Becker, Maximilian, Mitstreiter im Volkstumskampf. Deutsche Justiz in den eingegliederten Ostgebieten 1939-1945 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 101). Oldenbourg, München 2014. VIII, 343 S., Kart. Tab. Besprochen von Werner Schubert.

 

Beckers Werk ist einer „politischen Institutionengeschichte“ verpflichtet (S. 12), die „den Apparat und die Tätigkeit der Justiz in den eingegliederten Ostgebieten“ (OLG-Bezirke Posen, Danzig, Kattowitz [ab 1. 4. 1941] und Königsberg (LG-Bezirk Zichenau) aus „ihrer Perspektive in den Blick nimmt“ (S. 12). Dabei ist es das Ziel der Studie, „den Anteil, den die Justiz an der Besatzungspolitik und vor allem an der Germanisierung hatte“, näher zu bestimmen (S. 12). In einem ersten Abschnitt geht es um den „Besatzungskontext: Ausbeutung, Massenverbrechen und Germanisierung“ (S. 19-40), um die Besatzungsherrschaft in Polen, die gekennzeichnet war durch Enteignungen, Vertreibungen, Massenverbrechen an der jüdischen und polnischen Bevölkerung sowie durch die Ansiedlung von rund 500.000 „Volksdeutschen“ sowie die Erfassung der einheimischen Deutschen in der deutschen Volksliste. Die Organisation der „Annexionsjustiz“ (S. 41-69) war erst im Herbst 1940 weitgehend abgeschlossen (150 Amts-, 17 Land- und 13 Sondergerichte). Die OLG-Präsidenten und Generalstaatsanwälte unterstanden nicht nur dem Reichsjustizminister, sondern auch den Reichsstatthaltern (Gauleitern), die über ein „politisches Weisungsrecht“ verfügten (S. 69), wenn auch die Richter als solche weisungsfrei blieben (S. 68f.). Die Rechtsprechung in den eingegliederten Ostgebieten unterlag nicht der Überprüfung durch das Reichsgericht (S. 69). Die Personalpolitik wurde vornehmlich am Beispiel der Richter, Staatsanwälte und Amtsanwälte (fast 90% von ihnen waren Mitglied der NSDAP) am Gerichtsort Posen untersucht (S. 74 ff.).

 

Die Zivilgerichtsbarkeit (S. 105-140) hatte gegenüber der Strafgerichtsbarkeit nur einen untergeordneten Stellenwert (S. 136). Neben der Anerkennung polnischer Entscheidungen aus der Zwischenkriegszeit ging es vor allem um Vermögensbeschlagnahmen, um die Scheidung deutsch-polnischer Mischehen  nach dem Muster deutsch-jüdischer Mischehen (S. 139), um Mietrechtsstreitigkeiten und um die Entziehung des Sorgerechts zum Zweck der Germanisierung „rassisch wertvoller“ Kinder (S. 132ff.). Insgesamt war das deutsche Zivilrecht in den eingegliederten Ostgebieten ein reines Privilegienrecht für Deutsche (S. 138).

 

Klagen von Polen gegen Deutsche waren zwar nicht unzulässig, konnten aber „im Interesse des Reiches“ ausgesetzt werden (S. 138). Im Abschnitt „Polizei und Justiz: Kooperation und Kompetenzeinbrüche“ (S.141-164) behandelt Becker außer den Standgerichtsbarkeiten die enge Zusammenarbeit zwischen der Justiz und der Polizei in der Strafverfolgung und im Strafvollzug (S. 149ff., 155ff.). Mit Recht weist Becker darauf hin, dass „sowohl Justiz als auch Polizei Teil des Normen- und Maßnahmenstaates waren und als Mittler zwischen beiden Sphären fungierten“. Das „schablonenhafte Verständnis“ von Fraenkels Modell, „das eine permanente Gegnerschaft von Justiz und Polizei annimmt, die Gerichte häufig als ,Hüter des Normenstaates‘ wahrnimmt und das häufig in der Forschung anzutreffen ist“, führe „in die Irre, indem es einerseits die Rolle der Justiz bei der Demontage des Rechtsstaats unterschlägt, andererseits aber auch die Polizei zu einer reinen Willkürmacht abstempelt und so von der Kooperation zwischen beiden Verfolgungsorganen ablenkt“ (S. 163f.). Die Strafverfolgung (S. 165-213) war bestimmt durch die rassistische Ungleichbehandlung und durch die nur „sinngemäße Anwendung“ deutscher Normen, durch die Aufhebung des Verfolgungszwangs sowie – wie bereits im Altreich – durch die Lenkung der Rechtsprechung (S. 163ff.). Drakonische Strafen wurden verhängt für die Bromberger „Septembermorde“, für Gewalttaten gegen Deutsche, bei Eigentumsdelikten und „angeblichen Widerstandshandlungen“, während Übergriffe Deutscher auf Leben und Eigentum von Polen milde bestraft bzw. nur selten verfolgt wurden (S. 212). Der überwiegende Teil der Strafgerichtsbarkeit oblag nicht den Sondergerichten, sondern den Amtsgerichten, die allerdings keine Todesurteile aussprechen konnten (S. 183). Trotz der zahlreichen Todesurteile (ca. 5.000, von denen über 90% vollstreckt wurden; S. 182), war nach Becker die Justiz der eingegliederten Ostgebiete „keine reine ,Blutjustiz‘“. Wie im Altreich seien die meisten Angeklagten (Polen, Juden, Deutsche) zu Haftstrafen verurteilt worden; die Freispruchquote sei dabei erstaunlich hoch gewesen (S. 295).

 

Nach einem Abschnitt über die Strafvollstreckungen und den Strafvollzug (S. 215-250) befasst sich Becker noch mit der Evakuierung der Justizbehörden und Haftanstalten ab dem Sommer 1944 (S. 251ff.) und mit den Ermittlungen und Karrieren von Juristen aus den eingegliederten Gebieten nach 1945 (S. 263ff.; von den 1162 Justizjuristen kamen 482 in der westdeutschen Justiz unter; S. 273f. zu den Ermittlungen in Polen). In dem Abschnitt: „Die Annexionsjustiz im Vergleich“ (S. 275-290) befasst sich Becker auch mit der sowjetischen Justiz in Ostpolen zwischen 1939 und 1941 (S. 285ff.), wo wie in der Sowjetunion kein „rassistisches Sonderrecht“ bestand. Als Ergebnis hält Becker fest, „dass die Instrumentalisierung der Justiz für die gesellschaftliche Umwälzung zu den Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und Kommunismus zählt“ (S. 289). Im Schlussteil fasst Becker die Ergebnisse seiner Untersuchungen präzise zusammen (S. 291ff.). Hinsichtlich der Rolle der Justiz im „Dritten Reich“ (S. 299ff.) lässt sich anhand der Untersuchungen Beckers beobachten, dass die „Kernfunktion gerichtlicher Entscheidungen zwar erhalten blieb, diese jedoch der „Legitimierung politischen Handelns“ diente, da Gerichtsurteilen „der Ruf von Objektivität, Unparteilichkeit und der Gebundenheit an Recht und Gesetz, mithin von Rechtsstaatlichkeit, vorauseilt“ (S. 300). Gleichzeitig war die Integration der Juristen in den Ostgebieten in die NS-Herrschaft weiter fortgeschritten als in den überkommenen Oberlandesgerichtsbezirken. Das Werk Beckers, das auch die polnische Literatur berücksichtigt, ist – unter Einbeziehung der Umgestaltung des Rechtswesens seit 1933 – im Wesentlichen eine Geschichte der Justiz in den OLG-Bezirken der eingegliederten Ostgebiete, das insoweit das Bild, das sich aus den bisher vorliegenden Arbeiten zu den OLG-Bezirken des „Altreichs“ ergibt, wesentlich erweitert. Es ist zu wünschen, dass im Anschluss an das grundlegende Werk Beckers weitere Arbeiten über die Oberlandesgerichte Posen und Danzig mit stärkerer Berücksichtigung der Richter- und Staatsanwaltsbiografien sowie der Urteilspraxis im Einzelnen in Angriff genommen werden.

 

Kiel

Werner Schubert