die Bio-, Agrar-, Raum-, Medizin-, Natur- und Technikwissenschaften, zu den Verlierern die Geistes- und Erziehungswissenschaften“ (S. 53f.). Mobilisierung sei kein linearer stetiger Prozess gewesen, sondern erfolgte schubweise „vor allem auf jenen Politikfeldern und in jenen Perioden, die in besonderem Maße auf Ressourcenmobilisierung ausgerichtet waren“. Ein erster Schub nach der Machtergreifung sei von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und agrarischer Forcierung gekennzeichnet gewesen, dem erst ab 1935/1936 ein zweiter mit gewerblich-industriellem Schwerpunkt im Dienste der Aufrüstung folgte. Ab 1939 „schien der mit Vierjahresplan, ernährungspolitischer Mobilmachung und Ausplünderung eroberter Gebiete erreichte wirtschaftliche Mobilisierungsgrad in der Zeit der ‚Blitzkriegswirtschaft‘ auszureichen“. Die Kriegswende 1942/1943 machte mit dem „totalen Krieg“ einen neuerlichen Schub notwendig, „mit flächendeckendem Auf- und Ausbau des ‚neu‘- und ‚maßnahmenstaatlichen‘ Kommissars- und Sondergewaltensystems auf Reichs-, Mittel- und Lokalebene“, ein letzter - gekennzeichnet durch „gesteigerte Radikalität, Entgrenzung und den Verlust rationaler Maßstäbe auch für die Beurteilung eigener Mobilisierungsmöglichkeiten“ - sei schließlich 1944/1945 zu beobachten (S. 56f.). Die Frage, ob der von den Nationalsozialisten propagierte Begriff der „Volksgemeinschaft“ ebenfalls eine tragfähige wissenschaftliche Analysekategorie darstelle, wird in den jeweiligen Ausführungen Detlef Schmiechen-Ackermanns (S. 61ff.) und Rüdiger Hachtmanns (S. 72ff.) konträr beantwortet.

 

Marc Bartuschka sieht die entscheidende Rolle für das Ausmaß der erfolgten Mobilisierung in der „Bereitschaft zentraler, regionaler und lokaler Akteure, für die Verlängerung des deutschen Vernichtungskrieges sowohl entlang vertikaler als auch horizontaler Strukturen zusammenzuarbeiten und auftretende Konflikte und Probleme meistens kooperierend zu bewältigen. Dies betraf die Parteiorgane und Organisationen der NSDAP, Landes- und zentralstaatliche Instanzen, die Privatwirtschaft, den Repressionsapparat, das Militär und vielfach auch ganz normale Zivilisten. Bis zuletzt konnten die beteiligten Akteure erhebliche Mobilisierungspotentiale aktivieren“ (S. 280). Doch nicht überall wurden optimale Ergebnisse erzielt, wie Stephan Lehnstaedt, Autor der Studie „Okkupation im Osten. Besatzeralltag in Warschau und Minsk 1939-1944“ (2010), für das Generalgouvernement zeigen kann, wo die rassistische Volkstumspolitik der deutschen Besatzer ihren (wehr)wirtschaftlichen Interessen zuwiderlief. Seit 1939 „ignorierten die Nationalsozialisten […] die Zwänge der komplexen Volkswirtschaft Polens - und richteten diese dadurch zugrunde - , weil ihnen wegen der scheinbar nicht notwendigen Rücksichtnahme auf die Einheimischen […] eine vollständige Inanspruchnahme der Ökonomie für die zum jeweiligen Zeitpunkt dominierenden Ziele möglich erschien. Doch eine totale Steuerung und Planung hätte letztlich einen erheblich größeren Aufwand an Personal, Material und vor allem an gesamtwirtschaftlichen Konzepten und Einsichten bedeutet. […] Letztlich nahmen sie zahlreiche willkürliche Eingriffe vor, deren Ziele und Wirkungen meist nur monokausal betrachtet wurden“ und die eine „durch ideologische Prämissen noch verstärkte wirtschaftliche Inkompetenz der Besatzer“ offenbarten (S. 251f.).

 

Die Beiträge dieses Bandes, dem ein Verzeichnis seiner Autorinnen und Autoren angefügt ist, deuten somit das umfangreiche Potential an, das der Mobilisierungsbegriff für die Erforschung des Nationalsozialismus bereithält. Es ist damit zu rechnen und zu begrüßen, dass sich auch zukünftige Studien dieses vielversprechenden methodischen Werkzeuges bedienen werden.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic