Derschka, Harald, Individuum und Persönlichkeit im Hochmittelalter (= Urban Akademie). Kohlhammer, Stuttgart 2014. 271 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

In der Gegenwart versteht sich der Mensch des modernen Abendlands zumindest in seinen meinungsbildenden Vertretern ganz selbverständlich als Individuum und Persönlichkeit von singulärem Wert. Wie vieles andere ist aber diese Einsicht im Menschen nicht von Natur aus angelegt. Vielmehr hat sie sich nach Ansicht des Verfassers des vorliegenden Bandes im Hochmittelalter entwickelt.

 

Sein um 1970 geborener Verfasser studierte Geschichte und Philosophie in Konstanz ab 1990, legte 1998 eine umfängliche Dissertation über die Ministerialen des Hochstifts Konstanz vor, wirkte von 1998 bis 2008 als wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für deutsche Rechtsgeschichte seiner Universität und danach als akademischer Angestellter im Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen  von Integration. 2011 wurde er auf Grund seiner Schrift über die Lehre von den vier Säften des menschlichen Körpers als Persönlichkeitstheorie des 12. Jahrhunderts für das Fach Geschichte des Mittelalters habilitiert. Die vorliegende Studie entstand begleitend zur Habilitationsschrift, in welcher der Verfasser nachzeichnet, wie die antike medizinische Temperamentenlehre im 12. Jahrhundert als Persönlichkeitstheorie mit den vier Charakteren des Sanguinikers, Cholerikers, Melancholikers und Phlegmatikers neu konzipiert wurde.

 

Gegliedert ist die interessante Untersuchung nach einer Vorbemerkung in drei Abschnitte. Sie betreffen die Entdeckung des Individuums im Hochmittelalter, die Orte der Individualität im Hochmittelalter (Religion, Mönchtum, Philosophie, Recht, Literatur, bildende Kunst, Empfinden, Felder der sozialen Beziehungen, Elemente der materiellen Kultur, Geld, Persönlichkeitstheorie) und die Struktur des hochmittelalterlichen Individualisierungsprozesses. Im Ergebnis führt der Verfasser ansprechend seine vielfältigen neuen Einsichten zu einem wichtigen Veränderungsvorgang darauf zurück, dass (in Mitteleuropa) um 1100 der Einzelne komplexe Anpassungsleistungen erbringen musste, die eine tiefere Einsicht in die eigene wie mitmenschliche Innenwelt begünstigten.

 

Innsbruck                                                                  Gerhard Köbler