Appel, Kolja, Der Strafrechtler und Strafrechtsreformer Wilhelm Kahl (1849-1932). „Die Wissenschaft kann rücksichtlsos aus den als wahr erkannten Prinzipien die letzten Folgerungen ziehen. Der Gesetzgeber nicht.“ (= Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte 12). Erich Schmidt, Berlin 2014. L, 381 S. Besprochen von Werner Schubert.
Über Wilhelm Kahl, 1895-1921 Inhaber eines Lehrstuhls u. a. für Straf- und Strafprozessrecht an der Berliner Universität und von 1919 bis zu seinem Tod 1932 Mitglied des Reichstags für die DVP sowie von 1927 bis 1932 Vorsitzender der Strafrechtsausschüsse des Reichstags, liegen bereits zwei Arbeiten vor. Klaus Achenbach hat sich in seiner Dissertation von 1972: „Recht, Staat und Kirche bei Wilhelm Kahl“ mit den kirchenrechtlichen Veröffentlichungen und Stefan Burghard in seinem Werk: „Prof. Dr. Wilhelm Kahl – Leben zwischen Wissenschaft und Politik“ mit der politischen Tätigkeit Kahls befasst. Eine detaillierte Untersuchung über die strafrechtlichen Arbeiten Kahls und dessen Beteiligung an der Strafrechtsreform in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lag bisher nicht vor, so dass es zu begrüßen ist, dass Appel sich dieser Thematik in seiner unter Jan Zopfs entstandenen Mainzer Dissertation angenommen hat. Nach einem knappen „Eingang in das Thema“ (S. 1-3) befasst sich Appel mit der Biografie Kahls (S. 5-51), der 1871 im Spiegelsaal zu Versailles die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm zum Deutschen Kaiser persönlich miterlebte. Der biografische Abschnitt wird abgeschlossen mit der Aufstellung von sieben Thesen über Kahl und sein Wirken mit Bezug auf das Strafrecht (S. 51-60). Im umfangreichen 3. Kapitel (S. 61-285) beschäftigt sich Appel mit Kahls Beiträgen zur Strafrechtsreform, zu der dieser erstmals in einem vielbeachteten Aufsatz in der DJZ 1902, S. 301-303 Stellung nahm. Nach einem Abschnitt über die Reformbedürftigkeit des Reichsstrafgesetzbuchs (S. 61ff.) geht Appel auf die Stellung Kahls zum strafrechtlichen Schulenstreit ein (S. 80ff.) und bespricht anschließend die „Reformziele der Reform“ (S. 118ff.) im Hinblick auf Kahls Referate auf dem Deutschen Juristentag von 1902 und von 1906. In einem eigenen Abschnitt behandelt Appel die Stellung Kahls zur Rechtsfigur der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ (S. 151ff.; DJT 1904, Beiträge im Sammelwerk „Vergleichende Darstellung des Deutschen und Ausländischen Strafrechts“ und von 1910 und 1913) und weitere Abhandlungen. Es folgen Abschnitte über Kahls Arbeiten über „Grenzgebiete zwischen Strafrecht und Medizin“ (S. 178), über die Reform des Strafprozesses (S. 194ff.) und über die Entwürfe zu einem neuen StGB von 1909, 1911, 1913/19, 1922, 1925, 1927 und 1930 (S. 197-269). In einem eigenen Abschnitt stellt Appel Kahls Einsatz für ein gemeinsames Strafrecht für Deutschland und Österreich heraus (S. 269-285). Zwei weitere Kapitel beschäftigen sich mit den „Verbindungslinien zwischen Religion und Strafrecht im Werk Kahls“ (S. 287-322) und mit Kahls Ansichten zur Todesstrafe (S. 323-355). Im 6. Kapitel (S. 357-377) formuliert Appel die Ergebnisse zu den von ihm aufgestellten „Thesen über Kahl und sein Wirken zum Strafrecht“.
Wie Appel im Einzelnen herausarbeitet, lassen die strafrechtswissenschaftlichen Leistungen Kahls in mehreren Bereichen seine Originalität als Strafrechtsreformer hervortreten (anders noch der Rezensent in: Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, I, Bd. 3.1, 1995, S. XI), und zwar bei der Behandlung „konkreter strafrechtlicher Themen“ (S 281). 1906 forderte Kahl eine klare Unterscheidung zwischen der Strafe und der praktischen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung, eine Frage, mit der sich noch 2009 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg beschäftigte. Hinzuweisen ist ferner auf Kahls Vorschläge zur „verminderten Zurechnungsfähigkeit“, zur Strafmilderung, zur Strafzumessung, zur Bestrafung des fahrlässigen Falscheides und zu den Religionsdelikten, als deren Schutzgut Kahl den „öffentlichen Frieden“ herausstellte (S. 320). Der ärztlichen Operation fehlte nach Kahl „,jede innere Korrelation zur Körperverletzung‘“ (S. 361). In dem von ihm mitgetragenen Gegenentwurf von 1911 zum Vorentwurf eines neuen Strafgesetzbuchs von 1909 war eine Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen volljährigen Personen nicht mehr vorgesehen. Entsprechend dem Zitat im Untertitel des vorliegenden Werks lehnte Kahl „für den Rechtswissenschaftler Denkverbote“ ab, forderte aber gleichzeitig „Selbstbeschränkung im Rahmen rechtspolitischer Tätigkeit“ (S. 282). Hinsichtlich des Schulenstreits war Kahl ein gemäßigter Vertreter der klassischen Strafrechtsschule und trat „für ein Nebeneinander von Vergeltung, Abschreckung, Besserung und Sicherung“ (S. 367) ein. Diese Position vertrat Kahl auch im strafrechtlichen Reichstagsausschuss, in dem er 1928/1929 für die Abschaffung der Todesstrafe unter der Voraussetzung votierte, dass gleichzeitig ein „,ernsthafter Apparat von Sicherungsmaßregeln eingebaut werde‘“ (S. 354). Abgelehnt wird mit Recht die Ansicht Spendels, dass mit dem Verzicht auf die Entscheidung über den Schulenstreit eine der Ursachen des Scheiterns der Strafrechtsreform zu sehen sei (S. 235ff., 264, 367). Kahls religöse Überzeugung zeigte sich in seiner „konservativen Grundeinstellung“ (S. 369ff.) als „Ursache für ein ,Festhalten‘ an der Vergeltungsstrafe“, was allerdings dahin zu modifizieren ist, dass Kahl gleichzeitig die „,Heilung‘“ und Sicherung von Straftätern befürwortete (S. 371). In einem reformierten Strafgesetzbuch sah er angesichts der prekären Lage der Weimarer Republik einen wichtigen „Baustein für den Zusammenhalt des Staates und seiner Bevölkerung“ (S. 375), sowie für eine Rechtseinheit mit Österreich (S. 269ff.).
Insgesamt hat Appel Kahls Beiträge zur Strafrechtsreform zwischen 1902 und 1932 aus rechtswissenschaftlicher und aus rechtspolitischer Sicht anhand sämtlicher zugänglicher Materialien detailliert erschlossen. Die von ihm aufgestellten Thesen über Kahl und dessen Wirken mit Bezug zum Strafrecht waren zur Fassung der Positionen Kahls zur Strafrechtsreform lohnend, wenn auch die Feingliederung der Untersuchungen nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen vermag. So wäre bei der Behandlung der rechtsdogmatischen Einzelfragen (vgl. S. 125ff.) eine stärkere Einbeziehung der Weimarer Strafrechtsreform und deren Folgewirkungen erwünscht gewesen. Im Literaturverzeichnis sind die Werke und Aufsätze Kahls alphabetisch nach ihren Titeln aufgeführt; hilfreicher wäre vielleicht eine chronologische Reihenfolge gewesen. Das Werk Appels verdeutlicht nicht nur die Bedeutung Kahls für die Strafrechtsreform der späten Kaiserzeit und der Weimarer Zeit, sondern auch deren grundlegende Bedeutung für die weitere strafrechtliche Entwicklung im 20. Jahrhundert.
Kiel |
Werner Schubert |