Tat ohne Täter. Der Mordfall Fritz Angerstein, hg. v. Stiegler, Bernd. Konstanz University Press. 2013. 386 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Eine Tat ohne Täter gibt es nicht, selbst wenn nicht alle Täter ermittelt werden können. Gleichwohl sind bei einer Straftat die objektiven Straftatbestandsmerkmale vielfach schneller und einfacher festzustellen als die subjektiven. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür lieferte der in Dillenburg am 3. Januar 1891 geborene Fritz Angerstein, der in Freiendiez am 17. November 1925 wegen der Ermordung achter Menschen hingerichtet wurde.

 

Nach einer Tätigkeit als Landvermesser wurde Fritz Angerstein in Haiger Direktor und Handlungsbevollmächtigter einer Kalksteingrube mit einer Dienstwohnung und einem Gehalt von monatlich 390 Reichsmark. Gleichwohl musste er wegen Unterschlagungen von insgesamt 14892 Reichsmark mit einer Anzeige rechnen. Am 1. Dezember 1924 tötete er mittels verschiedener Waffen seine kranke Ehefrau, seine Schwiegermutter, seine Schwägerin, sein Hausmädchen, seinen Buchhalter, seinen Büroangestellten, den Sohn seines Hausgärtners und einen Hilfsarbeiter, zündete am Abend das Haus an, brachte sich selbst Verletzungen bei und rief um Hilfe.

 

Der 1964 geborene, nach dem Studium von Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, München; Paris, Berlin, Freiburg im Breisgau und Mannheim ab 1999 als Programmleiter Wissenschaft im Verlag Suhrkamp tätige und 2007 für neuere deutsche Literatur an die Universität Konstanz berufene Herausgeber gliedert seine eindrucksvolle Edition von Quellen dieses grausamen Geschehens in insgesamt sechs Abschnitte. Sie betreffen Artikel und Prozessberichte (vor allem Siegfried Kracauers) aus der Frankfurter Zeitung, Berichte und Kommentare, Erklärungsversuche, die versuchte Optographie, Briefe Fritz Angersteins aus dem Gefängnis an seinen Bruder und den Versuch, ein ungeheueres Gebirge der Tat dem Senkbeil des Verstehens zuzuführen. Auch wenn der als harmloser Mensch beschriebene Täter kein Motiv für sein Handeln angeben konnte und sich selbst ein Rätsel war, wollte er keine Gnade, weil seine Tat nur durch den Tod gesühnt werden könne, auch wenn zwar nicht der Täter fehlt, sondern nur das Verständnis.

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler