Plöckinger, Othmar, Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär 1918 – 1920. Schöningh, Paderborn 2013. 377 S. 26 Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

In seiner 2012 die Ergebnisse seiner langjährigen Forschungsarbeit noch einmal prägnant zusammenfassenden „Geschichte des Dritten Reiches“ hat der Historiker Klaus Hildebrand die eminente Bedeutung der Person Adolf Hitlers für das Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaft einmal mehr herausgestrichen. Unter anderem führt er aus, dass es „der öffentlich bekundete und ständig wirkende Wille Hitlers, die ‚Judenfrage‘ möglichst total zu lösen,“ gewesen sei, der „entscheidend dafür war, dass […] in den Jahren des Zweiten Weltkrieges ganz unterschiedliche Gelegenheiten und Anlässe dazu benutzt werden konnten, die ‚jüdische Frage‘ in ständiger Steigerung ihrer Vernichtungsintensität zu ‚lösen‘“. In Anlehnung an Joachim C. Fest gelte, dass das, was „in Himmler und der SS zutage trat, nie etwas anderes (war) als der Vollzug dessen, was Hitler ausdrücklich gewollt oder was in der Konsequenz seines Willens lag“ (Hildebrand, S. 60f. u. S. 125). Der - wie neuere Forschungen fortlaufend bestätigen - nur unter Einbeziehung breiter Schichten der deutschen Bevölkerung mögliche und in die Tat gesetzte Holocaust stand am Ende dieser Entwicklung. Umso dringender stellt sich daher immer wieder die Frage, welche Umstände und Einflüsse zu welcher Zeit Hitlers radikalen Antisemitismus initiiert und befördert haben.

 

Spekulationen der älteren Literatur reichen dahingehend bis in die Jugendzeit des Diktators zurück und haben, darin seiner Selbstdarstellung in „Mein Kampf“ aufsitzend, vor allem dessen Wiener Jahre ins Visier genommen. Brigitte Hamann („Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators“, 2. Aufl. 1996) konnte Zweifel an dieser These ebenso überzeugend namhaft machen wie Thomas Weber („Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg – Mythos und Wahrheit“, 2010) für Hitlers Prägung im Ersten Weltkrieg, und mit Anton Joachimsthalers „Hitlers Weg begann in München 1913-1923“ (2000) geriet dessen Sozialisation in der bayrischen Metropole immer mehr in den Fokus der Forschung. Ungeachtet aller Thesen und Vermutungen steht darüber hinaus fest, dass der lange bekannte und berühmte Brief, den Hitler dort am 16. September 1919 in Beantwortung einer Anfrage des Gefreiten Adolf Gemlich an Hauptmann Karl Mayr verfasst hat (sogenannter Gemlich-Brief), bis dato seine früheste quellenmäßig fassbare und ideologisch geschlossene antisemitische Äußerung geblieben ist.

 

Der Salzburger Pädagoge, promovierte Historiker und Privatgelehrte Othmar Plöckinger gilt in der Fachwelt vor allem als Experte für Hitlers programmatische Bekenntnisschrift „Mein Kampf“, deren historisch-kritische Ausgabe unter seiner Mitarbeit vom Institut für Zeitgeschichte in München (IfZ) vorbereitet wird. Mit seinem jüngsten, hier vorliegenden Werk knüpft er an Joachimsthalers Vorarbeit an, mit dem Anspruch, dessen durch eine „starke Konzentration auf die Person Hitlers und die zu geringe Beachtung seines militärischen Umfeldes“ verursachte „Fehldeutungen und Verkürzungen“ (S. 11f.) zu korrigieren. Zu diesem Zweck nimmt der Verfasser die ereignisreiche, nach dem Sturz der Monarchie von einer sozialistischen Regierung, der kurzlebigen Räterepublik und - nach deren Niederwerfung - der Vorherrschaft des Militärs charakterisierte Zeit von Hitlers Zuteilung zum 2. Infanterie-Regiment nach seiner Rückkehr nach München im November 1918 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Militär Ende März 1920 in den Blick. Gegenstand der Analyse sind ihm dabei zwei für Hitlers persönliche und politische Entwicklung maßgebliche Felder: die „komplexe(n) und nicht selten widersprüchliche(n)“, selbst für „beteiligte Zeitgenossen nicht immer überschaubar(en)“ Strömungen und Abläufe (S. 12), die das Militär in Bayern in der Umstellung vom alten Weltkriegsheer zur neuen Reichswehr kennzeichneten, sowie die ideologischen und propagandistischen Verhältnisse in Bayern im Hinblick auf den Antibolschewismus und den Antisemitismus inklusive einer Bestandsaufnahme der „ideologischen Versatzstücke des Antisemitismus, wie sie sich in den Schriften und Publikationen dieser Zeit darstellten“ (S. 13).

 

Zunächst ist festzuhalten, dass, „so unbefriedigend es letztlich sein mag, die vorhandenen Quellen keine konkreten Rückschlüsse auf die politischen Einstellungen Hitlers in der Zeit bis März 1919 zu(lassen), und das Wenige, das sich allgemein sagen lässt, nicht im Widerspruch zu seinen eigenen spärlichen Angaben (steht)“. Zu einer schon von Joachim C. Fest publizierten Fotografie, deren Originalvorlage unauffindbar ist und die Hitler als Angehörigen der schlecht beleumundeten, in die Turbulenzen nach der Ermordung Kurt Eisners im Februar 1919 involvierten Wache am Hauptbahnhof München zeigen soll (Abb. 5 der insgesamt 26 Schwarzweiß-Reproduktionen des Bandes), bemerkt der Verfasser nach quellenkritischer Prüfung, dass es „zweifelhaft“ sei, „ob es sich einerseits überhaupt um eine Aufnahme vom Münchner Hauptbahnhof handelt und ob andererseits tatsächlich Hitler darauf zu sehen ist“ (S. 41).

 

Othmar Plöckinger stellt unter anderem spektakuläre, aber irrige Annahmen Joachimsthalers zur frühen politischen Orientierung Hitlers richtig, der aus der Erwähnung von dessen Mitwirkung an einer Sitzung von Vertrauensleuten während der Rätezeit vorschnell diesem „eine Nähe zur Linken“ (S. 42) attestiert hat; eine präzise Klärung des Sachverhalts ergebe, dass Hitler lediglich „an einem harmlosen Treffen zu Verwaltungsfragen“ teilgenommen habe und demnach „zu dieser Zeit nicht nur kein Soldatenrat (war), er war nicht einmal ein ordentlicher Vertrauensmann für die Vermittlung von Arbeitsstellen in der Landwirtschaft – er war lediglich ein kurzfristiger Ersatz, da die gewählten Soldatenräte Wichtigeres zu tun hatten“ (S. 45). Im Kontext der militärinternen Hexenjagd nach der Beseitigung der Räteherrschaft bis Juni 1919 erscheint Hitler als festes Mitglied einer dreiköpfigen Untersuchungskommission seines Regiments zur Namhaftmachung jener Soldaten, „deren Zugehörigkeit zur ‚Roten Armee‘ oder spartakistische, bolschewistische, kommunistische Umtriebe nachgewiesen werden können“ (S. 86). Es sei deshalb „einmal mehr auszuschließen, dass Hitler in seiner Zeit als Kasernenrat eine Nähe zur Räteregierung gezeigt haben könnte“, was „ohne Zweifel seine sofortige Entfernung aus der Kommission und seine Verhaftung nach sich gezogen“ hätte, und auch die „beabsichtigte Einbettung in ein mehrheitssozialistisches Umfeld“ erweise sich „als verfehlt“ (S. 88f.). Die Quellenlage lasse „Hitlers eigene Angaben […] als die plausibelsten erscheinen“, sodass „alles für die Annahme (spricht), dass er sich als erklärter Gegner der Räterepublik in den Kasernenrat wählen ließ“ (S. 90f.).

 

Andere Äußerungen in „Mein Kampf“ seien hingegen weniger verlässlich; Hitlers Teilnahme an einem der völkisch-national dominierten Reichswehrkurse, die „ausgewählten Offizieren und Mannschaften eine grundlegende politische Schulung angedeihen“ lassen sollten, um sie - wie Hitler anschließend im Durchgangslager Lechfeld - „nach deren Abschluss als ‚Bildungsoffiziere‘ und antibolschewistische Propagandisten einsetzen zu können“ (S. 103), erfolgte „mehr als einen Monat später als bisher angenommen“ (S. 112). Hitlers „widersprüchliche Angaben seiner ersten Kontakte mit der Partei [im September 1919] in ‚Mein Kampf‘ kaschieren eine […] Verflechtung der Interessen beider Seiten. Denn seine Mitarbeit in der DAP [der Vorläuferin der späteren NSDAP], deren antibolschewistische und antisemitische Ausrichtung dem Geist der Reichswehr entgegen kam, wurde nicht nur geduldet, sondern gefördert und daher seine Entlassung aus dem alten Heer verzögert“ (S. 153). Hitler, dessen „nachweisbare Aufgaben im militärischen Bereich sich […] auf ein Minimum (beschränkten)“ und der schließlich beim Schützenregiment 41 „offensichtlich […] die Regimentsbibliothek betreute“, zeige „das Bild eines in und von militärischen Stellen gut versorgten Aktivisten, der der aufstrebenden DAP als Leihgabe zur Verfügung gestellt wurde“. Am 31. März 1920 schied er, da als Österreicher von der Übernahme in die Reichswehr ausgeschlossen, aus dem Militär aus, mittlerweile „nicht nur zu einem hoch politisierten Soldaten, sondern auch zu einem politischen Propagandisten geworden“, der „nicht zuletzt als Bibliothekar seines Regiments intensiven Kontakt zu den im alten Heer und der Reichswehr verbreiteten Schriften und Publikationen hatte“ (S. 177f.).

 

Was diese Literatur angeht, spricht der Verfasser von einer „Leerstelle der Forschung“, versanken doch „viele in dieser Zeit agierende und publizierende Personen […] in der Bedeutungslosigkeit und wurden von der Forschung kaum je wahrgenommen, sofern sie nicht mit dem weiteren Aufstieg Hitlers und der NSDAP verbunden waren“. Darüber hinaus erwiesen sich „die Versatzstücke völkischer, antisemitischer und antibolschewistischer Publizistik und Agitation als widersprüchlich und in einigen Fällen als konfliktreich und damit keineswegs als beliebig austauschbar“ (S. 181f.). Konkret: „Der Antisemitismus speiste sich aus antibolschewistischen Quellen nicht minder als aus antikapitalistischen, war mit wirtschaftlichen Elementen ebenso durchsetzt wie mit religiösen, politischen und rassischen. Dass es daneben aber auch einen vehementen und einflussreichen Antibolschewismus gab, der auf antisemitische Töne weitgehend verzichtete, ja sogar dezidiert anti-antisemitisch war, zeigt, wie komplex die Gemengelage war, die der Versailler Vertrag seit dem Sommer 1919 obendrein mit noch radikaleren antirepublikanischen Affekten anreicherte“ (S. 183). Dadurch bedingt, dass es „in den militärischen Führungskreisen einen breiten antisemitischen Konsens gab“, wurden gerade im durch besondere Verhältnisse geprägten Bayern „die Soldaten […] zu einer zentralen Zielgruppe der antisemitischen Propaganda“ und vor allem „Angehörige der Reichswehr […] immer wieder in antisemitische Aktionen verwickelt“ (S. 210f.). Dabei erwiesen sich zunächst „die tradierten antisemitischen Bilder und Vorstellungen als wesentlich wichtiger und wirkungsmächtiger als die zu diesem Zeitpunkt ebenso kurzlebigen wie katastrophalen bolschewistischen Experimente“, nämlich „Kriegsschuld, Revolution und das Verhalten der Juden im Krieg“ (S. 285f.), ferner die Presse, das Freimaurertum, der Talmud und das Judentum zwischen Religion und Rasse. So fand nicht der Bolschewismus, aber sehr wohl Kriegsgewinne, Wucherei und Schieberei (Punkte 12 und 18), die Presse (Punkt 23) und die Bekämpfung des „jüdisch-materialistischen Geist(es) in und außer uns“ (Punkt 24) Aufnahme im Programm der NSDAP.

 

Im definitorischen Zwiespalt zwischen Religion und Rasse nahm Hitler „den Rassenbegriff wesentlich ernster als viele seiner antisemitischen Zeitgenossen“ (S. 310). Die abschließende Analyse des Gemlich-Briefes, die Plöckinger vornimmt, ergibt, dass er sich „in allen Bereichen auf der Höhe des antisemitischen Diskurses dieser Tage (zeigte), aber auch gleichzeitig jeden eigenständigen Gedanken vermissen (ließ), von einer Radikalisierung der gängigen Vorstellungen ganz zu schweigen“. Obwohl er alles daran setzte, sich „als Denker sui generis, der Belege und Quellen für seine Erkenntnisse nicht nötig“ habe, zu präsentieren, traf „nichts freilich weniger zu als das“ (S. 332). „Der Jude“ war Hitler unbestreitbar „Zentrum allen Denkens“, aber „diesen Weg waren freilich viele vor ihm und viele mit ihm gegangen, auf die er sich stützen konnte und die ihn stützen wollten“ (S. 340).

 

In Summe entwirft der Verfasser unter Nennung der bisher oft nur wenig beachteten, aber damals einflussreichen Protagonisten, Gruppierungen und Publikationsorgane ein sehr präzises und differenziertes Panorama der militaristischen und vom Einfluss völkisch-nationalen Gedankenguts geprägten Verhältnisse in Bayern im ausgehenden zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die in Auseinandersetzung mit der einschlägigen Fachliteratur (das umfangreiche Verzeichnis listet getrennt die Schriften vor und nach 1945 auf) erarbeitete, im Wesentlichen auf Beständen des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, Kriegsarchivs München gründende, plausible Darstellung liefert einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der frühen Genese des Nationalsozialismus. Indem sie Hitler, der seine Erfahrungen mit „zahllose(n) andere(n) Soldaten teilte“, aber es wie kein anderer verstand, „sich die gebotenen Möglichkeiten mit zunehmender Erfahrung […] energisch zunutze zu machen“ (S. 343), in eine greifbare, breit verankerte geistige Tradition stellt, umreißt sie nicht nur Hitlers persönliche und politische Sozialisation; sie liefert darüber hinaus neue Denkanstöße für eine Kontinuitätsdiskussion und bietet zugleich ein schlüssiges Erklärungsmuster an für das spätere Wegschauen und Mitmachen so vieler im Prozess der Ausgrenzung und der Extermination der jüdischen Bevölkerung. Wenn im erwähnten Gemlich-Brief Hitlers „die Zurückweisung eines ‚Gefühlsantisemitismus‘ und die Forderung nach einem ‚rationalen‘ Antisemitismus, der bestimmt sei durch ‚die Erkenntnis von Tatsachen‘“ als ein „zentraler Punkt“ auftaucht (S. 333), so entsprach dies in der Konsequenz zwei Jahrzehnte später genau der Linie der SS, die, auf Hitler eingeschworen und sich in ihrem systematischen Vorgehen vom Radau-Antisemitismus der SA bewusst abgrenzend, bei Eintreten der entsprechenden Konstellation schließlich mit kalter Präzision und weitgehend ohne Schuldbewusstsein den Holocaust vollzog.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic