Flurschütz, Bernd, Die bayerische Popularklage nach Art. 55 BayVfGHG. Entstehungsgeschichte, dogmatische Analyse, Mehrwert (= Schriften zum Landesverfassungsrecht 2). Nomos, Baden-Baden 2014. 437 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Während vor der Entstehung des Rechtes der Mensch im Rahmen der ihn umgebenden Verhältnisse uneingeschränkt nach seinem Willen handeln konnte, sollte in einem Rechtsstaat grundsätzlich jede menschliche Handlung rechtmäßig sein, selbst wenn die Wirklichkeit dem in vielen Fällen widerspricht. Zur Herstellung dieser Rechtmäßigkeit sind grundsätzlich alle berufen, darunter auch der von den Einzelnen getragene Staat, dem deswegen in der Gegenwart auch vielfach eine Rechtswegegarantie aufgegeben ist, selbst wenn der Staat tatsächlich auch im Einzelfall durchaus rechtswidrig handelt. Einen wichtigen Schritt über diesen Zustand hinaus geht Art. 55 BayVfGHG, der es Einzelnen unabhängig von einer persönlichen Betroffenheit  ermöglicht, sich (bei Aufweis eines aktuellen Bezugs zur bayerischen Verfassung) im Wege einer Klage für die allgemeine Rechtmäßigkeit des menschlichen Lebens besonders einzusetzen.

 

Die sich mit diesem interessanten Gegenstand beschäftigende Untersuchung ist die von Joachim Suerbaum angeregte und betreute, im Sommersemester 2013 von der juristischen Fakultät der Universität Würzburg angenommene Dissertation des Verfassers. Sie gliedert sich außer in eine Einführung über den Untersuchungsgegenstand, den Stand der Literatur, die Themenbegrenzung und den Gang der Untersuchung sowie eine Zusammenfassung der Erkenntnisse in drei Abschnitte. Sie betreffen  die Grundlagen einschließlich der Popularklage in der Antike und seit dem Mittelalter, einen ausführlichen dogmatischen Teil sowie die Stellung und den Mehrwert der Popularklage.

 

Im Ergebnis stellt der Verfasser ansprechend fest, dass in Gegensatz zu Griechenland und Rom sich seit dem Mittelalter nur vereinzelt Popularklagen nachweisen lassen, die bayerische Popularklage keinen verfassungsprozessualen Vorläufer hat und die Regelung des Art. 98 S. 4 BV in keinem der Vorentwürfe zur bayerischen Verfassung vorgesehen war. Sie wurde erst auf Anregung der amerikanischen Besatzungsstreitkräfte aufgenommen, die befürchteten, die Grundrechte könnten durch den parlamentarischen  Gesetzgeber ausgehöhlt werden. Auf dieser ziemlich unbestimmten Grundlage gewann der Verfassungsgerichtshof Bayerns durch Auslegung die vom Gesetzgeber nicht intendierte Popularklage („Zufallsprodukt“) und erst mit der Novelle des Jahres 1962 bezeichnete der Gesetzgeber dieses Verfahren als Popularklage.

 

Bedingt durch die sorgfältig ermittelten Aspekte der besonderen (bzw. einmaligen) bayerischen Popularklage kann der Verfasser eine objektive Rechtsbeanstandungsfunktion, eine subjektive Rechtsschutzfunktion, eine Mobilisierungsfunktion und eine Disziplinierungsfunktion hervorheben. Ohne die Popularklage hätten die bayerischen Grundrechte, die bayerische Verfassung und der bayerische Verfassungsgerichtshof nicht ihre bisherige Bedeutung erlangt. Von daher könnte der Rechtsstaat auch anderswo nur gewinnen, wenn eine vergleichbare Einrichtung dort ebenfalls geschaffen würde.

 

Innsbruck                                                                              Gerhard Köbler