Menninger, Lars, Die Inanspruchnahme Privater durch den Staat. Das Recht der Aufopferung und Enteignung im 18. und 19. Jahrhundert (= Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 20). Nomos, Baden-Baden 2014. 375 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Entstehung des Eigentums über die nicht bestrittene Ergreifung eines körperlichen Gegenstands oder die einverständliche Übertragung zählt wohl zu den wichtigsten Bausteinen des allmählich entstandenen Sachenrechts. Gefährdet war diese gesellschaftliche Errungenschaft nicht nur von Anfang an durch die heimliche gewaltlose und die offene gewaltsame Wegnahme, die als rechtswidrig eingestuft wurden, sondern seit der Neuzeit auch durch die als notwendig begründete und damit als rechtmäßig eingeordnete Entziehung seitens der Allgemeinheit. Angesichts des dabei ablaufenden vielfältigen Geschehens, das erst im Zuge der Errichtung moderner Chausseen, Kanäle und Eisenbahnstrecken allgemeiner hervortritt, verdient eine Geschichte der Inanspruchnahme Privater durch den Staat uneingeschränktes Interesse.

 

Die vorliegende Arbeit ist die von Hans-Peter Haferkamp angeregte und trotz ihrer langen Entstehungsdauer mit außerordentlich viel Geduld und Vertrauen begleitete, im Wintersemester von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln angenommene Dissertation  des während einer wundervollen und unvergesslichen Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter seines Lehrers tätigen Verfassers. Sie gliedert sich außer in eine Einführung über den Untersuchungsgegenstand, den Forschungsstand, ausgewertete Quellen (naturrechtliche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, maßgebende Werke des usus modernus dieser Zeit, an manchen Stellen Bezugnahmen auf Werke beider Strömungen aus dem 16. Jahrhundert, Auswertung der greifbaren Konsilienliteratur, untergerichtliche Entscheidungen in praxisnahen Werken, gerichtliche Observationes, privat verfasste Entscheidungssammlungen, Cramers Wetzlarische Nebenstunden, bedeutendere staatsrechtliche und privatrechtliche Werke des 19. Jahrhunderts, Aufsätze in zeitgenössischen juristischen Enzyklopädien, wesentlich umfangreichere Monographien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, amtliche Entscheidungssammlungen der höheren Gerichte, sonstige Entscheidungssammlungen und interessante Akten mit dokumentierten Enteignungsfällen und mehr oder weniger ausführlichen Materialien zur Entstehung mancher Enteignungsgesetze aus den aufgesuchten Archiven in Berlin, Münster und Düsseldorf) sowie Gang der Untersuchung & (!) Methode in zwei Teile. Sie betreffen die Entstehung der Begriffe Aufopferung und Enteignung im 18. und 19. Jahrhundert und die materiell-rechtlichen  Entwicklungslinien des staatlichen Rechtes zur Inanspruchnahme der Bürger, wobei ein vierter abschließender Teil die Ergebnisse, die wesentlichen Korrekturen des bisherigen Forschungsstands und die Auswirkungen auf die heutige Enteigungsdogmatik zusammenfasst.

 

Das auf diesem langen und umfangreichen Weg entstandene Literaturverzeichnis bietet der Verfasser auf den Seiten 353-375. Es gliedert sich in zwei Teile. Teil A umfasst die gedruckten Quellen von Claudia Albrechts Arbeit über Bismarcks Eisenbahngesetzgebung und Hans-Peter Haferkamps Studie über The Science of Private Law and the State in Nineteenth Century Germany im Band 56 des American Journal of Comparative Law bis zu Heinrich Zöpfls Artikel über Privilegien bzw. Privilegienhoheit im von Rotteck und Welcker herausgegebenen Staatslexikon, Teil B die ungedruckten Quellen (5 Aktenbestände aus dem geheimen Staatsarchiv preußischer Kulturbesitz in Berlin, je ein Aktenbestand aus dem Hauptstaatsarchiv Düsseldorf und aus der Abteilung Westfalen des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen in Münster). Auffällig erscheint dabei, dass das „Literaturverzeichnis“ nur Quellen umfasst, dass sich aber in den gedruckten Quellen die gesamte Literatur findet und dass an den zu erwartenden Stellen weder das Deutsche Rechtswörterbuch noch das Wörterbuch der Brüder Grimm genannt werden, in denen am ehesten das bisherige philologische Wissen über die Wörter Aufopferung und Enteignung enthalten sein oder vermisswt werden könnte.

 

Im Einzelnen untersucht der Verfasser in seiner Begriffsgeschichte das 18. Jahrhundert (Aufopferung, Zwangsverkauf und Zwangsabtretunng) und das 19. Jahrhundert mit der Verbreitung von Expropriation und Enteignung unter französischem Einfluss. Bei den materiellrechtlichen Entwicklungslinien betrachtet er die Berechtigung zur staatlichen Inanspruchnahme der Bürger, die dogmatische Rechtsnatur der Inanspruchnahme, die Objekte der staatlichen Inanspruchnahme und die Entschädigung. Im Ergebnis stellt er für die Frage, ob die politischen und rechtlichen Umbrüche der Aufklärungszeit zu einer Einschränkung der zuvor vermeintlich unbegrenzten Enteignungsbefugnis der Aufklärungszeit führten, weit mehr Kontinuität als Diskontinuität fest. Von Grotius ausgehend formuliert er dabei etwa: Ebenso unlösbar ist in beiden Jahrhunderten letztlich das mit der weit auslegbaren utilitas verbundene Problem ihrer interessenausgewogenen Definition unlösbar (!) geblieben, da auch die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts lediglich die Wahl hatten (!), entweder sämtliche gemeinwohlbezogenen Enteignungsfälle aufzuzählen oder weiterhin abstrakt dem öffentlichen als allgemeines Erfordernis zu verlangen, dessen Vorhandensein dann grundsätzlich von der Verwaltung zu entscheiden war.

 

Im Anschluss hieran zählt er zahlreiche Ergänzungen und Korrekturen des bisherigen Forschungsstands (Schwennicke, Schwab, Grimm. Ulmschneider, Mann) auf. Damit wird ihm am Ende auch Ossenbühls gesamtes Fazit zum Begriff der klassischen Enteignung fragwürdig. Soweit er (Ossenbühl) vom enteignungsrechtlichen Eigentumsbegriff spricht, müsste das Ergebnis eigentlich lauten, dass die damit verbundene Ausdehnung nur die Rückgängigmachung der vorherigen Beschränkung auf das Mobiliareigentum und Immobiliareigentum darstellt, während die Verfeinerung der Möglichkeiten des Zugriffs auf diesen weiten Vermögensbereich dagegen fast ausschließlich eine von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht seit dem zweiten Weltkrieg (oder doch eher nach Begründung der Bundesrepublik Deutschland) vorgenommene Rechtsfortbildung darstellt (!), die sich aus der geschichtlichen Entwicklung des Enteignungsrechts – und damit ist nicht nur das preußische Recht gemeint – nicht herleiten lässt.

 

Insgesamt erweist sich das bearbeitete Thema als sehr interessant. Der Verfasser hat sich auch mit erkennbarem Fleiß um weiterführende Lösungen bemüht. Die Präsentation seiner gegenüber den vermissten Wörterbüchern neuen Erkenntnisse wirkt aber insgesamt leider nicht ganz so überzeugend, wie dies wünschenswert gewesen wäre (aufopfern 1452, enteignen 1462, Aufopferung 1811, Enteignung Anfang 19. Jh.).

 

Innsbruck                                                                  Gerhard Köbler