Jahns, Sigrid, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Teil I Darstellung (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 26/1). Böhlau, Köln Weimar Wien 2011, XXI, 783 S., zahlreiche Karten, Tab. u. Abb.; Teil II Biographien (= Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 26/II 1; II 2). Böhlau, Köln Weimar Wien 2003. LXII, 1466 S. mit CD-ROM. Besprochen von Bernd Schildt.

 

Mit ihrem „ungewollten“ Lebenswerk hat Sigrid Jahns ein opus magnum von über 2.300 Seiten vorgelegt. Es behandelt die Verfassung des Kameralkollegiums ebenso wie den Modus seiner Besetzung und dessen Sozialprofil. Im Verbund mit den in ihrer Konzeption und inhaltlichen Tiefe beispiellosen und kaum zu wiederholenden Biographien für die dem Gericht angehörenden Richter gewinnt dieses Handbuch bleibenden Wert für die Verfassungs- und Sozialgeschichte des Alten Reiches im allgemeinen ebenso wie für die Geschichte des Reichskammergerichts im besonderen. Die mit den Lebensbedingungen der Autorin zusammenhängende lange Bearbeitungszeit – vom Beginn der Beschäftigung mit dem Thema 1975 bis zur Vollendung im Jahre 2011 war es zweifellos ein langer Weg – hat durchaus ambivalente Auswirkungen. Einerseits hätte man sich die nunmehr vorliegenden Ergebnisse schon viel früher gewünscht, andererseits gewinnt gerade der darstellende Teil durch die stetige Auseinandersetzung mit den auf unterschiedlichen Ansätzen basierenden Forschungen zum Alten Reich; die vielen Jahre des Wartens haben so gesehen in hohem Maße befruchtend gewirkt; zumal – anders als bei manchen „Spätveröffentlichungen“ von Graduierungsarbeiten – das Buch von Sigrid Jahns auf dem aktuellen Stand der Forschung steht.

 

Das nunmehr vorliegende Gesamtwerk besteht aus zwei Teilen – der später erschienenen (2011) übergreifenden Darstellung und dem bereits 2003 publizierten 2. Teil mit den einzelnen Juristen-Biographien. Nach einer an das Thema heranführenden überaus instruktiven Einführung wendet die Verfasserin sich in einem ersten Hauptabschnitt der Funktion und Besetzung des Reichskammergerichts zu. Unter der Überschrift Funktion und Besetzung des Kammergerichts wird dies als eine zentrale Institution des Reiches bestimmt, die entsprechend dem institutionalisierten Dualismus von Kaiser und Reich im Zuge der Reichsreform auf komplexe Weise sowohl an den Kaiser als auch an die Reichsstände gebunden war. Im folgenden Abschnitt zum Personal des Reichskammergerichts werden die Kameralämter überblicksartig vorgestellt, wobei zunächst Kammerrichter bzw. Präsidenten in ihrer Funktion, in ihrem Ernennungsmodus sowie in ihrem sozialen Profil behandelt werden. Anschließend wendet die Verfasserin sich den Assessoren zu. Ausführlich und detailgetreu wird das Präsentationssystem in seiner Abhängigkeit von reichs- und konfessionspolitischen Veränderungen beschrieben. Sichtbar wird die ständische Gebundenheit dieses Systems schon rein äußerlich durch die Präsentationsberechtigten – Kaiser, Kurfürsten und Reichskreise. Gezeigt wird ferner wie sich das Präsentationsschema den veränderten verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des Reiches im konfessionellen Zeitalter angepasst hatte. Damit ist der Boden bereitet für den Kern des Forschungsinteresses von Sigrid Jahns, nämlich das Erstellen eines Gruppenprofils des richterlichen Personals in all seinen geographischen, sozialen, familiären und klientelen Beziehungen. Im einzelnen wird gefragt nach der geographischen Herkunft, dem Ausbildungsprofil sowie der Mobilität der Assessoren. Schließlich wendet sich die Verfasserin der im Verlauf des 18. Jahrhunderts unter zunehmenden Anpassungsdruck geratenen Personalverfassung des Gerichts zu.

 

Die bereits in zwei Teilbänden seit 2003 vorliegenden Einzelbiographien begründen eine neue Gattung prosopographischer Darstellungsform. Basierend auf einer ungeheueren Quellenvielfalt werden in einer wahrhaften Sisyphusarbeit insgesamt 128 Assessoren und sonstige Präsentaten nach einem einheitlichen von Jahns einleitend ausführlich erläuterten Schema erfasst. Die Biographien der höchsten Richter des Alten Reiches werden umfassend in ihrem familiären und sozialen Umfeld und mit Blick auf ihre Ausbildung sowie deren Vorkarrieren und Nachkarrieren vorgestellt. Es finden sich neben dem Namen mit eventuellen Schreibvarianten noch Vornamen, ggf. Adelstitel, juristische Titel verbunden mit der tatsächlichen Position (Assessor oder Präsentatus). Angegeben werden ferner Amtzeit, Lebenszeiten, Angaben zur Familie, Ausbildung, Karriere vor und nach der Präsentation sowie gegebenenfalls Bewerbungen auf andere hohe Posten im Reich. Das vorgegebene Raster vermag in hohem Maße eine Vergleichbarkeit herzustellen. Diese ausführliche und weithin gleichen Kriterien folgende Darstellungsform prädestiniert das Werk für eine handbuchartige Nutzung, das durch die beigegebene CD-ROM noch leichter handhabbar wird. Auf einen Index mit Orts- oder Personen- oder Sachregister konnte deshalb verzichtet werden.

 

Abgesehen von den Unterschichten und dem reichsständischen Adel rekrutierte sich die juristische Funktionselite des Reiches aus nahezu allen sozialen Schichten der ständischen Gesellschaft in der frühen Neuzeit. Das Spektrum reichte vom reichsritterschaftlichen und landsässigen Adel sowie dem Briefadel des 18. Jahrhunderts über bürgerliche Universitätsgelehrte, evangelische Pfarrhäuser, städtische Patrizier, wohlhabende Kaufleute bis hin zu Bierbrauern, Sattlern und Maurern, selbst wohlhabende bäuerliche Kreise sind vertreten.

 

Auf’s Ganze gesehen hat Sigrid Jahns ein monumentales Standardwerk zum richterlichen Personal des Reichskammergerichts vorgelegt, das in seiner Detailtreue und Darstellungstiefe insbesondere für den engeren Untersuchungsraum von 1740 bis 1806 seinesgleichen sucht. Ob Vergleichbares für die Zeit von 1495-1740 für das Reichskammergericht oder aber das andere große Reichsgericht – den Reichshofrat –, das Wismarer Tribunal bzw. die Obertribunale der Kurfürstentümer jemals geschrieben werden kann, scheint angesichts der Maßstäbe setzenden Arbeit von Sigrid Jahns eher zweifelhaft.

 

Jatznick                                                                                                                          Bernd Schildt