Hürtgen, Renate, Ausreise per Antrag - Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz (= Analysen und Dokumente 36). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013. 356 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

In der Frühzeit war der Mensch insofern völlig frei, als er sich im Rahmen der natürlichen Gegebenheiten auf der Erde dorthin begeben konnte, wohin er wollte, was ihm freilich im Lauf der Zeit andere Menschen auch erschweren konnten. Mit der Entstehung der Staaten beanspruchten deren Führer mehr und mehr ein Mitverfügungsrecht vor allem über ihre Staatsangehörigen. In der früheren Deutschen Demokratischen Republik entwickelte sich daraus allmählich trotz grundsätzlicher oder später zumindest noch grundsätzlicher, wenn auch eingeschränkter Garantie der Freizügigkeit praktisch eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit auf das eigene Staatsgebiet.

 

Mit ihr befasst sich unter dem besonderen Einzelaspekt der gleichwohl im Einzelfall möglichen Ausreise auf Antrag das vorliegende Werk. Seine 1947 als Renate Müller in Berlin geborene Verfasserin, wurde ab 1963 am Institut für Lehrerbildung in Berlin-Köpenick zur Unterstufenlehrerin ausgebildet, studierte nach Erlangung der Hochschulreife im zweiten Bildungsweg ab 1970 Kulturwissenschaft und Ästhetik an der Humboldt-Universität in Berlin und wirkte nach der Promotion (mit einer in der Veröffentlichungsliste anscheinend nicht aufgeführten Arbeit) als Referentin für Kultur an der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst bzw. ab 1980 als Mitarbeiterin am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik im Bereich der Philosophiegeschichte. Nach eigener Darstellung war sie in der Opposition, 1989 als Mitbegründerin der Initiative für eine unabhängige Gewerkschaft sowie seit 1990 in verschiedenen sozialen und betrieblichen Bewegungen aktiv und wirkte nach 1990 in Projekten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu Transformationsprozessen sowie von 1997 bis zu ihrem Ruhestand als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam e. V. mit Forschungsschwerpunkten in der Sozialgeschichte der DDR, der Arbeitergeschichte und der Staatssicherheit im Betrieb.

 

Das vorliegende, auch auf eigener Sachkenntnis beruhende Werk gliedert sich nach Danksagung und Einleitung in acht Kapitel über den Kreis Halberstadt mit der am  Ende des zweiten Weltkriegs stark zerstörten Grenzstadt Halberstadt, das Leben mit der Grenze, die Antragstellungen auf Ausreise, deren Gründe, die Zeit von der Antragstellung bis zur Ausreise, den Charakter der „hartnäckigen Antragsteller“, die Herrschaft im Kreis Halberstadt mit der „gesellschaftlichen Front“ zur Zurückdrängung der Antragsteller und das Ende der alten Herrschaft im Jahre 1989. Im Rahmen der nach ihrer Ansicht immer noch als produktiver erwiesenen kollektiven Arbeitsweise an dem nach eigener Einstufung wohl allein geschriebenen Buch kann sie vor allem zeigen, dass unter den Antragstellern häufig auch durchaus angepasste Bewohner der Deutschen Demokratischen Republik waren, die aber von irgendeinem Zeitpunkt an die erzwungenen Grenzen nicht mehr ertragen wollten. Insgesamt kann die Verfasserin ein vielfältiges Bild von den Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Lebens vermitteln, das sich ergibt, wenn Menschen im dominierenden Staat die vorgegebene Freiheit von Mitmenschen in ausgekosteter Machtausübung vor allem zum eigenen Wohl übermäßig einschränken.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler