Kott,
Sandrine, Sozialstaat und Gesellschaft. Das deutsche
Kaiserreich in Europa, aus dem Französischen v. Streng, Marcel (= Kritische
Studien zur Geschichtswissenschaft 214). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
2014. 264 S., Abb., Tab. Besprochen von Gerhard Köbler.
Von ihren Anfängen an lebten die Menschen in Gesellschaften, in denen Stärke und Gewalt eine bedeutsame Rolle spielten, in denen aber auch Teilhabe und Fürsorge einen im Einzelnen nicht genau bekannten Platz eingenommen haben dürften. Urbanisierung, Monetarisierung, Kapitalisierung und Industrialisierung haben anscheinend Teilhabe und Fürsorge eingeschränkt und zumindest die finanzielle Stärke Einzelner vermehrt. Weil Otto von Bismarck für das von ihm geformte, dem Volk durch seit 1848 nicht mehr zu verhindernde Wahlen Teilhabe an politischer Gestaltung ermöglichende Deutsche Reich darin eine politische Gefahr seitens der neu entstehenden sozialen oder sozialistischen Parteien erkannte, setzte er sich für die Sozialversicherung ein, die jeden einzelnen Arbeitnehmer gegenüber den Gefahren von Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter auf einfache Kosten aller (künftigen) Arbeitnehmer sichern konnte.
Mit den damit zusammenhängenden Fragen befasst sich das vorliegende Werk der 1960 geborenen, in Genf für Sozialgeschichte und moderne europäische Geschichte tätigen Verfasserin als Vollendung einer Reise durch die Sozialpolitik, an deren Anfang nach ihrer eigenen Einleitung eine (ungedruckte) sozialgeschichtliche Pariser Dissertation (Des philanthropies aux politiques sociales – Solutions françaises et allemandes à la question sociale en Haute-Alsace 1850-1914) des Jahres 1991 über das Oberelsass zwischen 1830 und 1914 stand. Da sich das Elsass dabei weniger als Vergleichslabor und mehr als Ort der Dezentrierung und des Übergangs erwies, stieß die Verfasserin an der Peripherie des neu entstandenen Deutschen Reiches auf den deutschen Sozialstaat. Mit ihm befasst sich die der Erinnerung an die Großeltern Sarah Beinowitz und Joseph Kott und ihre lange Irrfahrt durch Europa gewidmete Arbeit in insgesamt sieben Kapiteln über die ersten Sozialgesetze des Deutschen Reiches, die zwiespältige Modernisierung in der Wende der 1890er Jahre, den Weg von der Sozialgesetzgebung zum Sozialrecht, den Aufbau und die Entfaltung einer sozialen Demokratie, die Frauen (am Rande der Sozialpolitik), Sozialpolitik und Nationalstaatsbildung sowie Sozialpolitik und Lebenshygiene.
Im Ergebnis stellt die Verfasserin auf Grund ihrer intensiven Überlegungen fest, dass trotz der chaotischen und oft tragischen Geschichte Deutschlands im zwanzigsten Jahrhundert die im ausgehenden 19. Jahrhundert errichteten institutionellen Grundpfeiler und Organisationsmodelle des Sozialstaats bis zur Gegenwart überdauert haben. Weder während der nationalsozialistischen Herrschaft Adolf Hitlers noch in der Deutschen Demokratischen Republik konnten die aus der deutschen Arbeiterbewegung, der Sozialmedizin und der Sozialhygienebewegung hervorgegangenen Traditionsbestände wirklich beseitigt werden. Erst in der Gegenwart wird die weitere Rolle Deutschlands als eines Vorkämpfers von Sozialpolitik und Sozialstaatlichkeit im Rahmen einer europäischen Entwicklung mit Hinweis auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der Globalisierung gefährdet.
Innsbruck Gerhard Köbler