Buschmann, Arno, Mit Brief und Siegel – Kleine Kulturgeschichte des Privatrechts (= Beck’sche Reihe 6077). Beck, München 2013. 276 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Mit Brief und Siegel auf dem von Hans Holbein gemalten Bild des Duisburger Kaufmanns Dirck Tybis‘ versieht Arno Buschmann seine Kleine Kulturgeschichte des Privatrechts. Zutreffend weist er bereits zu Beginn seines Vorworts darauf hin, dass die Kulturgeschichte des Rechtes zu jenen Bereichen der Kulturgeschichte gehört, die anders als die Sprachgeschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Philosophiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte oder Sozialgeschichte bisher kaum Gegenstand kulturgeschichtlicher Darstellung wurde. Vor allem eine Kulturgeschichte des Privatrechts wurde bislang nicht versucht, obwohl die Geschichte des Privatrechts nicht nur ein Teil der Geschichte des Rechtes ist, sondern ebenso ein Teil der Geschichte der Kultur.
Dies ändert der Verfasser dadurch, dass er das Privatrecht und seine Wandlungen als Bestandteil der kulturellen Gesamtentwicklung in den wichtigsten Phasen erfasst und darstellt. Was bisher im Wesentlichen als Bestandteil (nur) der Rechtsgeschichte behandelt wurde, erörtert er vornehmlich im kulturgeschichtlichen Zusammenhang. Damit soll nicht nur für Juristen die Privatrechtsgeschichte in die Gesamtkultur eingebunden, sondern auch den Vertretern der anderen historischen Disziplinen die Privatrechtsgeschichte leicht zugänglich gemacht werden.
Die Privatrechtsgeschichte (der Neuzeit) verdankt, worauf der Verfasser gleich zu Beginn nachdrücklich hinweist, als Studienfach ihre Entstehung der eng mit Karl August Eckhardt verbundenen (nationalsozialistischen) Studienreform des Jahres 1935, in der die bis dahin üblichen Studienfächer Römisches Recht und Deutsches Privatrecht unter Ausrichtung auf die früher vernachlässigte nachmittelalterliche Entwicklung durch ein neues Studienfach Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (außerhalb einer übergreifenden Einheit Rechtsgeschichte) ersetzt werden sollte. Als inhaltlichen Kern der Wandlungen des deutschen Rechtsdenkens seit dem Eindringen des fremden Rechts hatte im gleichen Jahr Karl Michaelis ein Vordringen des begrifflichen Denkens beobachtet. Franz Wieacker nannte diesen Vorgang in seinen nach Erich Molitors 1949 veröffentlichen Grundzügen der neueren Privatrechtsgeschichte 1952 erstmals vorgelegten Privatrechtsgeschichte der Neuzeit dann einprägsam Verwissenschaftlichung.
Geschichte des Privatrechts lässt sich dabei einerseits sprachlich und andererseits sachlich fassen. Sprachlich kann man auf das im Sachregister nicht eigens aufgenommene ius privatum des römischen Rechtskundigen Ulpian (170?-223) zurückgreifen, das mit dem Nutzen der Einzelnen im Gegensatz zu den Verhältnissen des Gemeinwesens verbunden wird. Sachlich ist dementsprechend von einem Privatrecht bereits in dem Augenblick auszugehen, in dem den Einzelnen ein Gemeinwesen gegenübertritt, weshalb es auch längst Darstellungen des römischen Privatrechts von den frühen Anfängen an gibt und auch außerhalb Roms dort von einem Privatrecht ausgegangen werden kann, wo innerhalb des Rechtes neben den Einzelnen ein Gemeinwesen mit besonderen Regeln anerkannt ist.
Auf dieser Grundlage fragt sich sprachlich dann weiter, wann die in Rom bei Ulpian erkennbare Figur eines ius privatum in die deutsche Sprache übertragen wurde. Wer das geltende Recht geschichtlich verstehen will, kann also auch an einem Wissen darüber interessiert sein, seit wann es das Wort Privatrecht im Deutschen gibt. Ulrike Köbler konnte hierfür bereits feststellen, dass diese Bezeichnung in den wichtigen deutschen Wörterbüchern des Petrus Dasypodius (1536),.Josua Maaler (1561) oder Kaspar Stieler (1691) noch fehlt, dann aber in Samuel Oberländers Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum vom Jahre 1721 erstmals bezeugt scheint.
Dementsprechend könnte eine Geschichte des Privatrechts sachlich spätestens mit den Römern und sprachlich entweder bei Ulpian oder im frühen 18. Jahrhundert beginnen. Eine Geschichte des Privatrechts der Neuzeit könnte ihren Anfang bei den Beginn der Neuzeit nehmen und auf der Suche nach einer Neuheit auch im Recht auf den im 12. Jahrhundert sichtbaren Vorgang der neuen Befassung mit dem römischen Recht des Altertums abstellen und deshalb vor die eigentliche Neuzeit etwa drei Jahrhunderte zurückgreifen. Eine kleine Kulturgeschichte des Privatrechts kann diesem Vorschlag Franz Wieackers auch unter Verzicht auf eine ausdrückliche zeitliche Einschränkung mit guten Gründen folgen.
Eingeteilt ist dieses neue, eine Lücke schließende Werk nach einer kulturgeschichtlichen Einleitung in sechs zeitliche Abschnitte für die seit etwa 1100 verflossenen 900 Jahre. Sie betreffen die Anfänge des modernen Privatrechts im Hochmittelalter weitgehend außerhalb des deutschen Sprachraums (Glossatoren, Kommentatoren, Dekretisten, Dekretalisten, 11. oder eher 12. bis 14. Jahrhundert), gelehrtes Recht und gelehrte Rechtskultur im Heiligen Römischen Reich (Rezeption, Juristen, 13. bis 15. Jahrhundert), Wandlungen der gelehrten Privatrechtskultur im 16. und 17. Jahrhundert (Humanismus, Rationalismus, Renaissance des Naturrechts, Usus modernus Pandectarum, Jurisprudenz des ius patrium), neue Grundlagen der gelehrten Privatrechtskultur im 18. Jahrhundert (Aufklärung, Vernunftrechtslehre, Usus modernus Pandectarum, Ius Germanicum, Kodifikationen im Kurfürstentum Bayern 1751-1756, in Preußen 1794, Frankreich 1804-1810 und Österreich 1811/1812), Grundlagen der modernen Privatrechtskultur im 19. Jahrhundert (Neuhumanismus, Kodifikationsstreit, historische Rechtsschule, Pandektenwissenschaft, Begriffsjurisprudenz, Wissenschaft des deutschen Privatrechts, Wissenschaft des französischen Privatrechts, territoriale historisch-positivrechtliche Privatrechtswissenschaft, Sächsisches Bürgerliches Gesetzbuch von 1863, Allgemeine deutsche Gesetze im Deutschen Bund, Schweizer Obligationenrecht als Klammer zwischen französischer Schweiz und deutscher Schweiz, deutsches Bürgerliches Gesetzbuch, Schweizer Zivilgesetzbuch) und Privatrecht und Privatrechtswissenschaft im 20. Jahrhundert (freie Rechtsschule, Interessenjurisprudenz, nationalsozialistische Privatrechtsentwicklung, sozialistische Privatrechtsentwicklung, Wertungsjurisprudenz, deutsche Privatrechtsentwicklung nach Herstellung der deutschen Einheit, österreichische und Schweizer Privatrechtsentwicklung, Ausblick auf die allgemeine politische und kulturelle Entwicklung in Europa und der Welt in der Zukunft). In diesem Rahmen wird auf der Grundlage der binnen etwa siebener Jahre durchgeführten Rechtsrestauration des oströmischen Kaisers Justinian (527-565) „in der Forschung“ ein Gelehrter mit dem Namen Irnerius als Initiator und als Gründer der Rechtsschule angenommen, von dem außer der Tatsache der Gründung des Rechtsunterrichts nur wenig bekannt ist, dem aber nach Ausweis des Personenregisters etwa 222 rechtsgeschichtlich bedeutsame Personen von Accursius bis Zencker mit ihren wichtigen Lebensdaten und Leistungen folgen.
Dementsprechend stehen einzelne Strömungen, viele Texte und zahlreiche Rechtsgelehrte im Mittelpunkt des Werkes. Der Verfasser geht vielfach mit ähnlichen Wendungen wie bei Irnerius überwiegend von den Erkenntnissen der Forschung aus. Vorsichtig wägt er zwischen widersprüchlichen Ansichten vermittelnd ab, wobei grundsätzlich alle neueren Erkenntnisse berücksichtigt und am Ende in 22 kurzen Anmerkungen auch wichtige Quellen und andere Werke des Verfassers wie anderer Autoren aufgeführt werden.
Auffällig ist dabei etwa ein Claudius Cantiunculus. Missverständlich erscheint auch, dass Paucapalea am Ende des 11. Jahrhunderts ein Schüler Gratians gewesen sein soll. Wesenberg/Weseners wertvolle Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte wurde nach Ausweis des Karlsruher Virtuellen Katalogs 1985 nicht in zweiter, sondern in vierter Auflage vorgelegt, ein in Darmstadt 1999 in 6. Auflage von mir veröffentlichtes Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte ist dem Karlsruher Virtuellen Katalog unbekannt und möglicherweise hätten im Interesse der Allgemeinheit auch digital rasch überall greifbare Rechtsquellen und Biographien Hinweise verdient.
Insgesamt ist Arno Buschmanns mit Brief und Siegel gegebene Kleine Kulturgeschichte des Privatrechts eine sehr verständlich geschriebene, alle Kapitel mit einer beispielhaften Bilanz abschließende, sehr gut lesbare deutsche Privatrechtsgeschichte der Neuzeit in europäischem Rahmen, die eine große und damit um ein Vielfaches größere Privatrechtsgeschichte der Neuzeit nicht wirklich vermissen lassen wird. Sie beruht auf lebenslanger, bereits 1963 mit der von Rudolf Gmür betreuten Dissertation über Ursprung und Grundlagen der geschichtlichen Rechtswissenschaft – Untersuchungen und Interpretationen zur Rechtslehre Gustav Hugos – einsetzenden, 1967 mit einem erfolgreichen Textbuch zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (Hattenhauer/Buschmann) umfassend ausgeweiteten und mit der Habilitationsschrift des Jahres 1970 auch die Frührezeption einschließenden Befassung mit dem Privatrecht in Deutschland und seinen Quellen. Dass dem Verfasser im 84. Lebensjahr eine derart überzeugende Abrundung eines Lebenswerks gelungen ist, stellt ihn wissenschaftsgeschichtlich von germanistischer Seite vielleicht auf eine Stufe mit seinem genialisch einfallsreichen und vielseitigen langjährigen Salzburger romanistischen Kollegen und wird seine Bedeutung angemessen sichern können.
Innsbruck Gerhard Köbler