Lüdicke, Lars, Constantin von Neurath. Eine politische Biographie. Schöningh, Paderborn 2014. 705 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Constantin Hermann Karl Freiherr von Neurath (1873 – 1956) ist als letzter Außenminister der Weimarer Republik und erster des Dritten Reiches, dem er in der Folge von 1939 bis 1941 auch als Reichsprotektor in Böhmen und Mähren dienen sollte, in die deutsche Geschichte eingegangen. In seinem Lebensweg, beginnend im jungen Kaiserreich der Hohenzollern, über die Republik von Weimar und die nationalsozialistische Diktatur bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik, fließen somit die Prägungen und Charakteristika vier politischer Systeme zusammen, ein Umstand, der seine Person in besonderem Maße geeignet erscheinen lässt, in ihr die Determinanten, Konstanten und Verwerfungen diplomatischen Handelns im Wandel der geschichtlichen Entwicklung nachzuzeichnen.

 

Im Blickpunkt steht dabei einmal mehr das Bemühen, das Bestreben einer der klassischen Eliten der deutschen Gesellschaft - hier des diplomatischen Korps - , sich im Nachhinein als eine dem Nationalsozialismus gegenüber resistente Institution zu präsentieren, in Frage zu stellen und die Glaubwürdigkeit solcher Behauptung an der historischen Wirklichkeit zu messen. Im Laufe des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends hat sich eine eigens zu diesem Zweck ins Leben gerufene Unabhängige Historikerkommission mit dem Thema befasst und ihre Ergebnisse in der viel beachteten kritischen Publikation Eckart Conzes, Norbert Freis, Peter Hayes‘ und Moshe Zimmermanns „Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ (2010) der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht. Wissenschaftlicher Mitarbeiter dieser Kommission war auch Lars Lüdicke, der auf der Grundlage seiner dort gewonnenen Einblicke in die Geschichte des Auswärtigen Amts 2010/2011 die Basis der vorliegenden Neurath-Biographie als seine von Manfred Görtemaker betreute Doktorarbeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam eingereicht hat. Der mit einem Endnotenapparat, einem Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Personenregister ausgestattete Band hätte ein etwas sorgfältigeres Lektorat verdient, denn neben meist die Flexionsendungen betreffenden Flüchtigkeitsfehlern finden sich bisweilen auch fehlerhafte Namensangaben (z. B. S. 211: Hammerstein-Equort statt „Equord“; S. 537: Rudolf Heydrich statt „Reinhard“).

 

Das Wesen moderner wissenschaftlicher Biographien besteht darin, Leben und Schaffen des Protagonisten in einem intersubjektiv nachvollziehbaren Wirkzusammenhang plausibler Kausalitäten darzustellen und gleichsam durchgehend nachweisbare und wirksame Prägungen, wie sie beispielsweise Peter Longerich (2010) für Joseph Goebbels in dem sich auf Hitler fixierenden Narzissmus erkannt haben will, als Erklärungsmodell zu identifizieren. Was waren also die Triebkräfte, die Constantin von Neuraths Denken und Handeln zeitlebens bestimmten?

 

Entscheidend seien jene ersten 45 Jahre seines Lebens gewesen, die er im Kaiserreich verbracht habe und die ihn das Leitbild vom Reich als einer auf militärische Stärke gestützten Groß- und Weltmacht so verfestigen ließen, dass er bereit war, dieses Ziel unter Ausblendung möglicher Bedenken bedingungslos zu verfolgen. Dabei beschreibt der Verfasser Neuraths persönliches Naturell als eine Mischung von „stoische(r) Ruhe“ und „ausgeprägte(r) Geduldsamkeit mit einer zielorientierten Beharrlichkeit“ auf der einen und einem „nur bedingte(n) Ehrgeiz, der weit hinter anerzogenem Pflichtbewusstsein zurückblieb“, auf der anderen Seite (S. 25). Er blieb stets „eine blasse Persönlichkeit, […] weder in die Diplomatie noch später in die Politik wird er Fähigkeiten oder auch nur seinen Willen einbringen können, die ihn für Höheres prädestiniert hätten“ (S. 61). Den Weg des mediokren schwäbischen Adeligen in den diplomatischen Dienst ebneten auf der Grundlage seiner standesgemäßen Herkunft, seiner materiellen Saturiertheit, seines juristischen Studiums als Angehöriger einer pflichtschlagenden Verbindung in Tübingen und seines Reserveoffizierspatents vielmehr „Konnexion und Protektion“. In der Wilhelmstraße, „der exklusiven Traditionsbehörde des wilhelminischen Kaiserreiches“, traf er auf „eine weithin homogene, ja im elitären Korpsgeist verbundene Beamtenschaft“, in welcher der Adel sich „eine nach außen wirkungsvoll abgeschirmte Bastion geschaffen hatte, die […] mit der Kontinuität der Funktionseliten auch die politische Zäsur von 1918/1919 überdauerte“ und die im Nationalsozialismus „mit quasi selbstverständlicher Routine ihre Zuarbeit auch der neuen Regierung zur Verfügung (stellte), die gewissermaßen auf verfassungsmäßigem Wege ins Amt gekommen war“ (S. 590ff.). Aber auch ein „Antisemitismus der Vorbehalte gegen Juden, dem Neurath anhing“, war unter der Beamtenschaft des Auswärtigen Amts „weithin verbreitet“ (S. 60).

 

Vorbildcharakter, wie das Deutsche Reich die ihm zugedachte Weltstellung erlangen sollte, erlangten für Neurath die Erfahrungen, die er nach Verwendungen als Botschaftsrat in Konstantinopel (1915), Kabinettschef in Stuttgart (1917) und Gesandter in Kopenhagen (1919) schließlich als langjähriger Botschafter im faschistischen Italien (1922 bis 1930) machte und die ihn zu einem Bewunderer Mussolinis werden ließen. „Einmal müsse ‚doch auch bei uns ein Mussolini kommen‘, hatte Neurath 1923 formuliert – und ab 1933 zeigte er sich gewillt, Hitler gewissermaßen zu einem zweiten Mussolini zu machen. […] Wenn es schon keine Möglichkeit der Restauration der Monarchie in Deutschland gab, dann blieb als mögliche Staatsform immerhin noch die Diktatur, von der sich ein Ausgleich zwischen traditioneller Staatlichkeit und nationaler Massenbasis zum Zwecke der Stärkung nationaler Selbstbehauptungskräfte erhoffen ließ“. Als es Hitler 1933/1934 nach Hindenburgs Ableben gelungen war, alle Macht in seiner Hand zu vereinigen, erschien dem seit 1930 als Botschafter in London akkreditierten, dann vom Reichspräsidenten ins Ministeramt gedrängten Neurath, „der dem außenpolitischen Aufstieg zur Groß- und Weltmacht schier existentielle Bedeutung beimaß, die innere Geschlossenheit zum Zweck des machtpolitischen Aufstieg[s] als höhere Priorität im Sinne der Selbstbehauptung des Staates denn die formale Intaktheit von Institutionen“ (S. 594f.). In der Folge ging es Neurath „weder um partielle Kooperation des Auswärtigen Amts noch um temporäre Kollaboration“, sondern um eine „vorauseilende Zusammenarbeit, die auf eine etablierende Integration in den nationalsozialistischen Staat hinauslief“. Somit zerfalle die Geschichte des Auswärtigen Amts im Dritten Reich, „allen späteren Legendenbildungen zum Trotz“, mitnichten „in eine unbelastete und eine belastete Phase“, beginnend mit Ribbentrops Berufung auf den Posten des Außenministers (S. 598f.). Als Reichsprotektor in Prag sei Neurath dann „Teil der verbrecherischen ‚Germanisierung‘ des ‚Protektorats‘“ gewesen; „seine moralische und juristische Gesamtverantwortung für die Verfolgung der Juden ist jedenfalls genauso unstrittig wie für die Etablierung des Besatzungsregimes“ (S. 521), auch wenn er sich weigerte, mit seinem Namen für die Gewaltmaßnahmen Heydrichs einzustehen. Die mit der offiziellen Amtsentbindung im Sommer 1943 in Verbindung stehende Beförderung zum SS-Obergruppenführer nahm er offensichtlich wohlwollend zur Kenntnis. Offen muss schließlich seine Rolle im Zusammenhang mit Staatsstreichplanungen um Generalfeldmarschall Rommel bleiben, wobei wohl eher die „Aussichten auf einen aushandelbaren Friedensschluss“ seine Gedanken dominiert haben dürften, während ihm „die Idee an einen aus tieferen ethischen Bindungen resultierenden Widerstandsakt insofern fern(lag), als sein Hauptinteresse der Machtsicherung des Reiches galt“ (S. 556).

 

Wie Franz von Papen, hielt auch Constantin von Neurath bis an sein Lebensende „unbeirrbar und uneinsichtig an der im Nürnberger Prozess etablierten Abwehrstrategie fest, nach der sie, gleichsam als Felsblock inmitten eines Flusses, die Gewalt der reißenden Strömungen vermindert hätten, aber am Ufer einflusslos gewesen wären“ (S. 580). Auf der Grundlage seiner Forschungsergebnisse deklariert der Verfasser dieses Verhalten als „Lebenslüge“ und „Versagen vor dem eigenen Gewissen“; resümierend hält er fest: „Neurath agierte nicht als Spitze eines Fachbeamtentums, das weder für die nationalsozialistische Verbrechenspolitik noch für den Kurs der Außenpolitik verantwortlich zu machen ist; mitnichten kann er als tragisch gescheiterte Figur gelten, die nur ‚Schlimmeres zu verhüten‘ versucht habe; und erst recht darf er nicht als Identifikationsfigur einer konservativen Opposition gegen Hitler in Anspruch genommen werden. Vielmehr verkörperte er den aktiven Antreiber einer vorauseilenden Kooperation, die auf antidemokratischem und antisemitischem Grundkonsens basierte, die auf den Wiederaufstieg des Reiches abzielte, die sich im Sinne einer Selbstgleichschaltung zunehmend dynamisierte und radikalisierte und die sich von einer Mitwirkung an den Regimeverbrechen und dem Kriegskurs nicht trennen lässt“ (S. 603f.).

 

Unzweifelhaft macht auch diese Biographie, die sich zugleich als eine komprimierte Geschichte der Außenpolitik der Weimarer Republik und des Dritten Reichs liest, deutlich, wie weit der im autoritären Kaiserreich kultivierte Machtstaatsgedanke, der das Denken der deutschnationalen aristokratischen Eliten dominierte, vom heutigen Idealverständnis einer auf den Regeln des Völkerrechts gründenden, freien und demokratisch organisierten Völkergemeinschaft entfernt war. Ein Standesbewusstsein, das demonstrative Wehrhaftigkeit und ritualisierte Gewalt als integrative Werte kultivierte, das den demokratischen Staat nach einem Diktum Ernst von Weizsäckers nur als „Abfallprodukt der Niederlage“ (S. 191) wahrzunehmen imstande war, war optimal prädestiniert dafür, dem aufstrebenden Nationalsozialismus in die Hände zu arbeiten. Für die Praxis ist es somit eine Frage von nachrangiger Bedeutung, ob dessen Zielsetzungen von den Akteuren von Anfang an und mit allen Konsequenzen durchschaut worden sind. Nach Lüdicke rangierten in Neuraths Denken, der bezeichnender Weise schon zu Weimarer Zeiten „immer am 18. Januar, dem Gründungstag des Bismarck-Reiches, große Empfänge gab, um am 11. August, dem Verfassungstag der Republik, mit demonstrativer Urlaubsabwesenheit zu glänzen“ (S. 585), „egoistische Interessensdurchsetzung […] vor kollektivem Interessensausgleich; militärische Dominanz vor diplomatischer Vermittlung; Macht vor Moral“ (S. 71) - machiavellistische Positionen, die jedenfalls in gleicher Weise den rassistischen Ideologen des Vernichtungskrieges eigneten und die vorsätzliche millionenfache Auslöschung von Menschenleben inkludierten.

 

Kapfenberg                                                                           Werner Augustinovic