Leppin, Volker, Geschichte des mittelalterlichen Christentums (= Neue theologische Grundrisse). Mohr (Siebeck) 2012. XV, 459 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.

 

Wenn sich ein evangelischer Theologe mit der Geschichte von Kirche und Christentum im Mittelalter beschäftigt, liegt der erste Satz eines solchen Werkes geradezu auf der Hand: „Das Mittelalter spielt im evangelischen kulturellen Gedächtnis bestenfalls eine untergeordnete Rolle.“ (V) Wer so beginnt, deutet auf eine Lücke im protestantischen Erkenntnisinteresse, ging es doch in den Augen der Vielen eher darum, eine beliebig lang anzusetzende Vorgeschichte der Reformation im Mittelalter zu finden, als dem alten Ranke Tribut zu zollen, der bekanntlich jede Epoche für unmittelbar zu Gott hielt und damit auch dem Mittelalter einen Eigenwert zugesprochen hatte, dem viele protestantische Kirchenhistoriker ihm nicht lassen mochten. Darüber ist hinweg, wer einen solch klugen und abwägenden Überblick über tausend Jahre mittelalterlichen Christentums in Vorlesungen geboten und nun zum Buch hat werden lassen, wie das für Volker Leppin gilt. Von der „Genese der christlichen Gesellschaft des lateinischen Mittelalters (ca. 500-750)“ (15-105) über die „Verfestigung christlicher Lebensformen zwischen Diesseits und Jenseits (ca. 750-1050)“ (107-205) und die „Christliche Einheit und ihre Strittigkeit (ca. 1050-1215)“ (207-313) behandeln drei annähernd gleich lange Kapitel das Früh- und Hochmittelalter. Dagegen fallen die beiden Teile zum späten Mittelalter deutlich kürzer aus: „Reale Kirche und ideale Kirche (ca. 1200-1325)“ (315-373) und „Polaritäten im späten Mittelalter (ca. 1300-1500)“ (375-440). Von explizit kirchenrechtlichen Fragestellungen ist in den Kapitelüberschriften nicht die Rede, denn hier schreibt eben nicht Ulrich Stutz oder sein Schwiegersohn Hans Erich Feine. Dennoch ist kaum eines der bedeutenden Themen der mittelalterlichen Geschichte des Christentums ohne juristische Aspekte. Das leuchtet bei der Behandlung des sogenannten Investiturstreits sofort ein, dessen Ende im Wormser Konkordat 1122 nichts anderes darstellte als den Versuch, einen der wohl tiefsten Gräben zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt in der Geschichte des Christentums mit juristischen Mitteln zu überbrücken (dazu 207-233). Es ist aber auch im Falle der Institutionen, Formen und Inhalte der Wissensvermittlung, deren Behandlung den Band durchzieht, nicht anders denkbar, als dass auch hier Juristisches thematisiert wird. Dennoch ist der Band nicht einmal im Ansatz eine Geschichte kirchenrechtlicher Entwicklungen und Konzepte. Wer solches sucht, wird notwendig enttäuscht werden, denn das zu liefern ist gerade nicht die Absicht des Autors. Die eigentliche Stärke dieses Buches eines Theologen liegt darin, dort Schwerpunkte zu setzen, wo die Kompetenz der Profanhistoriker und der Rechtshistoriker aufhört: bei der Dogmengeschichte oder den philosophisch-theologischen Lehrmeinungen an den Universitäten seit dem 13. Jahrhundert, bei der Frage nach einer vermeintlich „deutschen Mystik“ oder den unterschiedlichen Ausprägungen der Heiligenverehrung im Laufe des Mittelalters. Immer dort gewinnt der Band ein eigenes Profil und hebt sich von der Vielzahl kirchengeschichtlicher Überblickswerke der vergangenen beiden Jahrzehnte deutlich ab. Aber auch im eigentlich kirchengeschichtlichen Themenfeld gelingen Bewertungen, die den Ertrag der Forschung aus den vergangenen Jahren pointiert zusammenfassen, etwa bei der Einordnung der inhaltlichen Bestrebungen des avignonesischen Papsttums. Überhaupt ist der Band nahe an der Forschung: Ob es die Kontroverse um Canossa (225) betrifft, die Bezeichnung der Beginen als „Semireligiose“ (336), die Interpretationen des Werks von Meister Eckhart (341f.), überall macht der Autor auf laufende Kontroversen aufmerksam und lässt die Kenntnis dieser Kontroversen für den Leser nützlich erscheinen. Kurzum: ein gelungener, lesenswerter und kluger Überblick, dessen vielleicht eindrucksvollster Teil wenigstens noch abschließend genannt sei. Leppin beginnt den Band mit Erwägungen über „Evangelische Zugänge zum Mittelalter“ (1-10), die zum Besten gehören, was zu diesem Thema seit langem zu lesen war. Schon deswegen lohnt sich die Lektüre.

 

Osnabrück                                                     Thomas Vogtherr