Thier, Andreas, Hierarchie und Autonomie. Regelungstraditionen der Bischofsbestellung in der Geschichte des kirchlichen Wahlrechts bis 1140 (= Recht im ersten Jahrtausend 1 = Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 257). Klostermann, Frankfurt am Main 2011. XVIII, 574 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Andreas Thier (1963), gefördert von der Studienstifrung des deutschen Volkes, ist erstmals durch seine Münchener, der ersten juristischen Staatsprüfung (1989), dem Studium der Geschichtswissenschaft mit einer von Thomas Nipperdey betreuten Magisterarbeit (1990) und der zweiten juristischen Staatsprüfung (1994) folgenden, von Peter Landau betreuten Dissertation des Jahres 1998 rechtsgeschichtlich hervorgetreten. Sie behandelte den meist vernachlässigten Zusammenhang zwischen Steuergesetzgebung und Verfassung an Hand der wegweisenden Staatssteuerreformen in Preußen zwischen 1871 und 1893. Ihre vielfältigen, bereits an hervorragender Stelle veröffentlichten Ergebnisse sind von Sachkennern sehr gut aufgenommen worden.

 

Nur wenige Jahre danach legte er 2002 zum Erwerb der Lehrbefugnis für bürgerliches Recht, deutsche Rechtsgeschichte, neuere Privatrechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte, Kirchenrecht und Rechtstheorie das vorliegende, umfangreiche Werk als Habilitationsschrift vor. Sie wurde ebenfalls von Peter Landau betreut und fällt in den Kernbereich seiner ungewöhnlich weitgespannten Interessen. Sie zeigt zugleich, dass auch der Schüler auf ganz unterschiedlichen Feldern zu vorzüglichen Leistungen in der Lage ist.

 

Das Ergebnis hat dementsprechend nicht nur umgehend zu einer Berufung an die Universität Münster auf den Lehrstuhl für bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte und 2004 an die Universität Zürich geführt, sondern auch sofort nach der 2011 vollendeten Drucklegung das Interesse eines sachkundigen Rezensenten hervorgerufen. Widrige Umstände haben dabei den geplanten glatten Ablauf beeinträchtigt. Deswegen muss der Herausgeber wenigstens in einigen Zeilen auf das überzeugende, grundlegende Werk hinweisen.

 

In seinem Mittelpunkt steht die für mitgliederstarke Verbände mit strikter inhaltlicher Ausrichtung kennzeichnende Spannung zwischen der notwendigen und vor allem von der Spitze aus zu verfolgenden Hierarchie und der für die breite Basis bedeutsamen Autonomie von Teilgruppen. Der Verfasser betrachtet sie mit klarem Blick und sicherem Griff am Beispiel der Bestellung der Bischöfe. Sie verfolgt er von den Anfängen bis zur für sehr lange Zeit abschließenden Gestaltung des kirchlichen Regelwerks im Decretum Gratiani, das signifikant mit dem Jahre 1140 verbunden wird.

 

Gegliedert ist die umfassend auf die einschlägigen Quellen und die zugehörige Literatur gestützte Untersuchung nach einer kurzen Einleitung in zwei Teile. Zunächst verfolgt der Verfasser chronologisch die Regelungstraditionen der Bischofsbestellung von den Entwicklungstendenzen kirchlicher Regelbildung im ersten und zweiten Jahrhundert über die Wahl als Verfahren prüfender Beurteilung in der anschließenden cyprianischen Konzeption der Bischofskirche, die kirchliche Normbildung des vierten bis sechsten Jahrhunderts bis zu Kontinuität und Umformung in der auf spätantiker Regelungstradition beruhender europäischer Normbildung bis zum zwölften Jahrhundert. Im zweiten Teil betrachtet er analytisch die Normbildung durch Rezeption der spätantiken Regelungstradition in den Normsammlungen  des Frühmittelalters und >Hochmittelalters.

 

Dabei unterscheidet der Verfasser ansprechend  zwischen Normbildung durch Textgestaltung und Textzuordnung und der Normbildung furch Textanordnung. Als Beispiele für das erste Verfahren erscheinen die Texte Episcopatus unus, Plebs obsequens und Factus est Cornelius episcopus. Antilaikale Tendenzen kirchlicher Traditionsbildung werden an Hand der c. 12 und 13 des laodicenischen Corpus von den frühen Kanonessammlungen bis zu Bonizo von Sutri und Deusdedit aufgespürt.

 

Im Ergebnis sieht der Verfasser die mittelalterliche Normbildung zur Bestellung von Bischöfen bis 1140 vor allem von einer spätantiken Regelungstradition geprägt, deren Wurzeln in der römischrechtlich beeinflussten cyprianischen Ekklesiologie enthalten sind. Wahl wird dementsprechend als in ein hierarchische Ordnung eingebettetes Verfahren regelhaft geordneter Prüfung verstanden, in deren Rahmen Autonomie grundsätzlich an sich unverzichtbar ist. Am Ende der langen Entwicklung steht freilich der im 13. Jahrhundert päpstlich verfügte Ausschluss der Laien von der Bischofswahl.

 

Wesentliche Voraussetzung dieser vielfältigen, vom Verfasser überzeugend auf das Wesentliche zurckgeführten Entwicklungen ist die starke Bindung der Kirche an die Schrift. Die Vielzahl der Kanonessammlungen stellt dabei sicher, dass die älteren Regelungsansätze lange verfügbar sind. Verschriftlichte Normbewahrung schließt umgekehrt verschriftlichte Normbildung nicht aus, sondern ermöglicht sie gewissermaßen in verdichteter Form.

 

Abgerundet wird das gelungene Werk durch ein umfassendes Verzeichnis der auch ein Dutzend ungedruckter Handschriften einschließenden Quellen und Literatur., in dem Aufsätze von Monographien getrennt werden. Die verwendeten Teststellen werden in einem eigenen Register nachgewiesen. Der inhaltlichen Aufschließung dienen ein Personenregister von Achery bis Zosimus und ein Sachregister von Abt bis Wahlprüfung.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler