An Meine Völker! Der Erste Weltkrieg 1914–1918, hg. v. Rauchensteiner, Manfried. Amalthea, Wien 2014. 256 S. 381 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Noch bis zum 2. November des laufenden Jahres besteht die Möglichkeit, im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek in der Wiener Hofburg die Ausstellung „An Meine Völker! Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918“ zu besuchen. Ihr Kurator Manfried Rauchensteiner, langjähriger Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums (HGM) und unter anderem Verfasser eines jüngst neu überarbeiteten und auf über 1200 Druckseiten erweiterten, vom Rezensenten in der ZIER besprochenen Standardwerks zur Geschichte des Ersten Weltkriegs, zeichnet auch als Herausgeber des großformatigen, dreigegliederten Ausstellungskatalogs verantwortlich. „An Meine Völker!“ ist im Übrigen die Anredeformel, mit der sich der österreichische Monarch proklamatorisch an die Untertanen seines Vielvölkerreiches zu wenden pflegte.
Die Ausstellung zeigt eine repräsentative Auswahl aus der sogenannten „Kriegssammlung“ der Nationalbibliothek, die bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn mit dem Ziel angelegt wurde, das Kriegsgeschehen aufzunehmen und historisch zu dokumentieren. „Neben Zehntausenden Fotografien enthält die Sammlung unterschiedlichste Medien wie Plakate, Flugblätter, offizielle Kundmachungen, Postkarten, Noten, Kinderzeichnungen, Schulaufsätze, persönliche Erlebnisberichte u. a. m., die auf authentische Weise den Krieg an der Front und den Alltag im Hinterland dokumentieren“ (Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek, Vorwort S. 7).
Unter welchen Bedingungen die damalige k. k. Hofbibliothek erst unter Josef Ritter von Karabaček, später unter Josef Donabaum dieser Aufgabe gerecht wurde, schildert nach einer die Landmarken der historischen Ereignisse absteckenden Einleitung des Herausgebers der von Hans Petschar verfasste, erste Beitrag des Aufsatzteiles, der wiederum durch Gabriele Mauthes abschließende, allgemeine Betrachtungen zur Entwicklung dieser Bibliothek in den Wirren des Ersten Weltkriegs gleichsam eine thematische Rahmung erfährt. Weitere sechs Beiträge, die auf spezifisches, in der Sammlung präsentes Textsorten- sowie Medienmaterial eingehen, finden sich dort eingefügt: Christian Maryška handelt über Plakate, Zsuzsanna Brunner über ungarische Kundmachungen, Jan Mokre über Landkarten; Bernhard Fetz und Andreas Fingernagel präsentieren Material aus der Sammlung von Handschriften und alten Drucken sowie dem Literaturarchiv, darunter vor allem Ego-Dokumente wie Tagebücher und Briefe, während Thomas Leibnitz die Rolle der Musik sowie Herbert Mayer die Bedeutung der Esperanto-Bewegung analysieren. Alle diese Beiträge sind reich mit Bildmaterial ausgestattet.
Dem Aufsatzteil zu den Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek folgt der eigentliche Katalog, der die in 17 Stationen/Kapitel gegliederte Ausstellung an Hand einer jeweils kurzen Zusammenfassung ihrer jeweiligen Inhalte, der Beschreibungen aller und der fotografischen Dokumentation des Großteils der ausgestellten Stücke erfasst. Folgende Aspekte des Ersten Weltkriegs werden berührt: sein Nachwirken im kollektiven Gedächtnis Österreichs; Attentat und Julikrise 1914; die Begleiterscheinungen der Feldzüge gegen Serbien und Russland; die (wenigen) Erfolge und ihre Hervorhebung inklusive einem Exkurs „Kriegsanleiheplakate“; der „Erbfeind“ Italien; der alte Kaiser Franz Joseph; das Verhältnis Österreich-Ungarns zu Deutschland; Lager; Verwundete und Tote; der Thronwechsel 1916; Frauen; die Verwaltung des Mangels; die patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen; der Krieg als Schauspiel zwischen Information, Desinformation und Propaganda; die einsetzende Historisierung des Krieges; das „Völkermanifest“ Kaiser Karls vom 16. Oktober 1918; der Krieg der Bilder.
Zwölf literarische Texte im Umfang von je zwei bis drei Seiten zum Thema „Gedächtnisort Erster Weltkrieg“, verfasst von weiblichen und männlichen Autoren aus ausgewählten, der ehemaligen Donaumonarchie einst vollständig oder in Teilen zugehörigen Ländern (Österreich, Slowakei, Kroatien, Italien, Ungarn, Polen, Ukraine, Bosnien-Herzegowina, Tschechien, Slowenien, Rumänien, Serbien) und finanziert durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich, erinnern in individueller Weise an die einstige Vielfalt dieses gemeinsamen Raumes und vergegenwärtigen zugleich die Notwendigkeit der fortgesetzten kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, wenn etwa Dragan Velikić (Serbien) moniert: „Solange die Serben im Attentäter von Sarajevo ausschließlich einen Helden und Patrioten sehen und die Österreicher ausschließlich einen Mörder, sind wir noch weit entfernt von einem Versuch, die Gräben zu überwinden. Beide Seiten müssen eine gewisse Mühe aufwenden, um den breiteren Kontext zu verstehen. Ansonsten droht uns allen ein Erstarren im Paradigma der Vergangenheit“ (S. 253).
Die polychrome, in auffälligen Farben gehaltene Gestaltung des Covers – es dominiert ein der Zeitschrift „Der Humorist“ aus dem Jahr 1915 entnommenes, verfremdetes Porträtbild Franz Josephs – lehnt sich an die Pop-Art im Stil Andy Warhols an und verkörpert zudem (bewusst oder unbewusst) eine der Grundthesen des Herausgebers, der in seinen Werken stets die Rolle des österreichischen Kaisers als eines Hauptverantwortlichen für die Katastrophe des Ersten Weltkriegs hervorgehoben hat. Die Umschlagklappen sind innen mit zeitgenössischem Bildmaterial ausgestattet, vorne eine Aufnahme des bekannten, in Linz geborenen, dann in Kapfenberg ansässigen Flug-Fotopioniers Franz Pachleitner (1890–1980) aus dem Jahr 1914. Ob, wie in der begleitenden Bildunterschrift behauptet, tatsächlich am Beginn des Krieges „eine heute kaum mehr vorstellbare Begeisterung, die gleichermaßen Intellektuelle wie die einfache Bevölkerung erfasste“, stand, wird in jüngster Zeit vor allen in Hinblick auf die Haltung der belasteten, unterprivilegierten Bevölkerungsschichten zunehmend in Zweifel gezogen. Hier sollte man sich daher mit Pauschalurteilen, die möglicher Weise noch heute der seinerzeitigen medialen Kriegspropaganda aufsitzen, zurückhalten und entsprechende Detailforschungen abwarten. Es darf wohl vermutet werden, dass mit dieser Aussage vor allem dramaturgisch ein Kontrapunkt zum Text der hinteren Klappe gesetzt werden soll, der die Aufnahme eines zerstörten Soldatenfriedhofs aus dem Jahr 1918 mit den Worten kommentiert: „Am Ende stand die grausame Wirklichkeit des Krieges […]“.
Dessen ungeachtet animiert das Werk durch die Vielzahl seiner großformatigen, in vorzüglicher Qualität wiedergegebenen Druck- und Fotomaterialien nicht nur zum Besuch der Ausstellung, sondern überzeugt darüber hinaus durch die unmittelbare Wirkung der papierenen Exponate, die ein nunmehr ein Jahrhundert zurückliegendes Geschehen auf eindrückliche Weise visuell sinnlich erfahrbar machen. Allein „das Geräusch des Krieges“ – so Manfried Rauchensteiner (S. 23) – „bleibt […] ausgeblendet“.
Kapfenberg Werner Augustinovic