Broichmann, Cornelius, Der außerordentliche Einspruch im Dritten Reich. Urteilsaufhebung durch den „Führer“ Eine rechtshistorische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der strafverfahrensrechtlichen Reformbestrebungen im Dritten Reich und der höchstrichterlichen Rechtsprechungspraxis des Besonderen Strafsenats beim Reichsgericht sowie des Besonderen Senats beim Volksgerichtshof (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte 11). Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014. 523 S., Tab., zugleich Diss. jur. Augsburg 2013. Besprochen von Werner Schubert.

 

Unter dem 16. 9. 1939 wurde das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs erlassen, das es der nationalsozialistischen Staatsführung ermöglichte, gegen rechtskräftige Urteile in Strafsachen durch den jeweiligen Oberreichsanwalt beim Reichsgericht bzw. beim Volksgerichtshof (VGH) Einspruch zu erheben, „wenn er wegen schwerwiegender Bedenken gegen die Richtigkeit des Urteils eine neue Verhandlung und Entscheidung in der Sache für notwendig hält“. Über den Einspruch hatte der Besondere Senat des Reichsgerichts bzw. des Volksgerichtshofs zu entscheiden. Nach den Juristen des Reichsjustizministeriums (RJM) stellte der außerordentliche Einspruch ein „Werkzeug in der Hand des Führers zur Wahrung des Rechts“ dar (S. 27) und ermöglichte insbesondere eine Verschärfung von als zu milde angesehenen Strafen bis hin zur Verurteilung zum Tod. Aus der Einleitung (S. 27-45), in der Broichmann u. a. über den Forschungsstand berichtet, ergibt sich, dass bislang eine umfassende Untersuchung über den außerordentlichen Einspruch und insbesondere über die Praxis der Besonderen Senate nicht vorliegt. Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich Broichmann dieser Thematik unter Auswertung insbesondere der Bestände des Bundesarchivs Berlin angenommen hat.

 

In Kapitel 1: „Reform, Rechtskraft und Rechtsbehelf“ (S. 47-126) geht Broichmann zunächst auf die angestrebte Reform des Strafverfahrensrechts ein (Aufweichung von Rechtskraft und des ne bis in idem-Grundsatzes, System der Rechtsmittel und Rechtsbehelfe in der Strafprozessreform insbesondere im StPO-Entwurf von 1936, in den Denkschriften des NS-Rechtswahrerbundes und der Akademie für Deutsches Recht von 1937 sowie im StPO-Entwurf von 1939, der auch eine „Auflockerung“ des Revisions- (im Entwurf Rüge-)Rechts sowie eine Ausweitung der Wiederaufnahme vorsah. In Kapitel 2 behandelt Broichmann die „staatsrechtlichen Grundlagen und Schranken des außerordentlichen Einspruchs“ (S. 127-139). Ausführlich geht Broichmann auf die richterliche Unabhängigkeit in Zusammenhang mit dem außerordentlichen Einspruch ein und stellt fest, dass dem Nationalsozialismus daran gelegen gewesen sei, „den Schein rechtsstaatlicher Elemente in einem rechtsgelösten Unrechtssystem aufrechtzuerhalten“, wozu auch die „Beibehaltung einer vermeintlich unabhängigen Entscheidungskompetenz der Gerichte“ gehörte (S. 184), vermeintlich deshalb, weil die außerordentlichen Senate grundsätzlich mit regimetreuen Richtern besetzt waren. Allerdings war eine auch nur „mittelbare Bindung der Senate an den außerordentlichen Einspruch“ abzulehnen (S. 185ff.).

 

In Kapitel 3: „Gesetzgebungsgeschichte, Reformbemühungen, Rechtsgrundlage und Verfahren“ (S. 195-344) geht es um die Grundlagen und die Entstehung des genannten Gesetzes vom 16. 6. 1939, das zu wesentlichen Teilen auf den Vorarbeiten der Großen Strafprozesskommission des Reichsjustizministeriums beruht (§§ 373 ff. des Entwurfs von 1938). Die Frage nach einem „außerordentlichen Rechtsbehelf“ hatte sich für die Kommission gestellt, da von Seiten des NSRB gefordert wurde, für die Korrektur „ungerechter Urteile eine politische Stelle zur Wiedergutmachung eines offenbaren Unrechts einzurichten“ (S. 204), was Freisler scharf ablehnte (S. 205ff.). Die detaillierten Vorschläge der Sachbearbeiter des Reichsjustizministeriums und von Niethammer (RG-Rat a. D.) stießen bei Kohlhaas auf Ablehnung, während Niethammer seine insgesamt restriktiven Vorschläge – sie beruhten auf einem Auftrag des Reichsjustizministers – selbst äußerst skeptisch beurteilte (S. 210ff.). Anlass für den Erlass des Gesetzes vom 16. 9. 1939 war der „Fall Kompalla“ (S. 223ff.), der dazu führte, dass das Gesetz in Erweiterung der Vorschläge der Kommission auch einen außerordentlichen Einspruch gegen Urteile der Oberlandesgerichte und des Volksgerichtshofs sowie die Einrichtung eines Sondersenats des Reichskriegsgerichts vorsah. Auf den Seiten 235ff. befasst sich Broichmann mit dem Inhalt des Gesetzes vom September 1939, und zwar mit dessen Systematik, den Tatbestandsvoraussetzungen sowie dem Hauptverfahren unter detaillierter Berücksichtigung der Beratungen in der Großen Strafprozesskommission (S. 235ff.). Hitler selbst war nur zweimal an der Einspruchseinlegung beteiligt (S. 223ff.; S. 270ff., Fall „Schlitt“). Anregungen auf Einlegung des außerordentlichen Einspruchs hatten nur in den „seltensten Fällen“ Erfolg (S. 274ff.). Das Kapitel 3 wird abgeschlossen mit einem Abschnitt über die „Abgrenzung von anderen Rechtsinstituten“ (S. 315ff.; ua. Nichtigkeitsbeschwerde, ordentliches Wiederaufnahmeverfahren, Gnadenrecht, Niederschlagungsrecht, Aufhebungsrecht nach einem Führerbefehl vom 6. 1. 1942).

 

Die Nichtigkeitsbeschwerde wurde weitgehend nach den Vorschlägen der Großen Strafprozesskommission durch die Zuständigkeitsverordnung vom 21. 2. 1940 geschaffen und 1942 in ihrem Anwendungsbereich erweitert. Sie war veranlasst, wenn „die Entscheidung wegen eines Fehlers bei der Anwendung des Rechts ungerecht ist oder … erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der in der Entscheidung festgestellten Tatsachen oder gegen den Strafausspruch bestehen“ (Art. 7 § 2 Abs. 1 der zweiten Vereinfachungsverordnung von 1942). Ein von Schlegelberger angeregtes Bestätigungsrecht des Reichsjustizministers zum Zweck der Korrektur des Strafmaßes blieb dem Reichsjustizministerium versagt (S. 341ff.).

 

In Kapitel 4 wertet Broichmann die Rechtsprechungspraxis der Besonderen Senate aus (S. 345-434). Für den reichsgerichtlichen Senat konnten 21, für den Senat des VGH 92 Verfahren nachgewiesen werden (S. 485ff., 497ff. auch tabellarisch aufbereitet). Schwerpunktmäßig fanden die Verfahren vor dem reichsgerichtlichen Besonderen Senat von 1940 bis 1942 statt; für die Zeit danach bildete wohl die Nichtigkeitsbeschwerde gegenüber dem „aufwändigen Einspruchsverfahren die zweckmäßige Alternative“ (S. 327). Ausgewertet im Einzelnen wurden nur die Verfahren, die von anderen Autoren noch nicht behandelt worden sind (S. 361ff., 389ff.). Der RG-Senat verurteilte in 75% der Fälle zum Tode oder zu einer Zuchthausstrafe für einen Zeitraum von mehr als fünf Jahren, der Besondere Senat des Volksgerichtshofs in 75% der Fälle zum Tode. Bei beiden Senaten kann man von „gnadenlosen Spruchpraktiken“ (S. 431) sprechen, wobei die Verurteilungsquote des Senats des Volksgerichtshofs noch gnadenloser war als diejenige des Reichsgerichts. Insgesamt war der außerordentliche Einspruch zu keiner Zeit ein Mittel, „das für ein höheres Maß an Gerechtigkeit sorgte“ (S. 438). Das Werk wird abgeschlossen mit der Wiedergabe der einschlägigen Gesetzestexte und Entwurfstexte, mit einem Personenverzeichnis und den Tabellen über alle bekannt gewordenen Verfahren vor den Besonderen Senaten.

 

Mit dem Werk Broichmanns liegt erstmals eine umfassende Darstellung über den außerordentlichen Einspruch und über die Praxis der für diesen zuständigen Besonderen Senate des Reichsgerichts und des Volksgerichtshofs vor. Allerdings wird die Geduld des Lesers etwas strapaziert, da Broichmann erst auf den Seiten 210ff., 240ff. auf die Details des außerordentlichen Einspruchs eingeht. Da ab 1942/1943 die Nichtigkeitsbeschwerde den außerordentlichen Einspruch vor dem Reichsgericht erheblich zurückdrängte, wären zumindest einige Hinweise darauf von Interesse gewesen, wie die Praxis dieses Rechtsmittels aussah, auch wenn eine Detailuntersuchung wegen der Vielzahl der überlieferten Verfahren (vgl. S. 326 Fn. 1418) nicht möglich war. Insgesamt liegt mit dem Werk Broichmanns ein Grundlagenwerk zur Strafrechtsgeschichte unter dem Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs vor, das eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Strafrechtspflege umfassend erschließt.

 

Kiel

Werner Schubert