Steinke, Ronen, The Politics of International Criminal Law. German perspectives from Nuremberg to the Hague. Hart Publishing, Oxford, 2012. 150 S. Besprochen von Thomas Vormbaum.

 

Europas Unterstützung für einen unabhängigen, also nicht vom UN-Sicherheitsrat abhängigen Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof ICC ist bislang, so der Verfasser, ein „blinder Fleck“ in der Forschung. In dieser europäischen Meinungsbildung spielte Deutschland eine Schlüsselrolle, indem es die genannte Position gegen anfängliche Widerstände durchsetzte. Der Verfasser will klären, wie Deutschland selbst zu dieser Position gelangte (2). Als mögliche Erklärungsansätze unterscheidet er einen „idealistischen, neoliberal-institutionellen“ und einen „realistischen“. Während jener den Einsatz für Internationale Strafgerichtshöfe als Wunsch nach der Schaffung von „political integrators“ begreift, fragt dieser danach, auf welche Weise das Ziel, die Internationale Strafgerichtsbarkeit kontrollieren und steuern zu können, legitimiert wird (4). Das Interesse des Verfassers richtet sich auf diesen letzteren Erklärungsansatz.

 

Demgemäß geht es im ersten Kapitel um die Klärung des Begriffs des „politischen Interesses“. Von den zwei Botschaften, die jeder internationale Strafgerichtshof aussendet – (1) symbolischer Protest gegen eine Kultur der Straflosigkeit von Staatsverbrechen und (2) Hervorbringung eines Narrativs über die „historische Wahrheit“ (10) – ist also die letztere Gegenstand der Untersuchung, wirft doch die Entscheidung, die „historische Wahrheit“ zu finden, sogleich die Frage „Wessen Wahrheit?“ auf (S. 11). Da Staatsverbrechen typischer Weise massenhaft begangen werden, muss eine Fallselektion erfolgen (S. 13), und diese Selektion muss repräsentativ sein (15). Bereits in dieser Phase beginnt daher der Kampf um die historische Deutungshoheit (17). Die Appeals Chamber des Jugoslawien-Tribunals (ICTY) gestattet den Strafverfolgern ausdrücklich eine Auswahl der Angeklagten nach repräsentativen Kriterien, weil der ausgewählte Angeklagte im Verfahren nicht als „Repräsentant“, sondern nach seiner persönlichen Schuld beurteilt werde (19).

 

Die Richter haben keine Möglichkeit, diese Auswahl zu überprüfen (29). Umso dringlicher stellt sich die Frage nach der Kontrolle der Tätigkeit des Anklägers (32). Eine traditionelle Antwort lautet: Kontrolle durch den UN-Sicherheitsrat. Das für den ICC angenommene Modell geht hingegen dahin, den Ankläger prinzipiell von der Kontrolle durch Staaten freizustellen (36). Welche politischen Interessen standen dahinter? Auch diese Frage ist – auf Deutschland bezogen – Gegenstand der Untersuchung des Verfassers. (39).

 

Das zweite Kapitel untersucht deutsche Einwände gegen die Nürnberger Prozesse nach 1949. Aufgabe des Hauptkriegsverbrecher-Tribunals und der 12 Nachfolgeprozesse war, so der Verfasser, eine „historische Erzählung“, die dem deutschen Volk nicht nur seine Niederlage sondern auch das Unrecht, das in seinem Namen geschehen war, vor Augen führte (43). Die Auswahl der Angeklagten erfolgte mit großer Sorgfalt, um die verschiedenen Bereiche der für die NS-Verbrechen verantwortlichen Elite zu repräsentieren (44). Was die Auswahl der angeklagten Verbrechen angeht, so ist, wie der Verfasser meint, „das IMT ein erstes und ziemlich deutliches Beispiel dafür, wie narrative Interessen sogar zwischen den verschiedenen Teilen der Gruppe der „Überlebenden“ recht unterschiedlich sein können. So bewirkte erst öffentlicher Druck in den Vereinigten Staaten von Amerika, dass auch der Holocaust, mit dem Amerika, anders als die anderen Hauptsiegermächte, nicht in Berührung gekommen war, in die Nürnberger Verfahren, wenn auch nur peripher, einbezogen wurde (46). Die Einbeziehung auch alliierter Kriegsverbrechen hätte freilich die beabsichtigte zentrale historische Erzählung verwässert (47).

 

In den 50er Jahren begannen westdeutsche Politiker und Rechtsgelehrte, die Geschichtserzählung des IMT, teilweise aggressiv, in Frage zu stellen (48). Man entdeckte den Gesetzlichkeitsgrundsatz wieder und trat mit warnenden Hinweisen auf die Missbräuche des NS-Regimes und vor einer Rückkehr autoritären Denkens auf (49). Die Nürnberger Richter hatten sich unter Berufung auf die materielle Gerechtigkeit (letztlich auf Naturrecht) über den Grundsatz nullum crimen sine lege hinweggesetzt; dass sie – wie der Verfasser meint (S. 48) – diesen Grundsatz als einen solchen der materiellen Gerechtigkeit angesehen hätten, kann man hingegen nicht annehmen, denn wenn er ein solcher der Gerechtigkeit (und nicht vielmehr ein solcher der Rechtssicherheit) ist, dann einer der formellen Gerechtigkeit i. S. der Gleichbehandlung. Zuzugeben ist freilich, dass das Gericht, indem es den Grundsatz überhaupt mit der Gerechtigkeit in Verbindung brachte, Missverständnisse produzieren konnte[1]. Ein anderer Weg, das Rückwirkungsverbot zu überwinden, war die sog. Radbruchsche Formel, die übrigens – was der Verfasser nicht erwähnt – aus zwei Formeln, der „Unerträglichkeitsformel“ und der „Gleichheits-Verleugnungsformel“ besteht, von denen die eine zu „unrichtigem Recht“ die andere zu „Nicht-Recht“ führt. Die Ansicht des Verfassers, Radbruch habe gelehrt, man brauche das zur Zeit der NS-Herrschaft geltende nationale Recht nicht anzuwenden, ist zu pauschal. Radbruchs Ausführungen beginnen vielmehr mit den Worten: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive […] Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist“; erst danach folgen die beiden erwähnten Einschränkungen[2]. Schließlich scheint mir auch die Einschätzung, die Radbruch-Formel habe in der Rechtsprechung zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen keine Rolle gespielt, zweifelhaft; denn spätestens wenn es um die Frage ging, ob die nach positivem Tatzeitrecht tatbestandsmäßigen Handlungen durch Führer- oder sonstige Befehle gerechtfertigt gewesen seien, bediente man sich dieser Formel. Dies galt zwar nicht für die sog. Exzesstäter, bei denen man auf die Formel verzichten konnte, weil man ihr Verhalten selbst nach NS-Recht für rechtswidrig hielt (51); die große Zahl der – wenn auch mit Verspätung – verfolgten anderen „Täter“, die von der sog. Gehilfen-Rechtsprechung profitierten, konnte bei dem positivistischen Ausgangspunkt der Rechtsprechung aber nur über die Radbruchsche Ausnahmeregel erfasst werden.

 

Mit Deutschlands eigenen DDR-Verfahren nach 1989 (62ff.), die Gegenstand des dritten Kapitels sind, hörte die Verneinung der Legitimität internationaler Strafjustiz abrupt auf. Da Westdeutschland keine vergleichbaren Verbrechen begangen hatte, hatte man mit der strafrechtlichen Aufarbeitung selber nichts zu verlieren (63); andererseits gab es ein Interesse an strafgerichtlicher Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit; es bestand darin, die Deutsche Demokratische Republik strafrechtlich zu delegitimieren. Trotz der gänzlich unterschiedlichen Proportionen des NS-Unrechts und des DDR-Unrechts wurden beide Systeme als die „beiden deutschen Diktaturen“ gleichgesetzt. Die Radbruch-Formel erlebte, so der Verfasser, eine „Auferstehung“ (70); dass sie allerdings, wie er meint, nunmehr zum ersten Mal angewendet worden sei, erscheint aus den oben genannten Gründen übertrieben.

 

Nachdem (West-)Deutschland bis zum Ende des Kalten Krieges in der Sorge, eine internationale Strafgerichtsbarkeit könne der Gegenseite nützen, sich gegen derartige Institutionen gesträubt hatte, spielte es, wie das vierte Kapitel zeigt (74ff.), seither in dieser Richtung eine bemerkenswert aktive Rolle. Das Jugoslawien-Tribunal und das Ruanda-Tribunal, beide als Organe unter der Aufsicht des UN-Sicherheitsrates organisiert, erfuhren nachdrückliche deutsche Unterstützung. Im Jugoslawien-Konflikt stand Deutschland von Anfang an auf kroatischer Seite (79); eine „falsche“ Geschichtserzählung hätte Deutschland als denjenigen bezeichnen können, der Öl in das Feuer des Konflikts gegossen habe. Deutschland hatte also ein Interesse an der „richtigen“ Erzählung von der Alleinschuld Serbiens (82). Diese Deutung setzte sich durch; erst gegen Ende der 90er Jahre wurde eine kleine Zahl von kroatischen, muslimischen und albanischen Verdächtigen vor das Haager Tribunal gebracht[3].

 

1991 begann Deutschland das Projekt eines ständigen ICC, das es drei Jahre vorher noch nachhaltig bekämpft hatte, ebenso nachhaltig zu unterstützen. Deutschland gewann damit die Chance, „aus dem Schatten von Nürnberg zu treten“ (89) und konnte sich auf der internationalen Bühne als Förderer der Menschenrechte darstellen (91). Seine Rolle bei der Schaffung des ICC ist Gegenstand des fünften Kapitels (92ff.).

 

Hatte Deutschland noch 1994 die Abhängigkeit der ad hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda vom UN-Sicherheitsrat mit besonderem Nachdruck betont (99), so änderte es, seit die Verhandlungen über den ständigen ICC in ein konkretes Stadium traten, seine Position radikal und sprach sich zusammen mit einer Gruppe kleinerer und mittlerer Staaten, mit denen es sein Vorgehen koordinierte, für eine unabhängige Stellung des Anklägers aus (102). Diese „like-minded-group“ versicherte sich der Unterstützung von Entwicklungsländern und Schwellenländern, die keine eigenen politischen Interessen verfolgten (105). Deutschland ließ sich schließlich auf den – später erfolgreichen – Kompromiss ein, wonach ein Vorgehen des Anklägers zwar nicht der Genehmigung des Sicherheitsrates bedarf, dieser jedoch nach Beginn der Untersuchung mit neun seiner fünfzehn Stimmen Einspruch erheben kann.

 

Innerhalb Deutschlands war es den idealistischen liberalen Anhängern eines unabhängigen ICC-Anklägers in der Kohl-Administration zwischen Ende 1996 und Sommer 1998 gelungen, die konservativen „realistischen“ Vertreter des Regierungslagers davon zu überzeugen, dass das vorgeschlagene Modell nicht nur liberalen Idealen entspreche, sondern auch deutschen Interessen am besten diene (110). Die Unabhängigkeit des Anklägers verschaffte Deutschland einen größeren Einfluss, als es das Gegenmodell gekonnt hätte. Gegen den Widerstand Deutschlands, das auch einen der größten finanziellen Beiträge für den ICC leistet, kann dort kaum ein wichtiger Posten besetzt werden (119).

 

Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung, die flüssig geschrieben und spannend zu lesen ist: Es gab eine bemerkenswerte Überlappung von liberalen Idealen und nationalen deutschen Interessen (129). Eine neue Generation wischte die alten deutschen Ressentiments gegen die Nürnberger Prinzipien beiseite und begann sich diese anzueignen. Die von den Idealisten verkündeten Menschenrechts-Ideale hätten jedoch ohne ein gerüttelt Maß an traditioneller Machtpolitik nicht durchgesetzt werden können. Dort, wo es zu einer solchen Überlappung der Positionen nicht kam, blieb Deutschlands Position ziemlich konservativ (131).

 

Hagen/Westfalen                                                                                            Thomas Vormbaum



[1] Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert. Baden-Baden 1999, S. 75.

[2] Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. Mit einer Einführung von Winfried Hassemer. Baden-Baden 2002; historische Aufarbeitung bei Vassalli, Radbruchsche Formel und Strafrecht. Die Bestrafung von „Staatsverbrechen“ im postnazistischen und postkommunistischen Deutschland.. Berlin 2010.

[3] Zwei von ihnen wurden im November 2012 im Berufungsverfahren freigesprochen, was in Kroatien, unterstützt von der konservativen deutschen Presse, sogleich die Interpretation hervorrief, der Jugoslawien-Konflikt sei seitens Kroatiens ein „gerechter Verteidigungskrieg“ gewesen: s. Frankfurter Allg. Zeitung vom 17. November 2012, Bericht S. 1; Kommentar von Karl-Peter Schwarz, ebd.