Landau, Peter,
Europäische Rechtsgeschichte und kanonisches Recht im Mittelalter. Ausgewählte
Aufsätze aus den Jahren 1967 bis 2006, mit Addenda des Autors und Register
versehen. Bachmann, Badenweiler 2013. 944 S., 1 Abb. Besprochen von Steffen
Schlinker.
Die hier vorzustellende
Aufsatzsammlung umfasst 40 Studien aus der Feder des Münchner Großmeisters der
Kanonistik, Peter Landau. Die in jeder Hinsicht gewichtige Kompilation
vereinigt Arbeiten Landaus zum kanonischen Recht im Mittelalter und zur
europäischen Rechtsgeschichte, die in den 40 Jahren zwischen 1967 und 2006 in
Zeitschriften, Festschriften und Sammelwerken veröffentlicht und hier durch
hilfreiche Addenda mit Hinweisen zur neueren Forschungsliteratur ergänzt
wurden. Landaus Entdeckerfreude und sein Herzensanliegen, die grundlegende
Bedeutung des kanonischen Rechts für die Ausbildung der europäischen
Rechtskultur ins Bewusstsein von Juristen, Historikern und Theologen zu heben,
spricht aus jedem Beitrag und könnte gar nicht besser als durch diese Sammlung
gefördert werden. Landau gelingt es, das kanonische Recht nicht nur als Arche
antiker Kultur zu schildern, sondern die innovative, schöpferische Kraft des
Kirchenrechts, die sich seit dem 11. Jahrhundert entfaltet, detailliert und
anschaulich herauszuarbeiten. So wird die Prägekraft sichtbar, die das
kanonische Recht nicht nur für die modernen Rechtsordnungen in Europa, sondern
in Gestalt seiner Prinzipien und Grundgedanken mittlerweile weltweit entfaltet
hat.
Die 40 Aufsätze sind zu sechs
Themenkreisen geordnet: Grundlagen des mittelalterlichen kanonischen Rechts,
Prinzipien des kanonischen Rechts, Amts- und Verfassungsrecht, kanonisches
Prozessrecht, kanonisches Eherecht und schließlich kanonisches Recht und
Privatrecht. Die Überfülle kluger Gedanken und scharfsinniger Erörterungen kann
hier nicht in ihrer ganzen Breite und Tiefe vorgestellt werden. Nur auf einige
Themen soll hingewiesen werden, um zu illustrieren, in welchem Maße Landaus
Forschungen das heutige Bild des mittelalterlichen Kirchenrechts entscheidend
geprägt haben.
Der Titel des Aufsatzes
„Sakramentalität und Jurisdiktion“ verweist einleitend auf die zwei Aspekte,
die als grundlegende Charakteristika der Kirche und des Kirchenrechts
herausgearbeitet werden. Der Beitrag „Rechtsfortbildung im Dekretalenrecht,
Typen und Funktionen der Dekretalen des 12. Jahrhunderts“ illustriert sodann,
wie die zu konkreten Einzelfällen ergangenen päpstlichen Entscheidungen im
Prozess ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung als allgemein gültige Rechtsnormen
begriffen wurden. Die Studie zu „Reflexionen über Grundrechte der Person in der
Geschichte des kanonischen Rechts“ zeigt ausgehend von der Taufe, in der die
persönliche Zuwendung Gottes zum einzelnen Menschen sichtbar wird, die
Ausrichtung des kanonischen Rechts auf das Seelenheil des einzelnen Menschen.
Darin lag keine Zuweisung eines Grundrechts im Sinne eines Abwehrrechts, etwa
gegen den Staat oder die Kirche, doch wurde der Mensch von den Kanonisten als
Begünstigter besonderer göttlicher Anteilnahme verstanden. Auf dieser Basis
muss das Recht mithin auf eine Wertordnung ausgerichtet und von ihr geprägt
sein. Dem Rechtsdenken widmet sich auch die Untersuchung „Der biblische
Sündenfall und die Legitimität des Rechts“, welche die besondere Rolle des
Christentums für die Konzeption des Rechts unterstreicht. Insbesondere durch
die Lehren Augustinus‘ wird das weltliche Recht als „Notordnung“ (S. 186) mit
friedensstiftender Funktion von der Kirche akzeptiert, die damit sowohl
utopischen als auch manichäischen Vorstellungen eine Absage erteilt. In der
Studie „Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur“
benennt Landau sodann vor allem das Prinzip der Rechtssicherheit, welches das kanonische
Recht als autonome positive Rechtsordnung seit dem hohen Mittelalter in
besonderem Maße kennzeichnet. Er hebt hervor, dass das Kirchenrecht ein
rationales Recht ist, das von rechtsgelehrten Richtern angewandt wurde, dessen
Gerichte einen Instanzenzug aufwiesen und den Parteien das Appellationsrecht
gewährten, das die rechtliche Bindung des administrativen Handelns verlangte
und die Klagbarkeit formloser Verträge anerkannte. Für das Strafverfahren und
die Strafrechtsdogmatik hat das kanonische Recht wesentliche Bausteine zur
Verfügung gestellt. Ergänzend unterstreicht der Beitrag über „Die Bedeutung des
kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien“ das
kanonische Recht als Basis für grundlegende Prinzipien westlicher Rechtskultur,
einschließlich der angelsächsischen. Zudem erinnert Landau daran, dass neben
dem kanonischen Recht als ius publicum
im Sinne einer objektiven Ordnung auch der Begriff des ius privatum bekannt war, das allerdings nicht als Anspruch, sondern
vielmehr als subjektives Recht verstanden wurde, auf das der Inhaber verzichten
konnte („Die Anfänge der Unterscheidung von ius publicum und ius privatum in
der Geschichte des kanonischen Rechts“). Die Prägung von juristischen
Schlüsselbegriffen durch das kanonische Recht zeichnen schließlich auch die
Analysen „Die Ursprünge des Amtsbegriffs im klassischen kanonischen Recht“ und
„Der Begriff ordo in der mittelalterlichen Kanonistik“ nach.
Auf zwei wesentliche, in die Zukunft
weisende Grundgedanken des kanonischen Rechts weist der Aufsatz „Die kirchliche
Justizgewährung im Zeitalter der Reform in den Rechtssammlungen“ hin: Erstens
wird hier die Rechtssetzungsbefugnis des Papstes genannt; zweitens der
tiefgreifende und umfassende Ausbau der kirchlichen Organisation, um zu
ermöglichen, dass Bedrängte und Unterdrückte überhaupt an den päpstlichen
Richterstuhl appellieren konnten. Den kanonistischen Ursprung eines Grundsatzes
von Verfassungsrang verfolgt der Beitrag „Ursprünge und Entwicklung des Verbotes
doppelter Strafverfolgung wegen desselben Verbrechens in der Geschichte des
kanonischen Rechts“.
Für das Privatrecht ist die
Überwindung des Typenzwangs durch die rechtliche Anerkennung und Klagbarkeit
formloser Vereinbarung in den Lehren von Huguccio und Bernhard von Pavia eine
wichtige Entwicklung („Kanonisches Recht und Privatrecht: pacta sunt servanda.
Zu den kanonistischen Grundlagen der Privatautonomie“). Und schließlich zeigt
der Beitrag „Zum Ursprung des ,ius ad rem‘ in der Kanonistik“, dass einem
Kleriker das ius ad rem hinsichtlich
eines beneficiums im Zeitraum
zwischen seiner Präsentation durch einen Patron und seiner Einsetzung in das
Amt zustand. Hier haben die Kanonisten also über ein Anwartschaftsrecht
nachgedacht.
Die hier vorgestellte Sammlung
enthält Meilensteine der Forschung und gewährt einen tiefen Einblick in die
weltgeschichtliche Bedeutung des kanonischen Rechts, die jeder kulturhistorisch
Interessierte nur mit großem Gewinn in die Hand nehmen wird. Dass auch die
neueren, seit 2007 publizierten Arbeiten von Peter Landau in einem Sammelband
vereinigt werden, bleibt daher sehr zu hoffen!
Würzburg Steffen
Schlinker