Raim, Edith, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 96). Oldenbourg, München 2013. 1237 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die vorliegende Untersuchung stützt sich zu wesentlichen Teilen auf das Datenprojekt des Instituts für Zeitgeschichte zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen (NSG; S. XI, XIII) und auf die bisher kaum herangezogene Gegenüberlieferung der westlichen Alliierten, die sich in deren Archiven befindet. Wie Raim zu Recht feststellt, fehlte bislang eine „quellengestützte Gesamtschau über den Wiederaufbau der Justiz in den Westzonen“ (S. 6) und über die Verfolgung von NS-Verbrechen durch deutsche Gerichte zwischen 1946 und 1949. Nur eine solche Gesamtschau kann vermitteln, dass die Verfolgung von NS-Verbrechen auf deutscher Seite, die bis heute noch nicht vollständig abgeschlossen ist, in der Besatzungszeit ihren absoluten Höhepunkt erreichte (S. 656f.; über 13.000 Ermittlungsverfahren und Strafprozesse); 70% aller Verurteilungen wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Westdeutschland erfolgten während der Besatzungszeit (S. 16). Ferner hat die seit 1950 wieder auf einheitlicher Grundlage arbeitende Justiz in den westlichen Bundesländern ihre Grundlage in der Besatzungszeit. Mit Recht hat Raim die „Rekonstruktion der Justizverwaltung und die westdeutsche Ahndung der NS-Verbrechen“ miteinander verbunden: „Die Verfolgung der NS-Verbrechen war ein Gradmesser für das Funktionieren der wieder aufgebauten Justiz und ein wichtiger Indikator für die Transformation des Unrechtsstaats zum Rechtsstaat, umgekehrt wird man deutsche Ermittlungen und Urteile aus der Besatzungszeit nicht würdigen können, ohne nicht wenigstens einige Kenntnisse über die Schwierigkeiten und den zeitlichen Verlauf des Justizaufbaus zu haben“ (S. 16). Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Darstellung der Landesjustizministerien wegen der dürftigen Überlieferung kaum möglich war (S. 124). Auch ist zu beachten, dass trotz der Vielzahl der vorhandenen Quellen zur Verfolgung der NS-Verbrechen der „Aktenschwund immens“ ist (S. 14). Die Heranziehung des alliierten Quellenmaterials geschieht nicht nur zur Lückenausfüllung, sondern ist zum Verständnis der Wiedererrichtung der deutschen Justiz unumgänglich: „Die amerikanischen, britischen, französischen und deutschen Stimmen“, die aus den Quellen sprechen, „ergeben einen vielstimmigen Chor der Multiperspektivität, der die Internationalität der Besatzungszeit auch in der Darstellung reflektiert“ (S. 7).

 

Die Untersuchungen Raims verstehen sich als „Beitrag zur Rechtsgeschichte und zur zeithistorischen Kriminalitätsforschung“ (S. 15), die von drei Leitlinien ausgehen, nämlich von der Frage, wie die westlichen Alliierten beim Wiederaufbau der deutschen Justizverwaltung vorgingen, welche „Arbeitsteilung“ hinsichtlich der Verfolgung von NS-Verbrechen bei alliierter und deutscher Justiz „herrschte“ und welche Tatkomplexe von NSG von der deutschen Justiz bearbeitet wurden und wie erfolgreich diese Ahndung war (S. 17). Das Werk zerfällt in zwei Teile: Wiederaufbau der deutschen Justiz in den Westzonen unter alliierter Aufsicht (1945-1949; S. 19-500) und Verfolgung von NS-Gewaltverbrechen unter Berücksichtigung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit [VgM]; S. 501-1171). S. 19ff. geht es zunächst um die Rechtsabteilungen der westlichen Alliierten (britische und amerikanische Legal Divisions und französische Direction Général de la Justice), deren Court Branches die Gerichte auf Länderebene bis 1948/1949 kontrollierten. Ziel der Besatzungsmächte war es, den Status quo von Anfang 1933 in der Rechtspflege und der Justiz wieder herzustellen und über die Gerichte nur eine indirekte und begrenzte Kontrolle auszuüben. Die Aufhebung von Strafurteilen erfolgte nur in sehr seltenen Fällen. Mit Recht weist Raim darauf hin, dass die Reiseberichte der alliierten Rechtsabteilungen eine wichtige Quelle für den Wiederaufbau der deutschen Justiz seien (S. 63). Weitere Abschnitte befassen sich mit der Wiedereröffnung der deutschen Gerichte (S. 71ff., S. 137ff.; u. a. der Oberlandesgerichte und des OGH für die Britische Zone; zur Wiederherstellung der Schöffen- und Geschworenengerichte). In der Britischen Zone hatten die OLG-Präsidenten bis Oktober 1946 die Kompetenz, Gesetze zu erlassen (S. 111ff.). Als „Ersatz für das Reichsjustizministerium“ schufen die Briten für ihre Zone als zentrales Organ der Justizverwaltung das „Zentral-Justizamt“ in Hamburg (S. 129ff.).

 

Nach dem Abschnitt über die „physischen Bedingungen des Wiederaufbaus der Justiz“ (S. 137ff.) folgen Kapitel über die Arbeit der deutschen Justizbehörden (S. 203ff.). Aufschlussreich sind die Passagen über die Arbeit der deutschen Justizverwaltung in den Augen der Alliierten und über die Verständigungsschwierigkeiten im juristischen Bereich mit den Amerikanern und Briten (S. 263ff.). Ein umfangreiches Kapitel ist der Entnazifizierung der Justiz gewidmet (S. 277-500), jeweils getrennt für die Personalpolitik in den drei westlichen Zonen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das „amerikanische Entnazifizierungsprogramm am stärksten von Rigorismus“ und das der Briten von Pragmatismus geprägt war und dass das „Vorhaben der Franzosen am ehesten durch eine Mischung aus Realitätssinn und Zynismus gekennzeichnet“ war (S. 419). In allen drei Zonen waren die Spitzenpositionen der Justiz unbelasteten Juristen vorbehalten, während die übrigen Richterstellen, um dem gravierenden Personalmangel zu begegnen, zunehmend auch mit Mitgliedern der NSDAP besetzt wurden, wobei Parteieintritte ab 1937 als weniger gravierend angesehen wurden als solche, die bis 1933 einschließlich erfolgten (zur Huckepack-Regelung in der Britischen Zone, die dort nur bis zum Frühjahr 1946 Bestand hatte, S. 382ff., 391). Bei aller Kritik an der Entnazifizierung hatte diese den Juristen „schmerzlich klar gemacht“, dass „sie in dieser Hinsicht genau wie alle anderen zur Verantwortung gezogen werden würden“ (S. 499; Sanktionen auch bei Fragebogenfälschungen). In der Amerikanischen Zone wurde die Entnazifizierung strenger gehandhabt als in den anderen Zonen, so dass zunächst eine große Personalnot herrschte (1947 waren erst 50-60% der erforderlichen Kräfte vorhanden). Dies änderte sich erst im Jahre 1949, in dem in den OLG-Bezirken München, Nürnberg und Bamberg bereits 75,2% der wiederbeschäftigten höheren Justizbeamten Mitglied der NSDAP oder ihrer Gliederungen gewesen waren (S. 325; zur Entwicklung in Bremen S. 395ff.). Die Entnazifizierung der Justiz in der Französischen Zone ist insgesamt am besten dokumentiert, besonders für Württemberg-Hohenzollern, wo etwa die (Bezirks-)Notare „rein zahlenmäßig politisch am stärksten belastet waren“ (S. 441; 94% von ihnen gehörte der NSDAP an). Ohne Sanktion blieben von den ehemaligen Parteimitgliedern allerdings nur 16,3% (S. 443).

 

Der zweite Komplex der Untersuchungen beginnt mit einem breiten Abschnitt über die Verfolgung nationalsozialistischer Gewalttaten bis 1949 (S. 501-658). Generell waren die Alliierten (Militär-Gerichte) zuständig für die Ahndung von NS-Verbrechen an alliierten bzw. nichtdeutschen Opfern, während die Verfolgung der NSG an Deutschen und Staatenlosen durch deutsche Gerichte erfolgte. Parallel dazu wären auch die Spruchkammerverfahren, über die soweit ersichtlich bisher keine Gesamtdarstellung vorliegt, zu berücksichtigen, die ebenfalls nicht unerhebliche Sanktionen verhängten. Für die deutschen Gerichte war das deutsche Strafrecht, in der Britischen und Französischen Zone auch das KRG Nr. 10 insb. II 1 c (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) maßgebend. Da sich bei dieser Norm das Problem der Rückwirkung stellte, war ihre Anwendung nicht einheitlich. Auch wenn die deutschen Juristen „in ihrer Mehrheit“ die Anwendung der genannten Norm wohl ablehnten (so Raim, S. 1175), so bewirkte vor allem der OGH in einer Vielzahl von Entscheidungen für eine gewisse Einheitlichkeit (S. 593f.; hierzu auch OGH für die Britische Zone – Nachschlagewerk, hrsg. von W. Schubert, 2010, S. 89ff.). Das KRG Nr. 10 war in der Britischen Zone ab September 1949 nicht mehr anwendbar und wurde durch ein Gesetz vom 30. 5. 1956 formell aufgehoben (S. 608f.). Eingriffe der westlichen Alliierten in deutsche Verfahren waren wie erwähnt äußerst selten (S. 628ff.). In der Französischen Zone erregte das Verfahren gegen Tillesen, den Mörder des Reichsfinanzministers Erzberger (1921), das im Hinblick auf die Hindenburg-Amnestie vom 21. 3. 1933 vom Landgericht Offenburg eingestellt wurde, erhebliches Aufsehen. Nach Aufhebung des Urteils durch die Besatzungsmacht kam es zur Verurteilung Tillesens wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu 15 Jahren Zuchthaus (S. 644ff.). Die 13.600 westdeutschen NSG-Verfahren in der Besatzungszeit bilden die Grundlage der folgenden Darstellung. In einem ersten Abschnitt rekonstruiert Raim die antisemitischen Gewalttaten in der NS-Zeit durch die Justiz nach 1945 in zeitlicher Reihenfolge (S. 659-728; u. a. Tötungsverbrechen an Juden im Zusammenhang mit der Machtübernahme, Rassenschande, Ausschreitungen gegen Juden bis November 1938 und nach dem Novemberpogrom 1938, Problem der antisemitischen Propaganda [hier S. 705ff. zum Veit Harlan-Prozess], Friedhofsschändungen). Die folgenden Abschnitte befassen sich mit der Ahndung der wichtigsten Deliktsgruppen der NSG (beginnend mit den Verbrechen im „Rahmen der Formierung der ‚Volksgemeinschaft’“; S. 729-801). Hierbei geht es um die Verfolgung von Verbrechen, die an politischen Gegnern, an Geistlichen und an Frauen wegen sog. verbotenen Umgangs sowie um die Tötungen gegen Kriegsende. Einen sehr breiten Raum nimmt die Verfolgung von Verbrechen des Pogroms von 1938 und der Arisierungen ein (S. 803-944). Zum Pogrom fanden im Untersuchungszeitraum 2500 Verfahren bei westdeutschen Staatsanwaltschaften und Gerichten statt (17.700 Beschuldigte; 1076 Prozesse bis 1950; S. 918ff.). Straftaten im Zusammenhang mit der Arisierung, die bisher kaum beachtet wurden, betrafen Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Nötigung, räuberische Erpressung und Untreue (S. 921ff.). In dieser Beziehung wurden auch Notare verurteilt (S. 928, 931).

 

Einen „prominenten Anteil“ an den NSG-Verfahren nahmen die Denunziationsprozesse ein (S. 945-1006). Hierunter ist in Anlehnung an H. Feldmann, Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 1948, S. 48 zu verstehen eine „inhaltlich richtige Anzeige, die hinzielt auf die Einleitung eines behördlichen Verfahrens“ (S. 946). In der Britischen und Französischen Zone konnten Denunziationen auch nach dem KRG 10 (VgM) bestraft werden, das in der Amerikanischen Zone nicht anwendbar war, so dass ihre Verfolgung vor den dortigen örtlichen Gerichten schwierig war (S. 998ff.). Bereits zwischen 1946 und 1959 fanden Prozesse zur Ahndung von Straftaten in den auf deutschem Boden gelegenen Konzentrationslagern und Haftstätten statt (S. 1006-1039); deren Verfolgung war allerdings wegen alliierter Zuständigkeiten eingeschränkt. Die Verfolgung von Zwangssterilisationen war grundsätzlich strafrechtlich nur erfolgreich, wenn sie an „rassisch Unerwünschten“ vorgenommen wurde (S. 1045ff.). Sehr breit wurde in der Besatzungszeit die Euthanasie strafrechtlich verfolgt (S. 1053-1094). Für die Besatzungszeit gelte: „So defizitär manche Entwicklungen zur ‚Euthanasie’ sein mögen, so ist doch festzuhalten, dass der wesentliche Verlauf der Verbrechen rekonstruiert und die Suche nach den Tätern aufwendig betrieben wurde“ (S. 92). Schwieriger war die Verfolgung von Verbrechen, die über die Grenzen des Reichs hinaus reichten, wie die Deportationen deutscher Juden in den Osten (S. 1095ff.) und die Massenverbrechen in den besetzten Gebieten (S. 1137ff.). Auch wenn die „juristische Beschäftigung mit dem Tatkomplex der Deportation aus dem Reich“ nur als „ungenügend“ angesehen werden kann, ist auch aus rechtshistorischer Sicht die Auseinandersetzung mit den „unbefriedigenden Verfahren“ lohnenswert (S. 1134f.). Das Gleiche gilt für den Beginn der Ahndung der Massenvernichtungsverbrechen im Osten, deren Verfolgung bis Ende 1949 für die deutsche Justiz weitgehend ausgeschlossen war. Gleichwohl sind die noch nicht sehr zahlreichen Verfahren gegen Deutsche (z. T. aufgrund alliierter Genehmigung; vgl. S. 1147) untersuchenswert (S. 1137ff.). Gegenstand von Prozessen waren bereits Verbrechen in den KZ Auschwitz, Sobibor und Treblinka sowie in Zwangsarbeiterlagern; hochrangige SS-Leute wurden in Polen verurteilt (S. 1184). Die meisten „Zielorte der Deportation“ von Juden in den Osten waren den Ermittlern bekannt (S. 1150; insbes. Verurteilungen von VgM in Litauen).

 

Das Werk Raims wird abgeschlossen mit einem kurzen Schlussteil (S. 1173-1182) und einem Register, das die zeithistorisch wichtigen Personen erschließt (S. 1128-1137). Hilfreich wäre es gewesen, wenn Raim die Funktionen der nachgewiesenen Personen jeweils hinzugefügt hätte. Sachregister und Ortsregister hätten nicht fehlen sollen. Auch wenn Raim die Verfahren immer nur „beispielhaft als Schlaglichter“ untersucht (S. 16), so ist gleichwohl die Anzahl der erwähnten Verfahren sehr groß, so dass der Leserschaft durch den Umfang der Arbeit „viel zugemutet“ wird (S. 16). Mitunter werden Strafprozesse und Ermittlungen etwas umfangreicher mit Hinweisen auf oft zahlreiche Pressestimmen behandelt. Bei der von Raim angestrebten „Gesamtschau“ hinsichtlich der genannten Themenbereiche mussten Wünsche offen bleiben, insbesondere hinsichtlich einer detaillierteren Behandlung der Eröffnung der Gerichte und deren Erstbesetzung. Für den deliktsrechtlichen Teil wären mitunter aussagekräftigere Resümees hilfreich gewesen. S. 9 weist Raim auf die Schwierigkeit hin, dass der Historiker „die rechtlichen Sachfragen, die die Justiz damals bewegten (oder merkwürdigerweise eben nicht bewegten!), natürlich nur beschreiben kann, sich nicht aber zu einer eigenen Rechtsmeinung versteigen sollte“ (S. 9). Insoweit liegt hier ein erst teilweise bearbeitetes Feld insbesondere der Strafrechtsgeschichte vor. Nicht näher eingehen konnte Raim auf die strafrechtlichen Verfahren vor den alliierten Militärgerichten, die, von den Nürnberger Gerichten abgesehen, zusammenfassend noch nicht erschlossen sind, und auf die Entscheidungen der Spruchkammern, die wie erwähnt anfangs nicht unerhebliche Strafen verhängten. Mit Recht stellt Raim fest, dass bis heute die Bedeutung der Verfolgung der NS-Verbrechen in der Besatzungszeit „für den Demokratisierungsprozess in Westdeutschland unterschätzt wird“ (S. 1177). Für diese Zeit kann man durchaus von „eigenständigen Leistungen der Justizverwaltung“ sprechen (S. 1179). Angesichts des von Raim ausgebreiteten Materials kann Westdeutschland kaum der „Vorwurf einer verspäteten Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gemacht werden“ (S. 1181), so unvollkommen sie mitunter auch gewesen sein mag. Mit ihrem sozialgeschichtlich ausgerichtetem Werk hat Raim die überaus wichtige Phase der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen zwischen 1945 und 1950 minutiös rekonstruiert, welche die volle Aufmerksamkeit auch der Rechtshistoriker verdient.

 

Kiel

Werner Schubert