Broichmann, Cornelius, Der außerordentliche Einspruch im Dritten Reich. Urteilsaufhebung durch den „Führer“ Eine rechtshistorische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der strafverfahrensrechtlichen Reformbestrebungen im Dritten Reich und der höchstrichterlichen Rechtsprechungspraxis des Besonderen Strafsenats beim Reichsgericht sowie des Besonderen Senats beim Volksgerichtshof (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte 11). Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014. 523 S., Tab., zugleich Diss. jur. Augsburg 2013. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als ein essentieller Bestandteil der nationalsozialistischen Weltanschauung gilt das sogenannte Führerprinzip, das für den obersten Führer „sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht keine Bindungen oder Schranken“ postulierte und selbst „Einschränkungen überirdischer oder rein moralischer Natur“ in Abrede stellte (S. 132). Schon früh, nämlich im Zusammenhang mit der Ermordung der unbotmäßigen SA-Führungsriege und weiterer unliebsamer potentieller Gegner von Hitlers Regime („Röhm-Putsch“) im Juni 1934, präsentierte sich der Diktator erstmalig selbst als, wie er in seiner Rechtfertigungsrede im Reichstag am 13. Juli 1934 ausführt, „des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr“. Diese in der Folge von Kronjuristen wie Carl Schmitt staatsrechtlich untermauerte Position fand 1942 ihre formale Zementierung darin, dass sich „Hitler vom Großdeutschen Reichstag durch dessen letzten in der Zeit bis 1945 gefassten Beschluss offiziell zum obersten Gerichtsherrn des Deutschen Reiches ernennen (ließ)“ (S. 153). In dieser Eigenschaft stand ihm schon seit 1939 das Instrument des außerordentlichen Einspruchs als urteilsvernichtendes Korrektiv gegen rechtskräftige Urteile in Strafsachen zur Verfügung.

 

Die vorliegende Studie erforscht auf mehreren Ebenen die Geschichte dieses Rechtsinstituts, dessen Existenzgrundlage 1945 mit dem Selbstmord Adolf Hitlers und dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft praktisch erlosch. Eine Einleitung rekapituliert den bisherigen Stand des Wissens und stellt die in vier große Abschnitte gegliederte Arbeit im Überblick vor. Zunächst gelangen allgemein die Bestrebungen der Nationalsozialisten zur Reformierung des Strafverfahrens unter Diskussion des Prinzips der Rechtskraft und des Grundsatzes ne bis in idem sowie die Entwicklung der Rechtsbehelfe in der Weimarer Republik und im anschließenden Dritten Reich zur Darstellung, staatsrechtliche Betrachtungen zum Führerprinzip und zur Gewaltenteilung, gefolgt von einer Explikation des außerordentlichen Einspruchs als Führerinstrument in Konkurrenz mit der richterlichen Unabhängigkeit und den oben angesprochenen Prinzipien traditioneller Rechtskultur, bilden den zweiten Abschnitt. Als Kernkapitel muss wohl der annähernd 150 Druckseiten starke dritte Teil der Arbeit gelten, der das den außerordentlichen Einspruch kodifizierende Gesetz zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939 („Änderungsgesetz“) und die beiden Durchführungsverordnungen vom 17. September und 11. Dezember 1939 in ihren rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Kontext einbindet und anschließend die strafprozessuale Einordnung, die Tatbestandsvoraussetzungen, den Verfahrensablauf und die Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten (Nichtigkeitsbeschwerde, Berufung und Revision, ordentliches Wiederaufnahmeverfahren, Gnadenrecht, Niederschlagungsrecht, gerichtsherrliches Bestätigungsrecht, Aufhebungsrecht gemäß Führerbefehl vom 6. Januar 1942) erläutert. Eine Analyse der Rechtsprechungspraxis der für die Judizierung der Masse der außerordentlichen Einsprüche zuständigen Gerichtsinstanzen, des Besonderen Strafsenats des Reichsgerichts und des Besonderen Senats des Volksgerichtshofs, inklusive der statistischen Aufbereitung und der exemplarischen Auswertung konkreter Verfahren (jeweils 15), rundet in einem letzten, vierten Kapitel diese Ausführungen ab.

 

Obwohl in der Literatur bisweilen auf eine Ähnlichkeit des mittelalterlichen ius evocandi des deutschen Königs mit dem außerordentlichen Einspruch hingewiesen worden ist, kannte das europäische Ausland „abgesehen von einem Sonderfall [= päpstliches Evokationsrecht des Vatikans][…] in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wohl keine vergleichbaren Institute, die ähnlich umfassend in ihrer Zulässigkeit und zugleich gravierend in ihren Auswirkungen waren“ (S. 197). In der Großen Strafprozesskommission vorberaten, lieferte der Fall der Brüder Kompalla den konkreten Anlass zur Umsetzung des Gesetzesvorhabens: Während der eine der beiden Brüder als Soldat vom Reichskriegsgericht wegen Landesverrats (§§ 88ff. RStGB) zum Tode verurteilt worden war, erkannte im Fall des anderen der zuständige Volksgerichtshof wegen Beihilfe zum Unternehmen der Ausspähung (§ 90 RStGB) lediglich auf eine achtjährige Zuchthausstrafe. Hitler ordnete die Aufhebung des letztgenannten Urteils an, sodass unter tatkräftiger Mitwirkung des willfährigen Reichsjustizministeriums mit dem Änderungsgesetz im Nachhinein eine Norm verabschiedet werden konnte, die den außerordentlichen Einspruch gegen den Entscheid des Volksgerichtshofs, die Überweisung der Sache an den Sondersenat des Reichskriegsgerichts (der gem. § 3 [4] Änderungsgesetz in Zusammenhang mit Strafsachen, die in die Zuständigkeit der Wehrmachtgerichte fielen, bemüht werden konnte und dessen weitere Tätigkeit noch der Erforschung bedarf) und ein zweites Todesurteil ermöglichte. Fälle der unmittelbaren Beteiligung des „Führers“ als materiell Einspruchsberechtigtem scheinen allerdings die Ausnahme zu bilden; in der Regel „handelte es sich beim Reichsjustizminister sowie bei der Oberreichsanwaltschaft um die an der Einspruchspraxis maßgeblich beteiligten Stellen“ (S. 278). Regten die Vertreter von Angeklagten selbst im Interesse ihrer Mandanten den außerordentlichen Einspruch an, besaßen diese Bemühungen hingegen „eine nahezu nullprozentige Erfolgschance“ (S. 277).

 

Ein Vergleich der Spruchpraxis der beiden Besonderen Senate als höchste deutsche nichtmilitärische Strafgerichte offenbart, „dass eine Verhandlung vor ihnen kaum die Hoffnung zuließ, mit einem Freispruch den Sitzungssaal wieder verlassen zu dürfen“, wobei sowohl der Volksgerichtshof unter Roland Freisler als auch das Reichsgericht unter Erwin Bumke „im Durchschnitt mehr als 9 von 10 Angeklagten (verurteilten)“. Während die Verurteilungsquote bei beiden Gerichten mit einem Wert um die 95 % etwa gleich hoch war, zeigen sich deutliche Unterschiede bei den Strafen: Bei den Urteilen des Besonderen Senats des Volksgerichtshofs betrug das prozentuelle Verhältnis zwischen Todesurteilen und Freiheitsstrafen 75:21, beim Besonderen Strafsenat des Reichsgerichts hingegen für die Angeklagten günstigere 37:57.

 

Den Charakter des außerordentlichen Einspruchs als eines Mittels zur Herbeiführung politisch erwünschter Entscheidungen - hier übrigens das erste und einzige Mal zugunsten eines Angeklagten - und die Willfährigkeit der obersten Justizbehörden macht in besonderer Weise der vom Verfasser referierte Fall des vom Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler protegierten Polizeihauptwachtmeisters Wilhelm Klinzmann deutlich, in dem „der außerordentliche Einspruch und das Niederschlagungsrecht als ‚kongeniale Partner‘ fungiert (hatten), um eine Verurteilung Klinzmanns wegen Körperverletzung sowie Freiheitsberaubung im Amt durch das Landgericht Stendal aus der Welt zu schaffen und eine potenzielle erneute Verurteilung durch den Besonderen Strafsenat des Reichsgerichts zu verhindern. Für die erste Hürde wurde der außerordentliche Einspruch bemüht“, sodann „nutzte [der kommissarische Reichsminister der Justiz] Schlegelberger die mit der Erhebung des Einspruchs eintretende Anhängigkeit vor dem Besonderen Strafsenat dafür, das Verfahren mit der Ermächtigung des ‚Führers‘ niederzuschlagen. […] Mit diesem ‚Kunstgriff‘ war im Ergebnis allen gedient. Himmler, der sich gegen eine bloße Begnadigung ausgesprochen hatte, konnte weiterhin folternde und Geständnisse erpressende Polizeibeamte auf Beschuldigte ansetzen. Das Reichsjustizministerium konnte sich an das Revers heften, durch die Anwendung bestehender Rechtsinstitute das Verfahren ausschließlich im Rahmen der Gesetze auf ‚andere Bahnen‘ gelenkt zu haben. Tatsächlich jedoch hatten Himmler und [der Chef der Reichskanzlei] Lammers den opportunistischen Schlegelberger ohne Probleme vor sich hergetrieben, um die gewünschte Lösung zu erreichen“ (S. 335f.).

 

Völlig aus dem Rahmen des Erwartbaren fällt der gleichfalls dargestellte, wohl einzigartige Fall des wallonischen Bergwerksingenieurs Gérard Fauville, der vom Kammergericht Berlin wegen Feindbegünstigung zur gesetzlich zulässigen Mindeststrafe von zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, was den dortigen Generalstaatsanwalt, der über seinen Sitzungsvertreter die Todesstrafe gefordert hatte, zur Anregung des außerordentlichen Einspruchs veranlasste. Der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof schloss sich dessen Beurteilung vollinhaltlich an, doch das folgende Verfahren vor dem Besonderen Senat endete, nachdem Fauville „auf uns einen guten Eindruck gemacht (hat)“ und man „zu der Überzeugung gekommen [war], dass es unwahrscheinlich ist, dass Fauville, wie die Anklage ihm vorwirft, gehetzt hat“ (S. 427f.), mit einem angesichts der üblichen Praxis kaum nachvollziehbaren Freispruch. Erklärungen für diese unerwartete Milde kann auch der Verfasser nicht anbieten. Er hält jedoch allgemein zum eigenwilligen Stil der Urteile Freislers fest, dass es diesen „sowohl an juristischer Argumentation wie auch an einer Subsumtion unter die angewandten Vorschriften (mangelte), […] eine Unterteilung der Urteilsgründe […] unterblieb“, ebenso wie „Ausführungen zu rechtlichen Fragen, zu denen die vorherigen Instanzen Stellung bezogen […] hatten“ (S. 430).

 

Im Anhang II des Buches verzeichnet der Verfasser die durch den außerordentlichen Einspruch in Gang gesetzten, insgesamt 21 bekannten Verfahren des Besonderen Strafsenats des Reichsgerichts und die gezählten 92 Prozesse des Besonderen Senats des Volksgerichtshofs nummeriert in zwei Tabellen. Sofern bekannt, geben diese Auskunft über die Aktenzeichen des jeweiligen Gerichts und der Oberreichsanwaltschaft, den Termin der Hauptverhandlung, die Mitglieder des Senats, den Sitzungsvertreter des Oberreichsanwalts, die Angeklagten mit Namen, Beruf und Wohnort, die Bezeichnung der Vorinstanz und deren Entscheidung, die behandelten Delikte, den Einspruch (zu Lasten/zu Gunsten), die Entscheidung des Senats, die Vollstreckung und die Quellenangabe. Jene Verfahren, die in der bisherigen Literatur noch keine Beachtung gefunden haben, werden in der Studie zudem einzeln einer näheren Betrachtung unterzogen. In diesem Zusammenhang ist generell auf die für eine Dissertation ungewöhnlich gute Ausstattung des Bandes hinzuweisen, der eine Inhaltsübersicht, ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, ein sechs Druckseiten starkes Abkürzungsverzeichnis, Übersichten der archivalischen Quellen, Internetquellen und der einschlägigen Fachliteratur, ein Personenverzeichnis, eine Auflistung der zehn Tabellen und acht Diagramme sowie mehrere Auszüge themenrelevanter Gesetzestexte (Anhang I) bereithält.

 

Man muss dem Verfasser, Cornelius Broichmann, zustimmen, wenn er, wie so oft behauptet, meint, mit seiner mit stolzen 1.849 Fußnoten - davon viele mit erläuterndem Inhalt - belegten Untersuchung der „Schließung einer Forschungslücke“ (S. 39) zu dienen. In der Tat kann seine von Arnd Koch betreute Dissertation sowohl durch inhaltliche Qualität als auch im Großen und Ganzen mit formaler Sorgfalt überzeugen und trägt damit zweifellos dazu bei, unser Wissen um die nationalsozialistische Strafrechtspflege, speziell im Bereich der Besonderheiten des Strafverfahrensrechts und der höchstgerichtlichen Spruchpraxis, um ein weiteres Puzzleteilchen zu vervollständigen.

 

Kapfenberg                                                                            Werner Augustinovic