Herbert, Ulrich, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Beck, München 2014. 1451 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

„Wer nach diesem Jahrhundert für Deutschland bilanziert, das Ausmaß von Glück und Unglück sei zu allen Zeiten gleich, verkennt diese Entwicklung nach 1945 und nach 1990 und auch die Erfahrungen der Menschen, die in diesem Lande lebten und leben. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass am Ende die aus dieser glücklichen Entwicklung erwachsenden Gefahren nicht geringer sind als die überwundenen“ (S. 1252).

 

Mit der Weisheit dessen, der aus einer profunden Kenntnis heraus die Entwicklungen in den Blick nimmt und sie am Maßstab des Menschlichen misst, wohl wissend um die wertende Interpretationsbedürftigkeit des Vergangenen wie um die Offenheit des Künftigen, hat Ulrich Herbert seinem aus zehn Jahren intensiver Beschäftigung mit der Materie hervorgegangenen Werk einen gleichsam programmatischen Abschluss gegeben. Der umtriebige, als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg lehrende Forscher hat mit seiner „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ zweifellos den bisherigen Höhepunkt seines reichen publizistischen Schaffens erreicht. Allzu gerne wird bei größeren Arbeiten das Diktum des opus magnum bemüht, im vorliegenden Fall trifft es jedenfalls uneingeschränkt zu, und dies nicht bloß des beeindruckenden Umfangs wegen.

 

Denn so facettenreich die Geschichte Deutschlands im vergangenen Jahrhundert verlaufen ist, so unübersehbar groß ist auch die Masse an geschichtswissenschaftlicher Literatur, die, stetig anwachsend, zu den durch prägnante Zäsuren markierten Abschnitten jener Geschichte angefallen ist und weiter anfällt. Mehr als 80 Seiten ausgewählter Titel verzeichnet das Literaturverzeichnis des vorliegenden Bandes, eine repräsentative Auswahl, und dennoch wird der Sachkundige manche Studie von Bedeutung vermissen. Dies ist eine unmittelbare Folge der Herausforderung an ein Werk derartiger Breite, dessen Bedarf nach Beschränkung auf das Charakteristische deutlich schwerer zu befriedigen ist als die Hingabe an die Versuchung ausufernden Fabulierens, weshalb das vorhin Gesagte keineswegs als Vorwurf an den Verfasser zu verstehen ist, im Gegenteil.

 

Ulrich Herberts Panorama deutscher Geschichte zwischen rechten und linken Ideologien, die sich real in jeweiligen deutschen Staatswesen manifestieren sollten, unterteilt sich in insgesamt fünf Abschnitte (drei für die Zeit vor 1945, zwei für die Zeit danach), wobei er weitgehend den bekannten, allgemein anerkannten Orientierungsmarken zur Gliederung folgt. Die Erzählung setzt mit der Reichsgründung und der aus ihr hervorgehenden Dynamik mit ihren Möglichkeiten und Unsicherheiten ein, zeichnet die Weltmachtpläne der Ära nach Bismarck sowie das Ende dieser Epoche im Trauma des Ersten Weltkriegs (ca. 150 Seiten). Es folgen die Revolution und das gescheiterte demokratische Experiment der Weimarer Republik (ca. 80 Seiten). Breiteren Raum gibt das Werk sodann dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg (ca. 240 Seiten); dem Thema „Deutschland um 1942: Völkermord und Volksgemeinschaft“ ist darin ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Die zwei Abschnitte zur deutschen Geschichte nach 1945 scheiden sich nicht, wie vermutet werden könnte, am Umbruch von 1989/1990 und der Wiedervereinigung, sondern am Jahr 1973; die Jahre des mit dem Wiederaufbau einhergehenden Wirtschaftswunders und der „Euphorie der Modernität“ (ca. 340 Seiten) werden an dieser Wendemarke abgelöst von den krisenhaften Erscheinungen der der Ölpreiskrise folgenden Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft, den Herausforderungen der Globalisierung und schließlich der Position Deutschlands im internationalen Gefüge des beginnenden 21. Jahrhunderts (ca. 360 Seiten). Dabei bemüht sich der Verfasser mit Erfolg, auch die jeweiligen Entwicklungen in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) mit ihren Parallelitäten, Spezifika und Inkonsistenzen gleichermaßen gebührend zu würdigen.

 

Charakteristisch für das Werk ist unter anderem, dass es dem Verfasser gelingt, die Entwicklungen auf politischer Ebene als Impetus für das Hinterfragen der tiefer liegenden, gesellschaftspolitischen und -psychologischen Strukturen zu instrumentalisieren und damit so etwas wie das authentische Lebensgefühl des jeweiligen Zeitabschnitts zu rekonstruieren. So kann Ulrich Herbert, der sich in seiner bisherigen Forschungsarbeit primär auf das nationalsozialistische Deutschland konzentriert, etwa in einem „Die Dynamik der Gewalt“ überschriebenen Unterabschnitt plausibel darlegen, dass heute als eindeutig wahrgenommene Symbole des NS-Terrors wie das System der Lager im Empfinden des miterlebenden Zeitgenossen noch eine durchaus andere Konnotierung aufweisen und diesem damit eine gewisse Normalität suggerieren konnten. So sei „das ‚Lager‘ schon wenige Tage nach Beginn der NS-Herrschaft eine alltägliche Erscheinung im Alltagsleben und nicht allein beschränkt auf die Stätten der Verfolgung von Regimegegnern“ gewesen, verbunden mit der „Vorstellung, dass sich die Widrigkeiten und Herausforderungen des modernen Lebens am ehesten durch militärische Organisation, durch Militarisierung der Arbeit und des Lebens meistern ließen. Sogar Fortbildungskurse für Studenten, Ärzte oder Rechtsanwälte wurden nun ‚lagermäßig‘ organisiert, Schüler fuhren im Sommer ins Ferienlager, Sportler ins Sportlager […]. Überall prägten Lagerorganisation, Lagerälteste, Aufseher, festes Reglement, Appelle und ‚Essenfassen‘ den Alltag und verbanden das Lagerleben mit einer Ideologie des Militärisch-Naturnahen, Unverbrauchten, Kollektiven, Gesunden – im Gegensatz zu den individualistischen Bequemlichkeiten, die das zivile Leben in der modernen Welt bot. Dieser Hintergrund war auch für die Konzeption und Wahrnehmung der Konzentrationslager von einiger Bedeutung“, indem dort „ein Unterton von Besserung und Erziehung mitschwang“ - der sich freilich in der Praxis als „Camouflage“ erweisen sollte (S. 335f.). Auch der sukzessive Wandel in der Stoßrichtung des Terrors wurde dann von vielen nicht bewusst registriert: „Drei Jahre nach der ‚Machtergreifung’ hatte sich das nationalsozialistische Unterdrückungssystem auf gravierende Weise gewandelt, ohne dass dies in der Bevölkerung in größerem Maße wahrgenommen worden wäre: Nicht mehr die Verfolgung der politischen Gegner stand dabei im Mittelpunkt, sondern die Aussonderung der ‚Gemeinschaftsfremden‘ aus der deutschen Volksgemeinschaft“ (S. 340f.). Die Expansionspolitik des Hitler-Staates erfolgte mit Unterstützung namhafter Juristen unter definitiver Distanzierung von der Idee des Völkerrechts: „‘Völkerrecht‘ als universalistisches Ordnungsprinzip, unabhängig von den tatsächlichen Machtverhältnissen, so der Berliner Rechtswissenschaftler Carl Schmitt […], gebe es gar nicht; das sei lediglich ein Instrument zur Beibehaltung des Status quo, also im Interesse der westlich-demokratischen Mächte.“ Und: „Im völkischen Verständnis, so der SS-Jurist Werner Best [auf Basis von Studien zu Person und Weltanschauung des Heydrich-Stellvertreters wurde Ulrich Herbert 1992 habilitiert], gebe es gar kein Völkerrecht, sondern nur die Interessen des eigenen Volkes, und außer der Macht keine weiteren Begrenzungen seiner Handlungen“ (S. 388f.).

 

Auch am Beispiel der Geschichte der DDR kann das Bestreben des Verfassers, die Wurzeln wirkmächtiger Legitimationsmythen zu identifizieren, gezeigt werden. Mit dem Aufbau des dortigen Sozialismus erfüllte sich nämlich „in der Perspektive der deutschen Kommunisten […] eine Hoffnung der Menschheit ebenso wie eine Gesetzmäßigkeit der Geschichte. […] Man muss diese […] Perspektive überzeugter Kommunisten im Jahre 1949/1950 vor Augen haben, um die zahlreichen Widersprüche und Enttäuschungen, aber auch den zukunftssicheren Enthusiasmus und den Fanatismus der Anhänger und Kader der kommunistischen Bewegung in der DDR nachvollziehen zu können. Ihre aus der Geschichte gewonnene Gewissheit, mit dem Sozialismus das historisch notwendige und unvermeidliche Ziel einer Gesellschaft der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit anzustreben, verband sich mit dem Bewusstsein, als Einzige den Nationalsozialismus frühzeitig durchschaut und konsequent bekämpft zu haben. In dieser Verbindung – Sozialismus und Antifaschismus – lag die spezifische Legitimation der DDR ebenso wie die Ursache für die Bereitschaft der Kader, trotz andauernder Rückschläge und immer erneuten Scheiterns an der Überzeugung festzuhalten, doch das richtige Ziel zu verfolgen und den Weg dorthin zu kennen“ (S. 699ff.). Tatsächlich war der sozialistische deutsche Staat schon ein Jahr nach seiner Gründung „von allem demokratischen Zierrat befreit und eine Diktatur nach sowjetischem Muster […], ‚Fehler‘ und ‚Feinde‘ waren daher auch die wichtigsten Legitimationsfiguren zur Erklärung von Misserfolgen und Rückschlägen“ (S. 708f.). Im Rahmen der Kollektivierung der Landwirtschaft wurden „durch ein neues Gesetz Verstöße gegen das ‚Volkseigentum‘ mit schweren Strafen geahndet, innerhalb weniger Monate wurden mehr als 10.000 Personen wegen dieses kaum definierbaren Delikts bestraft“ (S. 711f.). Die Folgen blieben nicht aus: Bis zur Schließung der Sektorengrenze im August 1961 verließen „fast drei Millionen Menschen – ein Sechstel der Bevölkerung – das Land“ und gefährdeten damit ernsthaft „die Existenz der DDR“ (S. 726). Aber selbst das Einsperren der eigenen Bevölkerung durch den Mauerbau, der im Übrigen einer „zweite(n) Gründung der DDR“ mit einer nachfolgenden wirtschaftlichen wie politischen Stabilisierung gleichkam, erschütterte nicht das Selbstbewusstsein der politisch Verantwortlichen: „Die Legitimation des Sozialismus ergab sich für sie nicht aus der mehrheitlichen Zustimmung durch das Volk, sondern durch die historische Richtigkeit der Idee“. Die kritisch-offene Haltung, die sich der Verfasser dabei stets auch bestimmten Entwicklungen im Westen gegenüber bewahrt, geht unter anderem aus seiner klaren Feststellung hervor, dass die „stete SED-Propaganda, wonach die Bundesrepublik ein Hort des Faschismus und Militarismus sei, zwar ein Zerrbild zeichnete, aber doch nicht völlig aus der Luft gegriffen war“ (S. 728f.).

 

Spannend sind die lebensnah gestalteten Abschnitte zu lesen, die den gesellschaftspolitischen Wandel in der Bundesrepublik und die indizierten Veränderungen im Normensystem zum Gegenstand haben. Der durch Fernsehen, Auto, Wohnung und Reisen geprägte „Konsumrausch“ in der Mitte der sechziger Jahre führte beispielsweise nach weitgehender Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse zunächst „bei den Jüngeren und besser Ausgebildeten“ zu einer Verschiebung der Bedürfnis- und Wertstrukturen, sodass „beide Lebensstile und Werthaltungen, die traditionelle wie die moderne, in zahlreich differenzierten Formen über lange Jahre nebeneinander (standen) und die Basis für jenen kulturellen Dauerkonflikt (bildeten), der sich fortan vor allem als Generationskonflikt zwischen Jung und Alt, aber auch als politischer Konflikt zwischen liberal und konservativ darbot, ohne dass die Zuordnungen immer eindeutig waren“. Auf dem Prüfstand befand sich insbesondere „das Verhältnis von Staat und Individuum – sowohl in Fragen der Partizipation in öffentlichen Angelegenheiten als auch und besonders im Bereich von Familie, Erziehung und Sexualität, den der Staat mit zahlreichen Vorschriften reglementierte“ – etwa mit dem Schuldprinzip in der Ehescheidung, der beschränkten Geschäftsfähigkeit von Ehefrauen oder dem Verbot der einvernehmlichen Homosexualität unter Erwachsenen. Die große Strafrechtsreform von 1969 machte „Sexualität weitgehend zur Privatsache“, und „am Ende der sechziger Jahre sprach der Jurist Albin Eser rückblickend bereits von einem ‚saeculum sexuale‘: […] ‚Was seit unvordenklicher Zeit als sittliche Verfehlung schwersten Grades gegolten hat, gehört heute zum selbstverständlichen Erfahrungsschatz jedes Heranwachsenden, der als sexuell gesund und normal gelten will‘“ (S. 814ff.).

 

Die Herausforderungen für die Zukunft Deutschlands sieht der Verfasser „nicht aus den inneren Spannungen und Widersprüchen dieses Landes, wie das einhundert Jahre zuvor der Fall war“, hervorgehen, sondern „eher aus den internationalen Konstellationen […] entstehen, in die Deutschland eingebunden ist: aus den Gefahren des enthemmten Finanzkapitalismus, der nach dem Verschleiß der Alternativen selbstzerstörende Elemente offenbart; aus den weiterwirkenden Dynamiken des Nord-Süd-Konflikts, deren Ausmaße nicht absehbar sind; aus den Widersprüchen eines wirtschaftlich ungleichgewichtigen Europas mit einer gefährlichen Dominanz Deutschlands sowie aus den Problemen, die daher rühren, dass die USA als einzige Weltmacht tendenziell damit überfordert sind, die divergierenden Interessen der alten und neuen Großmächte allein und ohne ein austariertes Sicherheitssystem auszugleichen“ (S. 1251). Dass der durch die Krise in der Ukraine wieder auflebende Ost-West-Konflikt mit seiner Gefahr der Konstituierung eines neuen Kalten Krieges hier noch nicht (oder nicht mehr) erwähnt wird, offenbart nur, wie rasch grundlegende Veränderungen in der sicherheitspolitischen Landschaft akut werden und scheinbare Gewissheiten als fromme Wunschträume entlarven können. Dieser Wandel kann jederzeit, wie der Kosovo-Konflikt bewiesen hat, auch selbst auferlegte Tabus betreffen: Die im März 1999 unter Umgehung des UN-Sicherheitsrats beginnenden NATO-Luftangriffe gegen Serbien brachten Deutschland „den ersten Kriegseinsatz seit 1945, noch dazu gegen ein Land, das die Bundesrepublik Deutschland nicht angegriffen hatte“, und dies unter Missachtung des systemlogischen Axioms, dass „das Fehlen eines Sicherheitsratsbeschlusses nicht durch andere Rechtskonstruktionen aufgewogen werden kann“ (S. 1227ff.).

 

Ulrich Herbert zeigt mit diesem qualitätsvollen Buch, das dankenswerter Weise auch auf jeglichen reißerischen Untertitel verzichtet, dass auch in Zeiten universal- und globalgeschichtlicher Betrachtung eine am Nationalstaat orientierte Historiographie, verfasst im konventionellen Ton bester traditioneller Erzählkunst, für das Erfassen und Begreifen spezifischer Entwicklungszusammenhänge unerlässlich bleibt. Gerade die deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, deren möglicher „Sonderweg“ zahlreiche Debatten in und außerhalb der historischen Zunft in Gang gesetzt und befruchtet hat, illustriert das weiterhin große heuristische Potential dieser klassischen Kategorie der Darstellung.

 

Kapfenberg                                                                                       Werner Augustinovic