Im „Wartesaal der Geschichte“. Der 17. Juni als Wegmarke der Freiheit und Einheit, hg. v. Mayer, Tilman. Nomos Baden-Baden 2014. 184 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Nach Friedrich Carl von Savigny hat jedes Volk seine eigenen Lieder und Märchen sowie dementsprechend seine eigene Geschichte mit besonderen Gedenktagen. Von daher kann man sich fragen, was den 17. Juni der Deutschen von dem 14. Juli der Franzosen oder dem 4. Juli der Amerikaner unterscheidet. Hierauf sucht der vorliegende, zwar schmale, aber gleichwohl sehr spannende Sammelband eine Antwort.

 

Ihm ging eine Tagung voraus, die in Königswinter etwas unpräzise um den Nationalfeiertag herum im Oktober 2013 im 1948 von Jakob Kaiser für gesamtdeutsche Zwecke gegründeten, aber am Ende des Jahres 2013 notwendigerweise aufgegebenen Adam-Stegerwaldhaus der Jakob-Kaiser-Stiftung stattfand und von der Bundeszentrale für politische Bildung, der Gesellschaft für Deutschlandforschung, der Jakob-Kaiser-Stiftung, der Karl-Arnold-Stiftung, der Kulturstiftung der Vertriebenen und der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen gefördert wurde. Die dortigen neun Referate werden nunmehr der Allgemeinheit leicht zugänglich gemacht. Auch wenn sie nicht durch ein Sachregister aufgeschlossen werden, bieten sie deutsche Zeitgeschichte aus vielfach erster Hand.

 

Dabei schildert etwa Jens Schöne Ursachen, Verläufe und Folgen des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 sehr detailliert, während Rolf Steininger und Gerhard Wetting Bedeutung und Verhalten des Westens und der Sowjetunion erörtern. Rudolf Seiters legt dar, dass am Ende des Monats April der Chef des Kanzleramts der Bundesrepublik Deutschland trotz aller Nachrichtendienste ebensowenig wie jeder andere wusste oder ahnte, dass die friedliche Revolution in Europa anderthalb  Jahre später zur deutschen Einheit führen würde, dass sein Gespräch mit Erich Honecker am 4. Juli 1989 keinen Hinweis auf die tiefen Erschütterungen in der Deutschen Demokratischen Republik gab und dass trotz der Öffnung der Grenzen Ungarns nach Österreich am 10. September 1989 nach einem Geheimgespräch der Regierung Ungarns mit Bundeskanzler Helmut Kohl auf Schloss Gymnich bei Bonn erst zwischen dem 30. September und dem 19. Dezember 1989 die Hoffnung auf eine deutsche Einigung aufkam. Weitere instruktive Beiträge behandeln Idee und Praxis in der „Zone“, das Scheitern der Aufstände in Ost-Berlin und Budapest, die Totalitarismustheorie, den Wartesaal der Geschichte und aus geschichtsjournalistischer Sicht eine Bilanz nach 60 Jahren, so dass am Ende gut verständlich ist, warum der für die Deutschen wichtige 17. Juni 1953 international doch etwas geringere Bedeutung hat als die Gedenktage anderer Völker und Staaten.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler