Reuß, Ernst, Millionäre fahren nicht auf Fahrrädern - Justizalltag im Nachkriegsberlin. Vergangenheitsverlag, Berlin 2013. 270 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der in Schweinfurt 1962 geborene Verfasser war nach dem Studium der Rechtswissenschaft in Erlangen und Wien und dem Referendariat am Oberlandesgericht Nürnberg wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. Daneben promovierte er an der Humboldt Universität in Berlin über Berliner Justizgeschichte. Eine rechtstatsächliche Untersuchung zum strafrechtlichen Justizalltag in Berlin von 1945-1952, dargestellt anhand der Strafgerichtsbarkeit des Amtsgerichts Berlin-Mitte (= Berliner Juristische Universitätsschriften, Grundlagen des Rechts 17). Berlin Verlag, Berlin 2000. 417 S. Nach einem politischen Engagement als Mitglied des akademischen Senats und des Konzils der Freien Universität Berlin wurde er im Jahre 2005 Büroleiter des Bundestagsabgeordneten Klaus Ernst von der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit, sie sich im Jahre 2007 mit der Partei des demokratischen Sozialismus zusammenschloss, gab aber die Stelle eines Sprechers des Bundesschiedsgerichts auf, als man sich wegen Auseinandersetzungen um die Gründung eines Betriebsrats streitig trennte.

 

Literarisch hat er an seine Dissertation zunächst ein Werk mit dem Titel Vier Sektoren - Eine Justiz, Berliner Justiz in der Nachkriegszeit (2003) angeschlossen. Dem folgten 2005 Betrachtungen über das Schicksal sowjetischer Kriegsgefangener im zweiten Weltkrieg und 2008 über den Umgang von Deutschen und Russen mit ihren Gegnern im zweiten Weltkrieg. Im vorliegenden Buch greift der inzwischen als Autor tätige Verfasser den Gegenstand seiner Dissertation nochmals in abgeänderter Form auf.

 

Gegliedert ist der Band in Berlin und seine Nachkriegsjustiz und die Spaltung sowie einen Anhang mit Zeittafel, Personenverzeichnis, Abkürzungsverzeichnis, Literaturverzeichnis und Anmerkungen. Im Mittelpunkt stehen dabei das Amtsgericht Berlin-Mitte, typische „Nachkriegsverbrecher“ („Hier ist ein Nazischwein“, Kriegsfolgen, Hunger, Otto Normalverbraucher „fringst“, der schwarze Markt, Hochstapeln leicht gemacht, „liederliche Lebensweise“, Jugendliche, Frauen und Verfahrensdauer) und nach der Justizspaltung die Akten (Klauen im sozialistischen Alltag, von Schmalzbüchsen und anderen Dingen, neue Währungen, alte Probleme, „Menschenräuber, Kupplerinnen und Prostitution). Dabei kann der lebensnah formulierende Autor nach eingehender Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse zusammenfassend feststellen, dass die zum 1. Juni 1945 neu aufgebaute Justiz nach dem Ende des Weltkriegs die Nachkriegskriminalität rasch auffing und dabei im Bereich der Bagatellkriminalität trotz manch unterschiedlicher Begründung im Osten und Westen nicht grundsätzlich anders geurteilt wurde, indem etwa der Diebstahl eines Fahrrads als wichtigsten Verkehrsmittels (für Nichtmillionäre) als besonders verwerflich eingestuft wurde.

 

Innsbruck                                                                                           Gerhard Köbler