Kanwischer, Simon, Der Grenzbereich zwischen öffentlichem Strafanspruch und intimer Lebensgestaltung. Verschiebungen in der historischen Entwicklung – aufgezeigt am Beispiel der Strafbarkeit des Inzests (§ 173 StGB) (= Beiträge zu Grundfragen des Rechts 12). V&R unipress, Göttingen 2013. 194 S., zugleich Diss. jur. Hannover. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Welcher Maßstab ist geeignet, den Strafanspruch des Staates gegenüber seinen Bürgern zu legitimieren und ebenso klar zu begrenzen? Wie weit sind Kategorien von Sitte und Moral tauglich, strafrechtliche Normen zu rechtfertigen? Die Beantwortung dieser rechtsphilosophischen Fragen berührt unmittelbar geltendes Recht und führt immer wieder zu Grundsatzdiskussionen zwischen Traditionalisten und Dogmatikern. Als besonders schwierig erweist sich die Grenzziehung zwischen dem öffentlichen Strafanspruch und intimer Lebensgestaltung auf dem Feld der sogenannten opferlosen Straftaten, zu denen unter anderem der Inzest nach § 173 des Strafgesetzbuchs (StGB) zählt, die Strafbewehrung des einvernehmlichen Beischlafs zwischen biologisch nah verwandten Erwachsenen.

 

Der Zufallsfund eines alten Strafgesetzbuchs (Stand 1956) mit noch zahlreichen, auf die Begriffe von Moral und Sittlichkeit abzielenden Tatbeständen und der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) aus dem Jahre 2008 zur Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots haben den Verfasser, Simon Kanwischer, motiviert, in seiner von Henning Radtke in Hannover betreuten Dissertation am Beispiel der Strafbarkeit des Inzests zu untersuchen, „wie das Verhältnis von staatlicher Strafe und Privatheit in der Vergangenheit gestaltet war, wie es sich entwickelt hat, wodurch diese Entwicklung beeinflusst wurde und warum dieses Verhältnis auch heute noch unklar und dem akademischen (und gesellschaftlichen) Streit ausgesetzt ist“ (S. 9). Von Interesse sei dabei „weniger die bloße historische Entwicklung als vielmehr die Auseinandersetzung mit dem Inzesttatbestand im Rahmen der Gesetzgebungsprozesse in Verbindung mit einer Analyse der hier erkennbar werdenden Diskurse selbst“, der Startpunkt liege dort, „wo der Prozess der Verwissenschaftlichung des Rechts auf der Ebene der Strafgesetzgebung gerade beginnt, wobei der Epoche der Aufklärung besondere Beachtung zuteil und dem Zeitalter der Kodifikationen als der Phase der Realisierung theoretischer Modelle ein Schwerpunkt der Analyse gewidmet“ werde (S. 14). Wo für das Thema von Relevanz, berühre die Arbeit auch andere (ehemalige) Sittlichkeitsdelikte, wie Sodomie, Homosexualität, Ehebruch und Kuppelei, richte den Blick vergleichend auf die französische Rechtslage und ziehe auch Literatur anderer wissenschaftlicher Disziplinen zum Inzesttabu bei.

 

Die Sympathie des Verfassers liegt eindeutig auf Seiten der Verfolgung einer klaren rechtsdogmatischen Linie, wie sie auch vom unlängst verstorbenen Winfried Hassemer immer wieder eingefordert worden ist und deren Ideengeschichte vor allem auf die Staatsphilosophie eines Thomas Hobbes und die Strafrechtsdogmatik eines Paul Johann Anselm von Feuerbach rekurriert. Die dort vorgedachte und geforderte Beschränkung des Gesetzgebers auf das unbedingt Notwendige mit einer scharfen Trennung von Recht und Moral hat im Sittlichkeitsstrafrecht vor allem in die fortschrittlichen Kodifikationen des französischen (revolutionären und napoleonischen) Code Pénal (1791, 1810) und die liberalen sogenannten „Revolutionsentwürfe“ (1848/1849), aber auch – wenn auch „durch den dialektischen Widerspruch zwischen aufgeklärter Zurückhaltung des Staates einerseits bei gleichzeitigem prophylaktischem Aktionismus andererseits“ (S. 46) weniger konsequent - in das frühe preußische Allgemeine Landrecht von 1794 Eingang gefunden, während dessen Revision und das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 unter dem restaurativen Einfluss konservativ-christlicher Eliten in einer Gegenbewegung zu einer Hochkonjunktur der Strafbarkeit von Sittlichkeitsverbrechen führen sollten. Im gemäß den praktischen Forderungen der Rechtsanwender durch mildere Strafen gekennzeichneten Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1871 erhielt der § 173 dann „eine Form, die bis zur Straflosstellung des Beischlafs in Schwiegerverhältnissen im Jahr 1953 bestehen bleiben sollte“ (S. 96f.).

 

Besonderes Augenmerk verdient nach Simon Kanwischer die Zeit zwischen 1871 und 1933, „zum einen deswegen, weil hier mit dem Rechtsgutsbegriff nicht nur eine der wesentlichen dogmatischen Figuren der Strafrechtswissenschaft entwickelt und für die Begrenzung staatlichen Strafanspruchs fruchtbar gemacht worden ist, zum anderen aber auch deswegen, weil eine breite Bewegung für Strafrechtsreform entstand, sich zu organisieren begann, kritische Zeitschriften gegründet wurden und eine Vielzahl wissenschaftlich gehaltvoller Beiträge veröffentlicht wurde“ (S. 15f.), unter denen der Verfasser jene Carl Bindings, Franz von Liszts, Wolfgang Mittermaiers und Kurt Hillers (dessen Dissertation unter dem Titel „Das Recht über sich selbst“ aus dem Jahr 1908 sei „die interessanteste Schrift der Zeit, die sich mit dem Verhältnis von Staat und Privatheit, von Recht und Sitte befasst“, S. 109) näher beleuchtet. Dessen ungeachtet stand „am Ende einer langen und intensiven Debatte ein Ergebnis, das keiner der wissenschaftlichen Protagonisten je gefordert hatte und das dazu führte, dass nach dem Entwurf des Jahres 1919 der Beischlaf zwischen Verwandten so streng bestraft werden sollte wie zuletzt in einigen Partikularrechten des 18. Jahrhunderts“ (S. 116). In der Ära des Nationalsozialismus, die der Verfasser, auf das Erfordernis einer separaten Studie verweisend, nur kursorisch streift, wurde „die Vorschrift des § 173 RStGB nicht wesentlich verändert“, Versuche der Staatsanwaltschaft, „auch andere unzüchtige Handlungen als den Beischlaf unter § 173 zu fassen“ (S. 129), schlugen trotz der Aufhebung des Analogieverbotes bemerkenswerter Weise fehl. Nach 1945 offenbarten die Beratungen der 1954 vom Justizministerium eingesetzten Großen Strafrechtskommission „in zahlreichen Beiträgen die für den Umgang mit dem Sittlichkeitsstrafrecht insgesamt charakteristische ‚Undogmatik‘“ (S. 131). Die daraus hervorgehenden Entwürfe von 1960 und 1962 wurden vom Alternativentwurf deutscher Hochschullehrer von 1968 übertroffen, der „wohl kräftigste(n) und nachhaltigste(n) Liberalisierungsforderung für das Sexualstrafrecht nach der Reformzeit der Weimarer Jahre“ im Lichte eines „eindeutige(n) Bekenntniss(es) zum Rechtsgutbegriff“ (S. 143). Obwohl mit dem Inkrafttreten der vier Strafrechtsreformgesetze (1969 bis 1973) unter anderem durch Straffreistellung des Ehebruchs und homosexueller Handlungen zwischen erwachsenen Männern „das Sexualstrafrecht in wesentlichen Punkten liberalisiert“ (S. 147) wurde, blieb die Inzeststrafbarkeit, zuletzt 1977 im Wortlaut leicht modifiziert, dennoch weiter erhalten.

 

Ob zu Recht, hatten anlässlich des Geschwisterinzest-Falles Stübing zunächst das Bundesverfassungsgericht (2008) und in der Folge der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (2012) zu prüfen, deren Entschließungen zufolge § 173 II StGB weder gegen das im Grundgesetz garantierte Persönlichkeitsrecht auf freie sexuelle Selbstbestimmung verstoße, noch das durch die Europäische Menschenrechtskonvention festgeschriebene Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletze. Auf der Grundlage der Rechtsgutslehre argumentierend, deren Schwächen er nicht verschweigt, legt der Verfasser die dogmatischen Mängel dieser Entscheidungen dar und kommt zum Schluss, dass es dem Bundesverfassungsgericht „weder gelungen (ist), die Rechtsgutsdebatte zu bereichern, noch wurde von der Senatsmehrheit [abweichend davon nur das Votum Winfried Hassemers] die Verfassungswidrigkeit des § 173 II StGB erkannt“ (S. 173). Auch von Straßburg, das „die Möglichkeit, Moralvorstellungen mit Mitteln des Strafrechts zu schützen, vorbehaltlos an(erkennt)“, gingen „keine Impulse aus, die den Gesetzgeber dazu bewegen könnten, aktiv zu werden“ (S. 181). Diese Notwendigkeit sieht jedenfalls Kanwischer, der in der sexuellen Selbstbestimmung das einzige bei § 173 StGB in Betracht kommende Schutzgut erkennt und auf dieser Basis entweder unter Weglassung des Tatbestandsmerkmals der Blutsverwandtschaft eine „auf den familiären Zusammenhang“ abstellende und „als Tathandlung jede Art sexuellen Verkehrs“ einschließende Neufassung der Norm (S. 179) oder aber – sollte dieses Schutzgut nicht als maßgeblich erachtet werden – deren vollständige Streichung anregt.

 

Die vorliegende Arbeit ist nicht frei von - nicht nur orthographischen - Nachlässigkeiten; so wird etwa auf S. 34 „die peinliche Halsgerichtsordnung Karls des IV von 1532“ (statt: Karls V.) erwähnt, auf S. 143 wird „durch die Pönalisierung homosexueller Verhaltensweisen kein Rechtsgut verletzt“ (statt: geschützt). Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wird einmal auf den 26. Februar (S. 9), an anderer Stelle (S. 153) aber auf den 23. 2. 2008 datiert. Auf S. 154 ist die Rede davon, dass, was die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in der Causa Stübing angehe, „ein Urteil zur Zeit der Erstellung dieser Arbeit noch nicht vor(lag)“, aber auf S. 180f. wird eben dieses Urteil dann doch dargestellt und kommentiert. Mit seiner Dissertation leistet der Verfasser dennoch einen gelungenen Beitrag sowohl zu der von unterschiedlichen politischen Konstellationen einschneidend geprägten Geschichte der Sittlichkeitsdelikte in der deutschen Strafrechtsordnung als auch zur Frage ihrer rechtsdogmatischen Verortung. Dabei wird klar, dass der legitimierende Rückgriff auf unbestimmte Kategorien, wie die „nach wie vor wirkkräftige gesellschaftliche Überzeugung von der Strafwürdigkeit“ oder eine behauptete „kulturhistorische Verankerung“ (S. 170f.), auch heute noch der konzeptionellen Klarheit im Weg steht. Ein Ansatz, der daraus resultierenden Rechtsunsicherheit wirksam entgegenzutreten, bestünde in der weiteren präzisierenden Ausgestaltung des Rechtsgutsbegriffs in Verbindung mit einer verstärkten Sensibilisierung des öffentlichen Bewusstseins im Bezug auf die Fragwürdigkeit des Einflusses disponibler Moralvorstellungen auf das strafrechtliche Normensystem.

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic