Rauchensteiner,
Manfried, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie
1914-1918. Böhlau, Wien 2013. 1222 S. Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.
Gute Bücher zu ein und derselben Thematik können sehr unterschiedliche Gestalt haben. Kürzlich wurde an dieser Stelle der unkonventionelle Auftritt des bereits 2007 in Frankreich erschienenen und nun in deutscher Übersetzung verfügbaren, von den französischen Herausgebern Bruno Cabanes und Anne Duménil besorgten Bandes „Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe“ (2013) gewürdigt. Ebenfalls an bereits bekanntes Material anknüpfend, präsentiert sich nun Manfried Rauchensteiners dickleibiges Werk in einer ganz anderen und dennoch nicht minder überzeugenden Weise.
Der Verfasser, Professor für österreichische Geschichte an der Universität Wien und bis 2005 Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums, hat sich bereits vor zwanzig Jahren des Themas angenommen und unter dem Titel „Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg 1914-1918“ (1993) eine Darstellung veröffentlicht, die, nunmehr vollständig überarbeitet und maßgeblich erweitert, den Kern der aktuellen Publikation bildet. Was der Nutzer nun in Händen hält, ist eine kohärente, der besten Tradition narrativer Geschichtsschreibung verpflichtete Gesamtdarstellung des Ersten Weltkriegs aus dem Blickwinkel der der Auflösung zusteuernden Donaumonarchie und mit dem Schwergewicht auf der Analyse der diplomatischen und militärischen Entwicklungslinien, eingebunden in qualifizierte Einblicke in die sozioökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Akzente werden dabei bewusst gesetzt: auf die nach Rauchensteiner bislang zu wenig beachtete, verhängnisvolle Rolle Kaiser Franz Josephs, das für Bestand oder Untergang so entscheidende Verhalten der Völker der Donaumonarchie, die Frage der Kriegsfinanzierung und Lastenverteilung, auf die Mentalität der Truppe und ihrer Führer ebenso wie auf das Schicksal der Flüchtlinge, Deportierten und Kriegsgefangenen.
Die Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo, so der Verfasser, „stärkte die Stellung des Kaisers“, indem sie ihn von dessen lästiger „Nebenregierung“ befreite. „Der neue Thronfolger [Erzherzog Karl Franz Josef] sollte zunächst so wenig wie möglich eingebunden werden. […] Darin konnte aber gewiss nicht Unachtsamkeit gesehen werden, sondern pure Absicht. Kaiser Franz Joseph versuchte es nochmals mit einer neoabsolutistischen Rückwendung. Was nach wilder Entschlossenheit und kraftvollem Auftreten aussah, barg in Wirklichkeit ein entsetzliches Dilemma. An der Spitze des Habsburgerreichs begann sich ein gewaltiges Machtvakuum auszubreiten.“ (S. 91f.). In der Frage der angemessenen Reaktion auf das Attentat fiel „am 30. Juli oder am 2. April jenes Wort, das als Votum des Monarchen verstanden wurde: Krieg! […] Und während die Weichen in Richtung Krieg gestellt wurden, saß der Kaiser im Hofzug und fuhr nach Ischl. […] Der Kaiser hatte seinen Willen bekundet und ging davon aus, dass entsprechend gehandelt würde. […] Franz Joseph hatte es sich zum Grundsatz gemacht, Menschen, denen er eine Verantwortung übertragen hatte, zu vertrauen und sie diese Verantwortung auch tragen zu lassen. Mehr noch: Er begnügte sich schon lange damit, nur mehr informiert zu werden.“ So unterfertigte er denn auch „ganz einfach das ihm vorgelegte Blatt Papier. Damit verkam die Kriegserklärung an Serbien zu einem einfachen Verwaltungsakt“ (S. 123ff.), der Krieg wurde „herbeigeführt. Mehr noch: Er wurde entfesselt. Und Österreich-Ungarn war es, das die Fesseln löste. Das Deutsche Reich aber führte ihm immer dann die Hand, wenn diese zittrig zu werden drohte. Es trug aber auch Russland sein gerüttelt Maß zur Entfesselung bei, und auch alle anderen Staaten setzten Handlungen oder unterließen solche, die dann nachträglich zur Feststellung führten: Hätte …!“ (S. 93). Bis 1916 schworen „rund sechs Millionen (Soldaten) in elf Sprachen“ ihren persönlichen Eid auf Kaiser Franz Joseph; am 21. November 1916 verstarb der Oberste Kriegsherr, und „ab dem Augenblick, da ‚er‘ nicht mehr lebte, begann man stärker zu differenzieren: der Monarch war eines; das Reich, dem sich viele nur mehr bedingt verpflichtet sahen, ein anderes“ (S. 639). Die zitierten Ausführungen legen die Position des Verfassers in den Fragen der Kriegsschuld und des Nationalitätenproblems offen.
Im Hintergrund der Kampfhandlungen der sich zum Ersten Weltkrieg auswachsenden militärischen Auseinandersetzung zwischen den Mittelmächten und der Entente waren bald drei Zielaspekte auszumachen: „Einmal führte man Krieg, um den Gegner zu besiegen und ihm das politische Handeln aufzwingen zu können. Dann führte man Krieg mit dem Ziel, die noch nicht Kriegführenden und die Neutralen von einem Kriegseintritt abzuhalten und ihnen die Überlegenheit der Mittelmächte vor Augen zu führen. Drittens aber entwickelte sich die österreichisch-ungarische Kriegführung auch unter dem Gesichtspunkt, sich gegenüber dem Deutschen Reich behaupten zu wollen“ (S. 253). Keines dieser Ziele konnte bekanntlich umgesetzt werden. Dem militärischen Versagen im Osten und auf dem Balkan folgte im Mai 1915 die dritte Front in Gestalt des Kriegseintritts Italiens auf Seiten der Entente, dessen Vorgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessenslagen Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches ausführlich geschildert wird. Hinsichtlich der Verantwortlichkeit für den von den Italienern groß gefeierten, in der österreichischen populären Wahrnehmung aber oft als hinterlistig provozierte Unkorrektheit wahrgenommenen italienischen Abschlusserfolg von Vittorio Veneto im November 1918 findet Manfried Rauchensteiner klare Worte: „Die Ursachen für die Gefangennahme von 400.000 Soldaten, die die Italiener meldeten (tatsächlich waren es rund 380.000) und die ihre Waffen am 3. und 4. November niederlegten, lag nicht darin, dass Italien vertragsbrüchig oder - um ein Wort des Jahrs 1915 zu gebrauchen - perfid gewesen wäre. Ein k. u. k. Oberkommando, das nicht in der Lage war, eine einmonatige Vorbereitungszeit zu nutzen und die Vorbedingungen und Bedingungen eines Waffenstillstands in allen Details zu überlegen, das nicht in der Lage gewesen war, die notwendigen technischen Einrichtungen zu schaffen, um mit der Waffenstillstandsdelegation Kontakt zu halten, und das schließlich voreilig und unbedacht seine Weisungen gab – dieses Armeeoberkommando muss letztlich als der Hauptschuldige an dem Desaster von Vittorio Veneto bezeichnet werden. […] Da es im Waffenstillstandsvertrag hieß, die Frontlinie wäre jene, die sich aus der Verbindungslinie zwischen den vordersten britischen und italienischen Truppen ergebe, ließen die Alliierten bewaffnete Patrouillen möglichst weit vorstoßen. […] Proteste wegen der Gefangennahme aller von den Italienern überrundeten k. u. k. Truppen wurden einfach mit dem Hinweis beantwortet, dass der Vertrag ja von bevollmächtigten Vertretern des Armeeoberkommandos unterzeichnet worden sei. Dem war schwer zu widersprechen“ (S. 1049f.).
Mit dem 7. September 1916 wurde gegen den verbissenen Widerstand des österreichischen Generalstabschefs Conrad von Hötzendorf eine Gemeinsame Oberste Kriegsleitung unter der Oberleitung des deutschen Kaisers Wilhelm II. installiert. Dabei war sich der von seiner Militärkanzlei - seinem „geriatrischen Zirkel“ - unter dem betagten Generaloberst Artur Freiherr von Bolfras beratene Kaiser Franz Joseph „wohl bewusst, dass er einen Teil seiner Rechte als Souverän abtrat und dem deutschen Monarchen einen sichtbaren Vorrang einräumte. Letztlich sollte der es sein, der darüber entschied, ob der Krieg eine Fortsetzung finden sollte oder es zum Frieden käme“, ein „gewaltiger Souveränitätsverzicht“, der sich unter anderem darin äußern sollte, dass der deutsche Erste Quartiermeister, Erich Ludendorff, was die totale Inanspruchnahme auch der Zivilgesellschaft für die Zwecke des Krieges anbelangte, „seine Zuständigkeit auch gegenüber Österreich-Ungarn gegeben sah“ (S. 571f.). Dabei erwies sich dann die Effizienz des sogenannten Hindenburg-Programms zur Steigerung des Ausstoßes der Rüstungsindustrie im Gesamten als kontraproduktiv: „Wo man hinsah, war […] nur eine unrealistische Zielvorgabe zu konstatieren. Wohl aber führte die neuerlich forcierte Produktion von Rüstungsgütern zur rapiden Erschöpfung der Rohmaterialien […], anderen Wirtschaftszweigen (wurden) die letzten Mittel und Reserven genommen. Der parallel dazu notwendig gewesene Ausbau des Transportwesens wurde überhaupt nicht in Angriff genommen, und schon Anfang 1917 zeigte sich, dass das Programm scheitern musste und das Ganze auch im Chaos enden würde“ (S. 674f.).
Selbstverständlich artikuliert Manfried Rauchensteiner als Militärhistoriker sein ureigenes Interesse am Zustand der Streitmacht, vor allem am tragischen Schicksal der Soldaten. Dieses sei der Bevölkerung nicht lange verborgen geblieben: „Verwundete, Genesende und Krüppel (gehörten) sehr bald zum Alltag des Hinterlands“ (S. 224). Verstorbene wurden zweckmäßiger Weise meist an Ort und Stelle beigesetzt, Offiziere und besonders Ausgezeichnete in Einzelgräbern, alle anderen in Massengräbern. Auch andernorts kam das Hierarchiegefälle zum Tragen: „Während bei Offizieren massenhaft Neurasthenien festgestellt wurden, galten nervlich ruinierte Soldaten als Hypochonder. […] Soldaten, die nicht entsprachen, wurden […] nicht abgelöst […]. Sie blieben an der Front. […] Soldaten, die als sogenannte Kriegszitterer auf den psychiatrischen Kliniken landeten, wurden dort mit Stromstößen behandelt, und obwohl das damals letzter Stand der Wissenschaft war, kann man die dabei verspürten Qualen nur als unmenschlich bezeichnen.“ Offizieren, insbesondere den Generalen, ersparte man eine derartige Tortur. Daten und Überlegungen zum Verhalten und zum Kampfwert der k. u. k. Truppen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Nationalität stellt der Verfasser unter der vielsagenden Überschrift „Von Helden und Feiglingen“ (S. 329ff.) vor. 1914 waren sowohl „Offiziere wie Mannschaften glatt überfordert – und sie muteten sich auch zu viel zu“, die Suche nach Schuldigen traf auch die höheren Kommandeure in unerwartetem Ausmaß. Bis Jahresende wurden unter den „Armeekommandanten vier von sechs, auf der Ebene der Korpskommandanten 6 von 17, rund 10 Divisionskommandanten, zwei Dutzend Brigade- etc. -kommandanten wegen Nicht-Entsprechens von einem Tag auf den anderen abgelöst und […] zu Versagern gestempelt, manch einer zerbrach in diesem Moment“ und suchte den Tod (S. 243f.). Ähnlich makabre Szenen sollten sich wieder bei Kriegsende abspielen: „Offiziere, die plötzlich heimat- und perspektivlos geworden waren, begingen Selbstmord. Da schloss sich dann der Kreis von [Alexander Graf] Christalnigg [Major u. Stabschef der 15. Infanteriedivision, Selbstmord August 1914] über [Franz] Paukert [Feldmarschallleutnant u. Kommandant der 16. Infanterietruppendivision, Selbstmord September 1914] zu Eduard von Böltz [Feldmarschallleutnant u. Kommandant der 19. Infanteriedivision, Selbstmord November 1918]“ (S. 1054). Eine komparatistische Betrachtung der Motive der Suizide militärischer Führer zu Ende des Zweiten Weltkriegs könnte interessante Ergebnisse zeitigen.
Darüber hinaus widmet die Studie ihre Aufmerksamkeit unter anderem den rechtsgeschichtlich bedeutsamen Themen der Kriminalität und der Tätigkeit der regulären Militärgerichte, der Feldkriegsgerichte und der Standgerichte. Bei aller Vorsicht dem überlieferten statistischen Material gegenüber scheint es, „dass die Kriminalität im Krieg generell zurückging – nicht gleichmäßig, doch auffallend, und bis Ende 1916 deutlich unter den Zahlen von Verbrechen und Vergehen in Friedenszeiten blieb“, da Kriminelle als Soldaten „unter besonderer Aufsicht standen und […] Ortsfremde in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren“, womit „auch der Kriminaltourismus kein Thema mehr (war). Ab 1917, also mit der wachsenden Not, nahmen die Verbrechensfälle wieder zu und stiegen schließlich sprunghaft an.“ Große Unterschiede herrschten in der Spruchpraxis der genannten Gerichte. Während die regulären Militärgerichte „meist mit außerordentlicher Milde urteilten“, waren die Feldgerichtsverfahren, die keine aufschiebenden Rechtsmittel kannten und auch Zivilisten betrafen, von rigoroser Strenge und Unberechenbarkeit gekennzeichnet. „Ab Mai 1915 galt das Feldverfahren als vereinfachtes Strafverfahren auch für die Steiermark, Kärnten, Krain, das Küstenland, Tirol und Vorarlberg. Die Todesstrafe konnte […] auf alle Verbrechen angewendet werden, war also weniger eingeschränkt als das standrechtliche Verfahren an sich. […] Im frontnahen Bereich, also in den Gebieten, die als Kriegsgebiet galten, hatten die meisten Offiziere - jedenfalls ab der Funktion von Unterabteilungskommandanten -, aber auch Gendarmeriewachtmeister das Recht, ihnen Verdächtige ohne Gerichtsverfahren hinrichten zu lassen. Willkür war an der Tagesordnung“ (S. 988f.). Um der zunehmenden Fahnenflucht Einhalt zu gebieten, war erst ab März 1915 das Standrecht „für Fälle, die als ‚Verbrechen der Desertion‘ gewertet wurden“, zur Anwendung gekommen. „Am 16. März 1915 erfolgte die Verlautbarung […], wonach Deserteure gemäß § 444 Abs. 2 der Militärstrafprozessordnung, wenn sie für schuldig befunden wurden, zum Tod zu verurteilen waren. […] Die Standgerichte mussten rasch zusammentreten, möglichst die Verhandlung in einem durchziehen und für einen Schuldspruch Einstimmigkeit erzielen. Kam irgendein Faktor nicht zustande, war das ordentliche Verfahren einzuleiten. Der Kommandant eines Standgerichts hatte – wenn es ihm vom Kaiser eingeräumt worden war – das Begnadigungsrecht. Andernfalls war die Todesstrafe binnen zwei Stunden nach Urteilsverkündung zu vollstrecken.“ Die Höchststrafe für Desertion war den Gepflogenheiten in anderen Armeen vergleichbar; Deserteure wurden in Österreich allerdings seltener als in Frankreich, Italien und Russland, aber häufiger als im deutschen und im britischen Heer bestraft. Der brisanten Frage, ob hier die unterschiedliche Häufigkeit der Bestrafung mit einem jeweils geringeren oder höheren Ausmaß des Auftretens des Delikts korreliert, geht der Band leider nicht nach, auch der naheliegende Vergleich mit dem Agieren der Militärgerichtsbarkeit der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg unterbleibt. Als sich Kaiser Karl ab August 1917 alle Todesurteile zur Bestätigung vorlegen ließ, „gingen die Verfahren weiter zurück“ (S. 986f.).
All das und noch viel mehr verteilt der Verfasser kenntnisreich auf insgesamt 32 von jeweils einer aussagekräftigen, ganzseitigen Schwarzweißfotografie gekrönte Erzählkapitel nebst Epilog, Nachwort, Danksagung und Widmung, auf ein Vorwort verzichtet er. Der Einstieg erfolgt somit unmittelbar in den „Vorabend“ des großen Völkerschlachtens, einem Sog gleich wird der Leser in das Geschehen gezogen, das Manfried Rauchensteiner unter weitgehendem Verzicht auf eine Vertiefung geschichtstheoretischer Fragestellungen in epischer Breite und mit einem außerordentlichen Materialreichtum zur Darstellung bringt. Vor allem seine starke Betonung der Verantwortlichkeit Kaiser Franz Josephs wird mit Sicherheit Anlass zur Diskussion und zu weiteren klärenden Studien liefern. Ohne Zweifel hat sich hier, was die österreichisch-ungarische Perspektive angeht, ein Standardwerk ersten Ranges zum Ersten Weltkrieg etabliert, für das derzeit kein Äquivalent namhaft gemacht werden kann.
Kapfenberg Werner Augustinovic