Broichmann, Cornelius, Der außerordentliche Einspruch im Dritten Reich. Urteilsaufhebung durch den „Führer“ Eine rechtshistorische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der strafverfahrensrechtlichen Reformbestrebungen im Dritten Reich und der höchstrichterlichen Rechtsprechungspraxis des Besonderen Strafsenats beim Reichsgericht sowie des Besonderen Senats beim Volksgerichtshof (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte 11). Erich Schmidt Verlag, Berlin 2014. 523 S., Tab., zugleich Diss. jur. Augsburg 2013. Besprochen von Gerhard Köbler.
Seit der Mensch das Recht entwickelt hat, gibt es neben zahlreichen anderen Möglichkeiten auch die Alternative von Recht und Unrecht. In kaum vorstellbarem Maße werden sie ständig verwirklicht und Menschen von Mitmenschen nicht nur gesichert und gefördert oder im häufigsten Fall schlicht übersehen, sondern auch geschädigt, geschunden und getötet. Als eine besonders perfide Weise mitmenschlichen Verhaltens wird in diesem Zusammenhang der außerordentliche Einspruch im Dritten Reich angesehen, der in Abkehr vom rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtskraft eines Urteils am Ende eines Instanzenzugs oder eines Fristablaufs die Urteilsaufhebung durch den „Führer“ während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft des von den Wählern mit ausreichender Mehrheit mittels des Reichskanzlers des Deutschen Reiches von 1933 bis zu seiner Selbsttötung am 30. April 1945 an die Macht gebrachten Adolf Hitler ermöglichte.
Mit diesem außerordentlichen Einspruch befasst sich in bisher nicht erreichter Breite und Tiefe die vorliegende, von Arnd Koch betreute und im Wintersemester 2012/2013 von der juristischen Fakultät der Universität Augsburg angenommene Dissertation des Verfassers, die auch die beiden kürzeren Bonner bzw. Münchener Dissertationen Heinrich Schaettes von 1942 und Günther Hans Ossmanns von 1952 angemessen erörtert. Sie gliedert sich nach einer Einleitung in insgesamt vier Kapitel. Sie betreffen Reform, Rechtskraft und Rechtsbehelf, staatsrechtliche Grundlagen und Schranken des außerordentlichen Einspruchs, Gesetzgebungsgeschichte, Reformbemühungen, Rechtsgrundlage und Verfahren sowie die Rechtsprechungspraxis der beiden Besonderen Senate.
Da sie bereits von zwei vorzüglichen Sachkennern ausführlich besprochen worden ist, genügen an dieser Stelle einige wenige zusätzliche allgemeinere Hinweise auf Ausführungen des Verfassers. Zu ihnen lässt sich etwa zählen, dass bereits 1929 das Grundgesetz des Vatikans dem Staatsoberhaupt die Befugnis zusprach, in jeder Zivilsache oder Strafsache und in jedem Stadium des Verfahrens die Untersuchung und die Entscheidung einer speziellen Instanz zu übertragen, auch mit der Berechtigung, die Entscheidung nach Billigkeit und unter Ausschluss jedweden weiteren Rechtsmittels zu fällen, dass Adolf Hitler selbst den außerordentlichen Einspruch außer in dem den Anlass für das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtstrafverfahrens und des Strafgesetzbuchs vom 16. September 1939 bildenden Fall der Brüder Kompalla, in dem das Reichskriegsgericht den Kanonier Paul Kompalla am 27. Januar 1939 wegen Landesverrats zum Tode und der Volksgerichtshof am 22. März 1933 den nicht dem Militär angehörenden Bruder Ludwig Kompalla auf der Basis einer abweichenden Tatsachenfeststellung nur wegen Beihilfe zum Unternehmen der Ausspähung zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, nur in dem einzigen Fall des während fünfjähriger Ehe seine Frau bis zur Geistesstörung misshandelnden und schließlich körperlich schwer verletzenden, vom Landgericht Oldenburg am 14. März 1942 wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge zu (in Hitlers Augen nur) 5 Jahren Zuchthaus verurteilten Wilhelmshavener Bautechnikers verlangte, dass viele nationalsozialistische Handelnde von der Notwendigkeit und Gerechtigkeit ihres Handelns anscheinend zumindest verbal völlig überzeugt waren, dass hinsichtlich des außerordentlichen Einspruchs auch Verfahren einbezogen wurden, die ohne Anwendung oder Hinzuziehung typischer Tatbestände nationalsozialistischen Maßnahme- oder Täterstrafrechts auskamen und dass allein in der Zeit zwischen dem Erlass des Gesetzes am 16. September 1939 und dem 31. Dezember 1939 in mindestens 112 Fällen Verurteilte (davon in 28 Fällen mit Unterstützung von Verteidigern) die Erhebung eines außerordentlichen Einspruchs anregten. Dessenungeachtet war der außerordentliche Einspruch eine strafverfahrenstheoretisch geplante, praktisch zweifelhafte, jedenfalls rechtsstaatlich rückschrittliche Maßnahme, um deren Erforschung der Verfasser sich mit seiner erkennbar ergebnisorientierten, gleichwohl überzeugenden, auch eine Personenübersicht von van Ackern bis Zens und eine angehängte tabellarische Übersicht über die 21 Verfahren vor dem Besonderen Strafsenat des Reichsgerichts und 92 Verfahren vor dem Besonderen Senat des Volksgerichtshofs (an anderer Stelle insgesamt „125“ Fälle) bietenden Leistung sehr verdient gemacht hat, auch wenn durch die damit gewonnenen neuen, eine auffällige Forschungslücke schließenden Erkenntnisse weder das tatsächlich begangene Unrecht einzelner rechtswidriger Täter nachträglich beseitigt werden kann noch vermutlich künftiges Unrecht vieler anderer Menschen erkennbar verringert werden können wird.
Innsbruck Gerhard Köbler