Fried, Johannes, Karl der Große. Gewalt und Glaube. Eine Biographie. Beck, München 2013. 736 S., Abb., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Erforschung des frühen Mittelalters wird erschwert durch einen eklatanten Mangel an authentischen schriftlichen Zeugnissen. Das Wenige, das auf uns gekommen ist, bedarf daher einer ausgeklügelten, nicht selten die Grenzen zur Spekulation überschreitenden Interpretation, um sich im Verein mit archäologischen und anderen materiellen Hinterlassenschaften zu halbwegs tragfähigen Aussagen zu verdichten. Es stellt eine besondere Herausforderung dar, nicht nur diese schwer fassbare und uns entsprechend fremde Zeit an sich anschaulich begreifbar zu machen, sondern darüber hinaus modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographien ihrer maßgeblichen Persönlichkeiten zu erstellen.

 

Im Bewusstsein all dessen versucht sich nun der erfahrene Mediävist Johannes Fried an einer diese Kriterien erfüllenden Lebensbeschreibung Karls des Großen (vermutlich 748 – 814). Die reformierte Rechtschreibung verschmähend, legt er 2013 in erster Auflage diesen nun wiederaufgelegten, schön ausgestatteten Band vor, der mit 60 Schwarzweiß-Abbildungen im Text, einem zentralen Tafelteil mit acht Farbtafeln und zwei, die Innenseite des Einbandes einnehmenden, das Reich Karls des Großen sowie die zeitgenössische Mittelmeerwelt darstellenden Karten aufwarten kann. Der emeritierte Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt benennt selbst zwei Arbeiten, denen er sich in besonderer Weise verpflichtet fühlt: „Der Karlsmonographie von Donald A. Bullough, die vor fast einem halben Jahrhundert erstmals erschien, und der jüngeren Darstellung Karls des Großen aus der Feder von Wilfried Hartmann. Die Weite des Blicks des einen und die Präzision der Darstellung des anderen macht die Lektüre beider Bücher in gleicher Weise lohnenswert“ (S. 12).

 

Über zehn Kapitel, Prolog und Epilog eingerechnet, erstreckt sich Johannes Frieds jüngste Karl-Biographie. Sie erfassen die Eindrücke, die den Heranwachsenden geprägt haben mögen, führen über den Erfahrungshorizont des Frankenreiches hin zu den zahlreichen Kriegen, gehen ein auf die zeitgenössischen Strukturen, auf die konkrete Ausübung der Herrschaft Karls und auf den Königshof. Zwei Kapitel beleuchten die Erneuerung der Kaiserwürde, Karls Wirken als Kaiser, seine letzten Jahre und seine Vorsorgemaßnahmen für eine geordnete Nachfolge, der Epilog die Rezeptionsgeschichte. Dieser breite Ansatz vermittelt ein umfassendes Panorama des Herrschers in seiner Zeit, in dem auch seine Bemühungen um eine Reform des (Kirchen-)Rechts selbstverständlich ihren Platz finden (vgl. S. 342ff.).

 

„Gewalt und Glaube“ sind die zwei thematischen Klammern, die diese Darstellung als Leitmotive von Karls Leben durchziehen und verbinden. Beide sieht der Verfasser den Heranwachsenden so sehr prägen, dass sie sein Denken und Handeln zeitlebens bestimmen sollten. „Die Kriege in Aquitanien, gegen Langobarden und Sachsen, die Ausschaltung der karolingischen ‚Nebenlinie‘ und der Aufstieg der Karls-Linie zu Alleinherrschaft und Königtum, die ‚Treulosigkeit‘ Tassilos von Baiern und die Verehrung des hl. Petrus – das waren die Ereignisse und Eindrücke, die Karl, nachdem er den Thron bestiegen hatte, aus seiner Jugendzeit erinnert und festgehalten wissen wollte, neben dem Tod des kleinen Pippin [= ein Bruder Karls, der im dritten Lebensjahr verstarb], seiner ersten eigenen Kriegsbeteiligung und seiner Liebe zu Aachen. Die nämlichen Geschehensbündel beherrschten auf Jahre hinaus Karls eigene Königstaten“ (S. 40). Als er viel später in der Gewissheit seines absehbaren Endes für seine Nachfolge Sorge tragen sollte, versuchte er in einer Friedenskonstitution detailliert, aber letztendlich vergeblich die Beziehungen zwischen seinen Söhnen zu regeln: „Hier gebot ein König und Kaiser, der selbst hatte hinrichten, blenden, verstümmeln, scheren lassen, ein Karl, der nur zu gut wußte, was Königsverwandten von Ihresgleichen drohte. Alles sollte vergebens sein. Selbst der größte aller Frankenkönige vermochte den Frieden nicht über seinen Tod hinaus zu sichern. Sein Haupterbe Ludwig wird genau das tun, was der Vater hatte verhindern wollen: die Schwestern zwangsweise ins Kloster abschieben, ihre Geliebten töten, den Sohn seines Bruders Pippin allen Eiden zum Trotz blenden und zum Tod befördern, seine jüngsten Brüder zwangsweise zu Mönchen und Klerikern scheren lassen. […] Jener Ludwig, der mit dem ihm erst später zugeflossenen Beinamen ‚der Fromme‘, führte die Franken […] zu kollektivem Eidbruch und stürzte das Reich Karls des Großen […] ins Chaos, in Verrat, Bruderkriege, Auflösung und Untergang“ (S. 549f.).

 

Der unumstrittene Höhepunkt in Karls Leben und Wirken, die Kaiserkrönung in Rom am Weihnachtstag des Jahres 800 durch den bedrängten Papst Leo III., sei durch keine Akten, sondern nur in nachträglichen Erinnerungen festgehalten worden: „Vier Berichte gelten unter heutigen Gelehrten als maßgeblich: die ‚Reichsannalen‘, die sog. ‚Lorscher Annalen‘, der ‚Liber pontificalis‘ sowie Einhards ‚Karlsleben‘. Sie klaffen in ihren rechtsrelevanten Details weit auseinander […]. Tatsächlich sollte sich Einzigartiges an jenem Weihnachtstag ereignen. Eine Wende. Eine Inszenierung, die, was niemand ahnen konnte, trotz mancher Änderung ein Jahrtausend überdauern sollte. Sie verschmolz römisch-byzantinische Elemente mit Momenten einer völligen Neuschöpfung und diskrepanten Erinnerungen, die sich höchst selektiv als Präzedenzfall mit normativer Wirkung ins kulturelle Gedächtnis einnisteten und die noch immer die historische Analyse mit ungelösten Herausforderungen konfrontieren“ (S. 484). Somit verstecke sich zwar „der Sinn dieser Krönung […] hinter auseinanderdriftenden Wünschen, unterschiedlichen Deutungen und Erinnerungen“, doch „was immer Karl intendiert hatte, und wie immer der Ablauf der Krönung und ihre Beurteilung ausgefallen war: Es galt als ein römisches Kaisertum, das am Weihnachtstag 800 erneuert worden war, als keines bloß ‚der Römer‘. […] Der neue Kaiser mochte in der eben erlangten Würde den Gipfelpunkt seiner Herrschaft erkannt, seine ihm nun zugefallene Aufgabe als universaler Schutzherr der Christenheit angenommen haben, doch die langanhaltenden Folgen seiner weihnachtlichen Krönung konnte er schwerlich erahnen. Mit ihr begründete der Franke eine Tradition […]. Sie überdauerte […] auch das Vorbild, den wahrhaftigen ‚Kaiser der Römer‘ (βασιλεν̀ς τω̃ν ΄Ρομαίων), dessen Reich 1453 Mehmed der Eroberer ein Ende bereitete. Wirksam blieb die Erneuerung der Kaiserwürde des Westens […] bis zum Jahr 1806, und, wenn die Nachfolger als ‚Kaiser‘ mit gerechnet werden – l‘Empereur des Français, der Kaiser von Österreich, el Emperador de México, der Deutsche Kaiser, the Empress of India – bis ins 20. Jahrhundert“ (S. 494f.).

 

Für die Zeitgenossen schien mit der Kaiserkrönung Karls nach drohenden Endzeitvisionen nun ein Friedenszeitalter, „ein neuer Äon anzubrechen“ (S. 499). Im Rechtsverständnis des frühen Mittelalters war Friede die „Folge einer gerechten Ordnung. Eine solche aber erneuerte geltendes Recht; sie verlangte keine umstürzenden Herrschafts- und Sozialreformen. Sie verlangte, daß jeder das Recht auch des anderen achte, hob aber Herrschaft und Knechtschaft oder die Unterschiede der Volksrechte nicht auf. […] Die Friedensappelle folgten dieser Haltung. Sie schützten Herren, Freie und Knechte, Laien und Kleriker je mit ihrem eigenen Recht und in ihrem Stand. Alles Abweichende hieße, das Unrecht zu schüren. Die Mahnungen verharrten damit im Formalen, weil sie Inhalte nicht anzutasten, geschweige denn zu verwerfen wagen konnten“ (S. 502).

 

Was Wunder, dass, „nachdem erste herabwürdigende Aktionen durch die veränderte Zeitlage überwunden waren“, schon bald nach Karls Ableben „irdische Heroisierung früh die Memoria (verformte)“ (S. 597). Schon Einhards „Vita Karoli“ von 828/829, an Suetons und Ciceros antikes Vorbild angelehnt, war gedacht, Ludwig dem Frommen wegen der zunehmenden internen Spannungen im Frankenreich „in dezenter, doch eindeutiger und eindringlicher Weise“ (S. 599) den Spiegel seines Vorgängers vorzuhalten. Immer mehr Anekdotisches und Sagenhaftes bildete sich mit wachsender Entfernung von den Lebzeiten Karls heraus, um die Jahrtausendwende verschmolz der gefestigte Ehrentitel zum Namen „Charlemagne“ bzw. „Karl der Große“. Die Karlssage ließ sich „leicht in politische Propaganda umformen“ (S. 609), darüber hinaus genoss und genießt Karl bis heute liturgische Verehrung. Franzosen wie Deutsche versuchten ihn als nationalen Helden exklusiv für sich zu vereinnahmen, und Hitlers Drittes Reich fand nach anfänglicher Diffamierung des „Sachsenschlächters“ zu folgender Formel: „Das Reich Karls des Großen / das seine Enkel teilten / im Jahr 843 / verteidigt Adolf Hitler / gemeinsam mit allen Völkern Europas / im Jahr 1943“ (S. 623). Heute sei Karl für die Fachwissenschaft „weder Deutscher noch Franzose, vielmehr Franke“ (S. 625), einig sei man sich in seiner „Bedeutung für die kulturelle Entwicklung des westlichen Europas […]. Tatsächlich strahlte diese ‚westliche‘ Kultur im Laufe der Jahrhunderte in die gesamte Welt aus, wirkte somit im Hintergrund an deren Wandel, an dem Heraufkommen einer neuen ‚Weltgegenwart‘ mit“ (S. 627).

 

Dass uns Karl, dessen Todestag sich am 28. Januar dieses Jahres zum zwölfhundertsten Mal jährt, auch in dieser durch die Dichte ihres Zeitkolorits beeindruckenden Biographie als Individuum dennoch auf eine sonderbare Weise entrückt bleibt, so schwer Fleisch und Blut gewinnt, kann dem Verfasser nicht angelastet werden. Er hält selbst fest: „44 Jahre hat Karl der Große sein Reich regiert, länger als die meisten seiner Vorgänger und Nachfolger. Aber sein Leben verschließt sich uns. Seltene emphatische Äußerungen genügen nicht, um ein Bild seiner Persönlichkeit zu entwerfen […]. Was aber war seine Mitte, er selbst? Wir wissen es nicht. […] Wir kennen nur Taten, die ihm zugeschrieben wurden oder die er sich zuschreiben ließ […]. Die Entwicklung der Persönlichkeit vom jungen König zum alten Kaiser, der Einfluß der Berater – sie bleiben im dunkeln.“ Aber: „Als Karl starb, war nichts wie zuvor“ (S. 593f.). Johannes Fried hat so überzeugend das Mögliche getan, den spärlich fließenden Quellen das zu entlocken, was sie an Substanz hergeben; was darüber hinausginge, wäre freie Improvisation und bei dem heutigen Stand der Forschung wissenschaftlich nicht vertretbar.

 

Kapfenberg                                                     Werner Augustinovic