Schmidt, Rainer, Verfassungskultur und Verfassungssoziologie. Politischer und rechtlicher Konstitutionalismus in Deutschland im 19. Jahrhundert. Springer VS, Wiesbaden 2012 316 S. Besprochen von Karsten Ruppert.

 

Diese Habilitationsschrift der Technischen Universität Dresden aus dem Jahre 2009 hat das begrüßenswerte Anliegen, das Spektrum der Wissenschaften, die sich mit Verfassungen beschäftigen, um die Kulturwissenschaften und Soziologie zu erweitern. Das gelingt schon eher für die kulturelle Dimension, hingegen löst sich die Verfassungssoziologie meist in die Ideengeschichte auf. Der interdisziplinären Studie wäre es bekommen, wenn sich ihr Verfasser häufiger bewusst gewesen wäre, auf welchem Feld er sich bewegt.

 

Die Crux des Versuchs einer Klärung zentraler Begriffe, die in dem Kapitel „Elemente einer politischen Theorie der Verfassung“ unternommen wird, liegt darin, dass diese meist blass bleiben, da sie fast nur aus der Literatur und nicht aus der Praxis gewonnen wurden. Darüber hinaus wird zu wenig darauf geachtet, mit welchen Begriffen dann später auch operiert wird. Immerhin wird deutlich, dass der deutsche Konstitutionalismus als eine Form der Monarchie in gemeineuropäischer Tradition betrachtet werden soll und Verfassung verstanden werden soll als „Teil eines umfassenden kulturellen Selbstverständigungsprozesses“, durch den „jedes einigermaßen komplexe Gemeinwesen sich seiner grundlegenden Ordnungsvorstellungen vergewissert“ ( S. 55).

 

Das dritte Kapitel, in dem auf die Verfassungen des Vormärz eingegangen werden soll, überzeugt nicht. Zunächst ist es ungeschickt, den Sonderfall Württemberg heranzuziehen, um zu demonstrieren, dass auch kulturelle Faktoren Geltungsgrund einer Verfassung sein können. Denn die Kontinuität zwischen altständischer und landständischer Verfassung ist nur scheinbar, da die beiden politischen Ordnungen in allen wesentlichen Elementen nicht vergleichbar sind. Und damit wird auch der „Anciennität“ als Geltungsgrund der Boden entzogen. Was dann noch zur Rezeption der französischen und amerikanischen Revolution in Deutschland gesagt wird, ist allein vom Umfang her dürftig.

 

Es ist dann durchaus originell, wenn Schmidt im vierten Kapitel versucht, zwei Arten des Verfassungsverständnisses auf die Philosophen Kant und Hegel zurückzuführen. Die zentrale Aussage aber, Kant habe „für den Konstitutionalismus des Vormärz ohne Frage die entscheidenden Spuren“ ausgelegt (S. 120), reizt zum Widerspruch. Denn die zentralen Ideen des Vormärz sind nur noch zum geringsten Teil durch die Aufklärung geformt worden. In ihnen schlagen sich vielmehr die Erfahrung der Französischen Revolution, der Romantik und die realen Machtverhältnisse im Deutschland nach dem Wiener Kongress nieder. Eine Generation später steht Hegel mit seinem historisch-empirischen Verfassungsbegriff dem Vormärz schon deutlich näher. Dies auch in der Hinsicht, dass ihm, wie Schmidt zeigt, fast alles idealistische und emanzipatorische Potential abhandengekommen ist. Er weist auf die Gefahren der „ideenlosen Abstraktionen“ für die politische Praxis hin und verlangt stattdessen, dass eine Verfassung dem „Geist des Volkes“ entsprechen müsse. Den Normen des Vernunftrechts setzt er die sich aus Geschichte und Sitte ergebenden Zustände als die den Völkern gemäßen Verfassungen entgegen.

 

Klug wird herausgearbeitet, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert sich fast nur noch das öffentliche Recht mit Verfassungen beschäftigt und so die Verfassungslehre in den Bann eines Rechtspositivismus geriet, der unkritisch die Monarchie legitimierte. Schon weniger überzeugt die These, dass Georg Jellinek und vor allem Max Weber durch seine Verfassungssoziologie, das Verständnis von Verfassung wieder erweitert hätten. Deren Wirkung war selbst in der Jurisprudenz gering und in Politik und Öffentlichkeit haben sie keinen Verfassungsdiskurs in ihrem Sinne in Gang gesetzt. Schmidt bleibt für die Zeit nach 1871 nur auf der Ebene des Reiches, nicht einmal geht ein Blick in die Bundesstaaten, wo der Konstitutionalismus sich als vitaler erwies. Der Versuch, in der Schlussbetrachtung einen Bogen zum Grundgesetz wie der europäischen Verfassung zu schlagen, um das Thema in einen aktuellen Kontext zu stellen, wirkt krampfhaft.

 

Die Studie von Rainer Schmidt lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung sowohl sozialer Bedingungen als auch kultureller und symbolischer Repräsentation für Akzeptanz und Geltung von Verfassungen. Er löst aber seinen Anspruch, den Konstitutionalismus in seiner ganzen Breite zu behandeln, nicht ein. Er beschäftigt sich ganz überwiegend mit meist schon intensiv ausgewerteten Theoretikern, denen er erwartungsgemäß wenig Neues abgewinnen kann, und er vernachlässigt die der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zugunsten der schon oft abgehandelten des Vormärz.

 

Eichstätt                                                                                             Karsten Ruppert