Dahlheim, Werner, Die Welt zur Zeit Jesu. 3. Aufl., C. H. Beck, München 2014. 492 S., Ill., Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Zweitausend Jahre Geschichte, in deren Verlauf die europäische Lebensart sukzessive in alle Welt hinausgetragen worden ist, wären so nicht denkbar ohne zwei Fundamente: die griechisch-römische Antike und den christlichen Glauben. Schicksalhaft wiederverbunden im Reich der Karolinger, sollten sie im mittelalterlichen und neuzeitlichen Kaisertum über viele Jahrhunderte die Legitimation universaler Herrschaft liefern.

 

Der vorliegende, 2013 erstmalig veröffentlichte Band des Althistorikers Werner Dahlheim, der bis zu seiner Emeritierung an der Technischen Universität Berlin gelehrt hat, geht auf eigenwillige Art den Wurzeln dieser fruchtbaren Symbiose nach. Eigenwillig insofern, als sein auf die Kaiserzeit fokussierendes Buch weder eine vollständige römische Geschichte im klassischen Sinn schreibt, in deren Rahmen der christlichen Gemeinschaft eben auch ein bestimmter Stellenwert eingeräumt würde, noch eine konsistente Chronik des Christentums und seiner Entwicklung bis zum Niedergang des Imperium Romanum. Stattdessen verdichten sich viele, oft kaleidoskopisch anmutende Episoden zum Bild einer Welt, die dem Leser fern vom artifiziellen Wissenschaftsjargon, aber auch jenseits jeder Banalität in einer angenehm unaufgeregten Erzählweise nahegebracht wird.

 

Die Darstellung setzt ein mit dem Versuch einer Verortung des römischen Imperiums und seiner Menschen in Zeit und Raum und schwenkt anschließend in den Osten des Reiches, nach Judäa. Dort stehen das Schicksal des Jesus von Nazareth, der imperiale Anspruch des neuen Glaubens, das missionarische Wirken des Apostels Paulus - sein Erfolg „führte die Jesusbewegung endgültig aus Palästina heraus“ (S. 102) - und die Separation des Christentums vom Judentum im Brennpunkt des Interesses. Sodann erörtert der Verfasser die Grundfesten der römischen Weltordnung und ihre Garanten, die römischen Eliten, mit ihrem Ethos und ihren moralischen Schwächen, schließlich die Organisation der Herrschaft in einem von sozioökonomischen Gegensätzen nicht freien Weltreich. Garant des dauerhaften Erfolges der wohl größten Militärmacht der Antike sei, anders als vielleicht angenommen, nicht ihre militärische Potenz gewesen: „Weltherrschaft im römischen Ausmaß und errichtet über kulturell so unterschiedliche Völker konnte nur dauern, wenn die im Krieg Bezwungenen früher oder später lernten, ihre Zukunft als römische zu verstehen. Denn militärtechnisch hatten die Sieger den Besiegten nichts voraus. Weder waren ihre Waffen noch ihre Schiffe oder ihre Taktik besser als die der Griechen, Germanen oder Parther. Die Macht Roms gründete vor allem auf seiner politischen Überlegenheit, d.h., auf seiner Fähigkeit, Bündnisse zu schließen und Herrschaft so zu organisieren, dass Widerstand sinnlos, Zustimmung aber lohnend war“ (S. 150). Von den Griechen zunächst als Barbaren betrachtet, bildeten erst ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. „im allgemeinen Verständnis Griechen und Römer den kultivierten Teil der Menschheit, dem die Barbaren gegenüberstanden. Auf diese blickten sie nun gemeinsam, erst voller Verachtung, dann mit wachsender Furcht“ (S. 184).

 

Dem Augusteischen Zeitalter widmet der Verfasser, der 2010 unter dem Titel „Augustus. Aufrührer, Herrscher, Heiland“ eine Biographie des Kaisers veröffentlicht hat, sein besonderes Augenmerk. Hier sollten sich bereits manche Strukturen ausmachen lassen, die dem Einzug des Christentums auf lange Sicht Vorschub leisteten. Die Institution und Legitimation absoluter Macht, wie auch die Herrscherpflichten, vereinigten sich im Titel des Augustus: „Der Begriff bedeutete so viel wie ‚erhaben, heilig‘ und diente als Attribut für Götter und heilige Orte. Übertragen auf einen Menschen erhielt er eine ganz neue Qualität. Augustus – dies enthielt die Erinnerung an die Tugenden des ersten römischen Königs Romulus; Augustus – dies verwies auf das heilige Vorzeichen, mit dem die Götter die Gründung Roms begleitet hatten; Augustus – dies verband sich mit der Hoffnung auf die Auferstehung des Kaisers nach dem Tode. Fraglos hob bereits dieser Name den Sohn Caesars in eine sakrale Sphäre, in der irdische Kritik zur Gotteslästerung wurde. […] Der Kaiserkult verband nun alle Menschen zwischen Britannien und Syrien, und seine Liturgie war überall dieselbe. Dies kam einer religiösen Revolution gleich. Denn zum ersten Mal in der Geschichte des Mittelmeerraumes beteten die Menschen zu einem Gott, der ihnen allen gemeinsam war. Er beschützte sie vor den Plagen der Bürgerkriege und versprach ihnen Glück und Wohlstand“ (S.229ff.).

 

In diesem Kontext blickt Werner Dahlheim auch auf das private und öffentliche Leben, auf eine Welt der Wunder, der Magie und der Märchen, auf den Wandel im Gottesbild und den Umgang mit dem unabwendbaren Tod und lässt die zeitgenössischen christlichen Positionen in die jeweiligen Abschnitte einfließen. Diese dominieren die Schlusskapitel seines Buches, in denen er Fragen wie dem christlichen Glauben und der Suche nach Wahrheit, der Vergöttlichung Jesu, der Herausbildung der Amtskirche, der Entstehung der Evangelien („Keiner der Evangelisten kannte Jesus, keiner kannte die an seinem Prozess Beteiligten, keiner hat in das leere Grab geblickt. Alle aber prägte der Glaube an den von Gott gesandten Erlöser.“ S. 406) und dem Beginn christlicher Geschichtsschreibung sowie dem Verhältnis zur heidnischen Literatur – es war „unendlich schwer, ja unmöglich, den heidnischen Literaten und Poeten ebenbürtig zu werden, ja sie zu überbieten, ohne sie vorher genauestens studiert zu haben; eben dies taten die Besten unter den Kirchenvätern“ (S. 426) – nachgeht. Mit einem elegischen Ausblick auf das Mittelalter und die Rolle der christlichen Kirchen bei der Rezeption und Tradition des antiken Erbes schließt die Darstellung: „Anders als in Byzanz, wo es stets auch eine weltliche Beschäftigung mit der antiken Tradition gab, nahm im Abendland die Kirche allein das antike Erbe an. Über vieles brach sie den Stab, weil es heidnisch war, und manches zerstörten Eiferer, wenn es als sicht- und hörbarer Beweis der heidnischen Verderbtheit die Augen und Ohren der Frommen beleidigte. Das meiste vernichtete die Zeit. Denn die Jahrhunderte saugten das Blut selbst aus den Erinnerungen, die niemand vergessen wollte“ (S. 433f.).

 

Derjenige, der mit der Chronologie des antiken Geschehens weniger gut vertraut ist, findet Hilfe in Form einer nach den drei Feldern jüdische Geschichte, Geschichte des Imperiums und seiner Nachbarn sowie Geschichte des Christentums gegliederten Zeittafel, Aufschluss über topographische Gegebenheiten geben die beiden „Das Imperium Romanum zur Zeit Jesu“ und „Die Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten“ betitelten, sehr übersichtlich gestalteten Farbkarten auf dem vorderen und hinteren Vorsatz. Die letztgenannte offenbart aufschlussreich die starke Verankerung des frühen Christentums auf dem afrikanischen Kontinent, dessen Bedeutung „sich in der Macht ihrer Bischöfe und der Hartnäckigkeit, mit der sie theologische Streitfragen austrugen und dabei den Konflikt mit dem römischen Bischof nicht scheuten, (spiegelt)“ (S. 173) und das erst mit dem islamischen Ansturm und dem Fall der Küstenstädte um 700 sein Ende finden sollte.

 

Wer in dem Buch nach plakativen Aussagen zur zentralen Frage sucht, weshalb sich denn nun gerade das Christentum im Römischen Reich durchgesetzt habe, wird sich allerdings bescheiden müssen. Wenn man will, könnte man sagen, dass das römische Imperium mit seinen spezifischen Strukturen und Bedürfnissen genau jenen Humus abgegeben hat, den das Christentum für seine Entwicklung benötigte. Der Verfasser vermeidet es konsequent, hierzu explizite Aussagen zu liefern. Er verzichtet auf Kapitelzusammenfassungen und bedient sich einer betont dezenten Ausdrucksweise, die es unterlässt, vermeintliche Gewissheiten zu suggerieren. Selbst in der Zeittafel heißt es nicht, wie so oft verkürzt zu lesen ist, Kaiser Konstantin habe das Christentum zur Staatsreligion erhoben, sondern, den Tatsachen entsprechend: „Unter Konstantin (306-337) beginnt die Bevorzugung der Christen in allen Bereichen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens“ (S. 466). Die Botschaft scheint klar: Antworten auf komplexe historische Fragen lassen sich nicht auf einfache Formeln reduzieren. Wer tatsächlich verstehen will, wird nicht umhin kommen, sich der Mühe zu unterziehen, mittels aufmerksamer Lektüre dieses im Übrigen vorbildlich lektorierten Bandes einen umfassenden Einblick in die politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und materiellen Gegebenheiten jener Zeit zu nehmen und daraus selbst seine Schlüsse zu ziehen.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic