Das
Kloster Fulda und seine Urkunden. Moderne archivische Erschließung und ihre
Perspektiven für die historische Forschung, hg. v. Zwies, Sebastian (=
Fuldaer Studien 19). Herder, Freiburg im Breisgau 2014. XI, 381 S. Besprochen
von Gerhard Köbler.
Ernst
Friedrich Dronke veröffentlichte im Jahre 1844 Traditiones et Antiquitates
Fuldenses (nicht wie auf S. 9 Fuldensis) und 1850 einen Codex Diplomaticus
Fuldensis und „schlug“ damit „erste Schneisen“ in die Urkundenbestände des
bedeutenden hessischen Klosters Fulda unter Berücksichtigung der
beeindruckenden kopialen Überlieferung. Unter Verwertung der Vorarbeiten
Michael Tangls konnte Edmund Ernst Stengel 1913 einen ersten Teilband eines
beeindruckenden Fuldaer Urkundenbuchs vorlegen, in dem dann bis 1958 529
Urkunden identifiziert wurden, die bis zum Jahre 802 reichten. Da nach seinem
Tode die Suche nach einem neuen Bearbeiter des umfangreichen Materials erfolglos
blieb, konzentrierte sich die Historische Kommission für Hessen auf die Edition
des in der Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen kopialen Codex Eberhardi,
die Heinrich Meyer zu Ermgassen nach nahezu 30 Jahren 2007 abschließen konnte.
Weil
eine Bearbeiterin oder ein Bearbeiter jedoch auch unter diesen Voraussetzungen „bei
weitem nicht in Sicht“ war, die hessischen Staatsarchive aber seit 2000 über
eine moderne internetfähige Archivdatenbank zur Erschließung von Archivgut (das
Hessische Archiv-Dokumentations- und Informationssystem HADIS) verfügten und
seit 2004 eine hochwertige digitale Bildaufnahmetechnik im Staatsarchiv Marburg
im Einsatz war, bot es sich ersatzweise an, die Fuldaer Urkunden als
Reproduktionen im Internet zu zeigen und datenbanktechnisch möglichst gut
recherchierbar aufzubereiten. Das bedeutete die Zurückstellung des
ursprünglichen Projekts Fuldaer Urkundenbuch unter Einbeziehung der kopialen
Überlieferung zu Gunsten des pragmatischen Schrittes der Konzentration auf den
seit 1874 im Hessischen Staatsarchiv Marburg untergebrachten Bestand Urk. 75
Reichsabtei Fulda – Stiftisches Archiv (ehemals Bestand R I a). Darüber hinaus
erschien es nach der Einführung Andreas Herwigs sinnvoll, sich zunächst auf die
Urkunden des Stiftsarchivs zu beschränken, die das Rückgrat der
Gesamtüberlieferung des Klosters bzw. der Reichsabtei Fulda im Umfang von mehr
als 8000 Urkunden bilden.
Zur
wissenschaftlichen Abstützung dieses Vorhabens fand im Auditorium maximum der
Bibliothek der Theologischen Hochschule Fulda am 22. und 23. März 2012 ein
Kolloquium über den archivischen Urkundenfonds Fuldas in Marburg statt, auf dem
Archivare, Bibliothekare, Hilfswissenschaftler, Mediävisten und
Neuzeithistoriker neue Erkenntnisse austauschten. Im Kern ging es dabei um die
Frage, ob das am Staatsarchiv Marburg durchgeführte, von der Deutschen
Forschungsgemeinschaft geförderte und bis Ende 2010 nach zweijähriger
Bearbeitungszeit abgeschlossene Projekt Online-Erschließung des
Urkundenbestandes der Reichsabtei Fulda (751-1837) mit insgesamt 2439 Urkunden
als Vollregesten in Verknüpfung mit Abbildungen der einzelnen Diplome und
Siegel samt Orts- und Personenindex (www.hadis.hessen.de) neue Forschungsperspektiven
zu bieten vermag. Die Beiträge dieser die gestellte Frage eindeutig bejahenden
Tagung stellt der vorliegende Band nunmehr der Öffentlichkeit zur Verfügung.
Insgesamt
enthält das Werk 17 aufschlussreiche Studien. Sie gliedern sich zwischen der
Einführung Andreas Herwigs und der Zusammenfassung Mark Mersiowskys über Bilanz
und Perspektiven in insgesamt vier Abschnitte. Sie betreffen alte und neue Methoden
der Erschließung von Urkundenbeständen, hilfswissenschaftliche Dimensionen des
Mittelalters und der frühen Neuzeit, Grundlagen und Strukturen sowie
Bedingungen und Konkretisierung der Herrschaft.
Dabei
stellt Mark Mersiowsky für die Diplomatik im analogen Zeitalter die
Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel der ältesten Fuldaer
Urkundenüberlieferung vor, während Francesco Roberg die Chancen und Gefahren
EDV-gestützter Diplomatik unter dem Gesichtspunkt textgenetischer Transparenz
schildert. Thomas Vogtherr behandelt Urkunden, Akten und Libelle in der frühen
Neuzeit an fuldischen Beispielen, Thomas Frenz die neuzeitlichen Papsturkunden
Fuldas und Andreas Meyer die Frage, warum in einer Papsturkunde oft nur wenig „Papst“
steckt. Andrea Stieldorf erörtert die Fuldaer Konvents- und Abtssiegel, Irmgard
Fees mit Magdalena Weileder die spätmittelalterlichen, 1311 einsetzenden
Notarsurkunden im Fuldaer Urkundenbestand und Holger Thomas Gräf die fuldischen
Grenzrezesse.
Die
anschließenden Perspektiven der Urkundenüberlieferung stellen die
Grundherrschaft, die geistlichen Funktionen des Fuldaer Abts, die Privilegien,
Niederadel und „Landes“-Herrschaft, Fehden sowie Gerichtspraxis und
Gerichtswesen in den Mittelpunkt. Über den Fürstabt von Fulda im politischen
und zeremoniellen Gefüge des Alten Reiches referierte in einem Abendvortrag Franz
Brendle. In der Gesamtschau Mark Mersiowskys haben die Einzelbeiträge wichtige
Ergebnisse zu den historischen Hilfswissenschaften, der Landesgeschichte und
der allgemeinen Geschichte seit dem Hochmittelalter erbracht, die sich als
erste Zinsen aus dem großen Kapital der digital erschlossenen Stiftsurkunden
Fuldas verstehen lassen.
Abgerundet
wird der aufschlussreiche Band durch ein von dem bei der Union der deutschen
Akademien der Wissenschaften in Mainz tätigen Herausgeber erstelltes Register
der (wohl mehr als 300) in ihm erwähnten Fuldaer Urkunden. Insgesamt bietet er
einen hilfreichen Überblick über moderne Möglichkeiten der Erschließung geschichtlicher
Quellen. Die bedauerliche Lücke eines vollständigen Fuldaer Urkundenbuchs
schließt er freilich trotz aller Mühen leider noch nicht, so dass weiter auf
einen künftigen Editor gehofft werden muss.
Innsbruck Gerhard
Köbler