Thies, Jochen, Die Bismarcks. Eine deutsche Dynastie. Piper, München 2013. 428 S. 28 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Obwohl in der demokratischen Ordnung ihrer formalen Privilegien ledig, bilden namhafte Adelsgeschlechter weiterhin ein Faszinosum für viele Zeitgenossen. Der Zauber großer Namen scheint für die Vorstandsetagen bedeutender Unternehmen ebenso attraktiv zu sein wie für den stets nach Sensationen gierenden Boulevard.

 

Der in Ostpreußen geborene Journalist Jochen Thies bemüht sich, in seriöser Form das allgemeine Wissen um den preußischen Adel zu mehren. Mit dem Untertitel „Von Königgrätz nach Kreisau“ erschien 2010 seine Familiengeschichte der Moltkes, deren prominentester Vertreter, Helmuth von Moltke der Ältere, 30 Jahre lang, von 1858 bis 1888, in der Funktion des Generalstabschefs dem Kaiserreich der Hohenzollern militärisch den Weg ebnen sollte. In der aktuellen Publikation ist nun die Familie des politischen Reichsgründers, des Reichskanzlers Otto von Bismarck, Gegenstand der Betrachtung.

 

Zu Otto von Bismarck (1815 – 1898) existiert mittlerweile eine größere Zahl wissenschaftlicher Biographien, deren wichtigste aus den Federn Lothar Galls, Ernst Engelbergs, Otto Pflanzes und Jonathan Steinbergs stammen und die der Lebensskizze im vorliegenden Band zugrunde liegen. Stets in seinem Schatten stehend, hat sein als Nachfolger aufgebauter Sohn Herbert (1849 – 1904), Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in der Forschung wenig Beachtung erfahren – zu Unrecht, wie der Verfasser meint, denn: „Viermal in seinem kurzen Leben hatte Herbert von Bismarck die Möglichkeit, einen eigenen Weg zu gehen. Er ließ diese Chancen verstreichen: 1873, als er sich gegen die militärische Laufbahn entschied, 1881, im Schlüsseljahr seines Lebens, 1890, als er auch ohne den Vater im Auswärtigen Dienst hätte verbleiben können, und schließlich 1898, nach dem Tod des Vaters. […] Herbert war immer fremdbestimmt. Das ermüdete und erschöpfte ihn weit vor der Zeit. […] Der Anteil von Herbert von Bismarck an der deutschen Außenpolitik und sein Wirken im Auswärtigen Amt während des Jahrzehnts von 1881 bis 1890 sind […] höher einzuschätzen, als die Geschichtsschreibung es ihm bislang zugebilligt hat. Zumindest muss man ihm eine entscheidende Beteiligung bei der Formulierung und Durchsetzung des kurzen deutschen kolonialen Kapitels in Afrika und im Pazifik einräumen. Herberts weitgehend verblasstes Bild in der deutschen Öffentlichkeit hat auch mit der Unterschätzung seiner Person und Rolle im Kaiserreich zu tun, wo diese Fehldeutung begann. Viele Historiker sind den seit etwa 1887 einsetzenden abschätzigen Urteilen der Zeitgenossen und Konkurrenten des Staatssekretärs gefolgt“ (S. 202ff.). Sein 1869 ursprünglich an der Universität Bonn aufgenommenes, durch den deutsch-französischen Krieg unterbrochenes Jurastudium beendete Herbert von Bismarck übrigens in Berlin „schon zu Jahresende 1873 offenkundig ohne Abschluss“, obwohl er „bei strenger Auslegung der Einstellungskriterien für das Auswärtige Amt ein dreijähriges juristisches Studium, die erste Staatsprüfung sowie eine zweijährige Referendarzeit nachweisen“ hätte müssen (S. 138). Wilhelm von Bismarck (1852 – 1901), genannt Bill, war zwar „weniger ehrgeizig als sein Bruder und auf Abstand zum allmächtigen Vater bedacht“ (S. 146), brachte es im Gegensatz zu Herbert aber sehr wohl zum promovierten Juristen.

 

Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der Generation der Enkel des Reichsgründers, den insgesamt fünf Kindern Herberts, Hannah, verheiratete von Bredow (1893 – 1971), Goedela, verheiratete von Keyserling (1896 – 1981), Otto (1897 - 1975), Gottfried (1901 – 1949) und Albrecht (1904 – 1970). Hervorgehoben wird die selbstbewusste und kritische Haltung der weiblichen Geschwister. Während des Dritten Reiches habe sich „die Kernfamilie trotz aller Bemühungen der ältesten Enkelin Hannah nicht immun gegenüber den totalitären Versuchungen gezeigt. Drei der fünf Enkel, die jungen Männer, nicht ihre Schwestern, haben sich in den Tagen der Machtergreifung der Nationalsozialisten berufliche Chancen ausgerechnet. Aber schon wenige Jahre später waren alle Illusionen verflogen“ (S. 383). Während der männliche Erstgeborene, der im Fürstenrang stehende Otto, trotz allem im diplomatischen Dienst verblieb, desertierte Albrecht von der Wehrmacht, sein in der SS aufgestiegener, dann im Widerstand engagierter Bruder Gottfried stand vor dem Volksgerichtshof und wurde im Konzentrationslager inhaftiert. Heute ist Ottos Sohn, Ferdinand Fürst von Bismarck (geb. 1930), Oberhaupt des Hauses.

 

Neben den Nachkommen des Reichsgründers, der fürstlichen Schönhausener Linie, weisen auch Angehörige der von dessen Bruder Bernhard (1810 – 1893) abstammenden Jarchliner Linie beachtenswerte Karrieren auf. Der Band stellt Klaus von Bismarck (1912 – 1997) näher vor, im Zweiten Weltkrieg Träger des Eichenlaubs zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes und ab 1960 für 15 Jahre Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR), sowie seinen Bruder Philipp (1913 – 2006), der nach dem Krieg in der Kali Chemie AG reüssierte, zum Vorsitzenden des mächtigen Wirtschaftsrates der CDU aufstieg und - schon im Pensionsalter - zehn Jahre lang ein Mandat als EU-Parlamentarier ausübte.

 

In seiner Bilanz bricht der Verfasser generalisierend eine Lanze für die Aristokratie und plädiert für eine „Normalisierung des Verhältnisses der Deutschen zum Adel“, der „1000 Jahre Politik und Gesellschaft“ geprägt habe und der durch seine starke Vernetzung für das Zeitalter der Globalisierung „glänzend vorbereitet“ sei: „Seine Mitglieder sind in ihrem Denken Europäer und Weltbürger, wie ihre adeligen Verwandten in den Nachbarländern, die weiterhin eine erhebliche Rolle in der Politik spielen. […] Langfristig sind die Adeligen somit unverzichtbar für ein Land, das schwache, unterentwickelte Traditionen hat, besonders in der Außenpolitik. Denn am Ende wird es wie vor 100 Jahren, aber dieses Mal auf andere Weise, stark von Deutschland abhängen, wie sich der Kontinent in der Weltpolitik des neuen Jahrtausends behaupten wird. […] Eine entspannte Nation sollte somit ihren Frieden mit der Bismarck-Familie machen. Sie sollte über die innenpolitischen Defizite des Reichsgründers endlich hinwegkommen und sich seiner anhaltenden Bedeutung für eine zutreffende Einschätzung der aktuellen europäischen Lage bewusst sein“ (S. 388).

 

Lässt man solche Einschätzungen, die mehr über die Präferenzen des Verfassers als über die Sache an sich verraten, außen vor, so liefert der Band konturierte Einblicke auch in das Privatleben der Mitglieder einer Familie, deren Name durch die singuläre historische Leistung des ersten Fürsten von Bismarck mit der deutschen Geschichte untrennbar verbunden bleibt. Die im Zentrum des Bandes versammelten, hochwertig reproduzierten Schwarzweiß-Abbildungen, von denen nur eine den Reichsgründer, und zwar bezeichnender Weise zusammen mit seinem Sohn Herbert, zeigt (eine weitere, recht verbreitete, die ihn in Gesellschaft seiner geliebten Doggen in Szene setzt, ziert den Umschlag), bieten ein breites, lebendiges Panorama vor allem auch der weniger prominenten Exponenten der Familie. Wer sich rasch einen Überblick über die Genealogie des Hauses verschaffen will, findet Unterstützung in Form zweier Stammtafeln der Schönhausener und der Jarchliner Linie der Bismarcks.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic