Avenarius, Martin, Fremde Traditionen des römischen Rechts. Einfluss, Wahrnehmung und Argument des „rimskoe pravo“ im russischen Zarenreich des 19. Jahrhunderts. Wallstein, Göttingen 2014. 776 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Dass das römische Recht weltweiten Einfluss während zweier Jahrtausende hatte, ist allgemein bekannt, wenngleich es eines Tages von dem amerikanischen Recht an Bedeutung noch einmal übertroffen werden könnte. Dass davon auch Russland in bedeutsamer Weise betroffen sein könnte, ist demgegenüber weniger bewusst, weil Russland insgesamt bis zum Ende des 18. Jahrhundert eher als zivilisatorisch und kulturell wenig fortschrittlich und vorbildlich eingestuft wird. Umso erfreulicher ist es, dass der Verfasser sich dieser Frage grundsätzlich angenommen und dabei auf der Grundlage langjähriger intensiver, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft nachhaltig geförderter Betrachtung zu wichtigen neuen Erkenntnissen gelangt ist.

 

Gegliedert ist seine gewichtige, ein Schrifttumsverzeichnis von 100 Seiten aufweisende Abschlusspublikation des Projekts römische Rechtstradition und Zivilrechtswissenschaft in Russland vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1922 in insgesamt 20 Kapitel. Sie betreffen eine Einführung unter dem Gesichtspunkt römisches Recht als Recht schlechthin, Voraussetzungen und methodische Grundlagen, den Stand der Forschung, den Umgang mit der Rezeptionsbegrifflichkeit, das russische Privatrecht in tradierten Normen, Reformprojekten und Lehre bis zu dem Anfang des 19. Jahrhunderts, die Arbeiten am Svod Zakonov, die Entwicklung von der Konsolidierung des russischen Rechtes bis zur Professionalisierung der Juristen am römischen Recht, das Verhältnis von römischem Recht und Grundlagenfächern, die Anfänge einer eigenständigen wissenschaftlichen Bearbeitung des Zivilrechts (vor allem in der Person Dmitrij Mejers), das römische Recht im kultur- und gesellschaftskritischen Schrifttum, die Gerichtsreformen von 1864, die Reform des Rechtsstudiums von 1884/1885 und den anschließenden Aufschwung des römischen Rechtes im Universitätsunterreicht, die Kontroverse um die Bedeutung des römischen Rechtes unter besonderer Berücksichtigung Jherings, die Rechtsanwendung und Rechtsfortbildung durch die Kassationsabteilung des dirigierenden Senats, die Kodifikationsarbeiten an der Wende zum 20. Jahrhundert (Schuldrecht, Sachenrecht, Erbrecht), das Ringen der Juristen um Rechtsstaatlichkeit, das römische Rechtsdenken nach der Revolution und das moderne Recht der russischen Föderation nach dem Systemwechsel von 1989/1991. Zusammengefasst werden die vielfältigen neuen Erkenntnisse in sechs Seiten Schlussbetrachtungen.

 

Insgesamt erarbeitet der Verfasser dabei eine wesentlich neue Sicht der neuzeitlichen Wirkungsgeschichte des römischen Rechtes in Russland. Sie geht davon aus, dass die formale Nichtgeltung des römischen Rechtes in Russland nicht gleichbedeutend ist mit Nichtrezeption des römischen Rechtes. Dementsprechend wirkte sich der Einfluss des römischen Rechtes in Russland keineswegs nur in privatrechtlichen Einzelfragen aus.

 

Das hatte insgesamt zur Folge, dass Russland in der Gegenwart mit den Privatrechtseinrichtungen den Anschluss an die römisch-westeuropäische Tradition weitgehend verwirklicht hat. Allerdings bestehen nach wie vor gewichtige Unterschiede etwa bezüglich des subjektiven Rechtes und des effektiven Rechtsschutzes. In diesem Rahmen wird die umsichtige und überzeugende, am Ende in Zuversicht mündende Untersuchung des Verfassers für jegliche Befassung mit der Rechtsgeschichte des weltpolitisch nach wie vor äußerst wichtigen Russland unabdingbare Grundlage sein können und müssen.

 

Innsbruck                                                                                          Gerhard Köbler