Nörr, Knut Wolfgang, Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren erster Instanz in civilibus. Springer, Heidelberg 2012. XVII, 241 S. Besprochen von Roland Kleinhenz.

 

Kaum jemand hätte berufener sein können, die hier zu besprechende Monografie zu schreiben als der emeritierte Ordinarius für römisches Recht, neuere Privatrechtsgeschichte, Kirchenrecht und bürgerliches Recht an der Universität Tübingen, der sich bereits durch mehrere Einzelstudien auf diesem Gebiet international einen Namen gemacht hat. Hatte zuletzt Wiesław Litewski 1999 eine umfangreiche moderne Darstellung des römisch-kanonischen Zivilprozesses für den Zeitraum von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis etwa 1234 vorgelegt (W. Litewski, Der römisch-kanonische Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii. Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellońskiego (Jagiellonian University Press), 2 Halbbde., Krakau 1999; vgl. hierzu die Besprechung von G. Wesener in ZRG GA 121 (2004), S. 679-684), führt Nörr nun die Rechtsgeschichte dieses Prozessverfahrens, teilweise zeitüberschneidend, von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts fort. Allerdings wird, anders als bei Litewski, nur das Erkenntnisverfahren der ersten Instanz behandelt, also nicht das, insbesondere aus der Sicht des Prozesspraktikers, nicht minder interessante Appellationsverfahren (die „Berufung“ in der modernen Terminologie). Lediglich hie und da werden im Text Möglichkeiten der Appellation gegen diverse Entscheidungen der ersten Instanz erwähnt. Geografisch ist die Darstellung auf Rechtsentwicklungen in Deutschland und Italien beschränkt. Jedoch drang die Rezeption römischen Prozessrechts und seine Verbindung mit Grundsätzen kanonischen Prozessrechts zu einem einheitlichen prozessualen ius commune in ganz Westeuropa vor und beeinflusste auch dort in unterschiedlich starkem Umfang die Prozessrechtsentwicklung (s. jüngst etwa für Spanien: Ingo Fleisch, Rechtsstreit und Schriftkultur-Zum Vordringen des römisch-kanonischen Prozessrechts auf der Iberischen Halbinsel, in: Klaus Herbers und Ingo Fleisch (Hg.), Erinnerung - Niederschrift - Nutzung, Das Papsttum und die Schriftlichkeit im mittelalterlichen Westeuropa = Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, Bd. 11, 2011, S. 93-119; in England soll sich die Beeinflussung auf das Verfahren im Old Court of Chancery, also dem königlichen Kanzleigericht der Equity-Rechtsprechung, im Gegensatz zur Rechtsprechung der Common-Law-Gerichte, beschränkt haben, s. J. A. Jolowicz, On Civil Procedure. Cambridge University Press, Cambridge 2000, S. 205 Fn. 3; zur Rezeption romanisch-kanonischer Prozessrechtsautoren in Note-Books dreier englischer Juristen des 16. Jahrhunderts s. R. H. Helmholz (Hg.), Three Civilian Notebooks 1580-1640, London 2011; s. a. P. G. Stein, Römisches Recht und Europa, Frankfurt 1996, S. 145/146; für den kirchlichen Bereich: F. W. Maitland, Roman Canon Law in the Church of England: Six Essays. London 1898).

 

In der Einleitung (S. 1-8) weist der Autor zunächst zutreffend darauf hin, dass der Begriff „romanisch (oder römisch)-kanonisches Prozessrecht“ den Juristen, deren Haupttexte aus einem Zeitraum von gut 350 Jahren untersucht werden, unbekannt gewesen und vielmehr ein solcher der Geschichtsschreibung ist. Der Autor spricht sodann den Bearbeitungsgegenstand an. Es geht um zivilistische und kanonistische Rechtstexte, vor allem des Codex Justinianum aus dem 6. Jahrhundert n. Chr., des Decretum Gratiani (um 1140), um die Dekretalen, also päpstliche Rechtsetzung und die Bearbeitung all dieser Normen des weltlichen und kirchlichen Rechts durch Juristen der italienischen Rechtsschulen, allen voran Bologna. Die unterschiedlichen Rechtsquellen werden genannt, das Prozessrecht des ius commune einerseits (Gegenstand der Darstellung), dessen Normen durchdrungen werden einerseits von der Bearbeitung durch Juristen, partikularem Recht und Gerichtsgebrauch (stilus curiae) und andererseits von den Rechtsquellen der consuetudo, des Statutarrechts und der Stadtrechte. Leider zu kurz fällt die Beschreibung der Rechtsquellen aus (S. 6/7). Weder erfolgt eine Beschreibung der hauptsächlich herangezogenen römischen (Leges) und kanonischen (Canones) Texte noch der Juristen und deren vom Autor untersuchter Werke. Es wird also vorab beim Leser ein beträchtliches Grundwissen vorausgesetzt. Wie aus dem Quellenregister am Ende des Buches ersichtlich (S. 229-241), macht der Autor umfangreichen Gebrauch von den prozessualen Texten beider Rechte. Die Masse der vom Autor im Laufe seiner Untersuchung erwähnten gut 500 Normen aus dem Bereich der Leges entfällt auf den Codex Justinianum, das Digestum vetus und das Digestum novum, während bei den gut 400 Canones die Normen des Liber Extra fast drei Viertel der zitierten Normen, daneben der Liber Sextus und schließlich das Decretum Gratiani und die Clementinae, die Masse ausmachen. Die im Bereich der Legistik untersuchten Hauptautoren sind der bedeutende Glossator Azo und die Postglossatoren oder Konsiliatoren genannten Rechtsgelehrten Bartolus (de Sassoferrato oder Saxoferrato) und Baldus (de Ubaldis), daneben Cinus (de Pistoia, ein Freund Dantes). Zum Vergleich leider nicht herangezogen, sondern nur ganz vereinzelt erwähnt, werden prozessuale Bestimmungen aus diversen oberitalienischen Stadtrechten (s. hierzu etwa die neue Untersuchung von S. U. Tjarks, Das „Venezianische“ Stadtrecht Paduas von 1420., Berlin 2013; zur Stadt Nürnberg etwa, s. schon Daniel Waldmann, Die Entstehung der Nürnberger Reformation von 1479 (1484) und die Quelle ihrer prozeßrechtlichen Vorschriften, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, Bd. 18 (1908), S. 1-98; „bahnbrechend“ für die Verbreitung romanisch-kanonischen Prozessrechts in Deutschland waren ferner die Stadtrechtsreformationen von Frankfurt 1509, Worms 1499 und Freiburg i. Br. 1520, s. H. Mitteis/H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 15. Aufl., München 1978, S. 301), obwohl der Autor selbst die Wichtigkeit dieser Normkategorie für den Gegenstand der Untersuchung hervorhebt (S. 2 vor 2.). Die wichtigsten vom Verfasser konsultierten Autoren bei den Kanonisten sind Papst Innozenz IV., Hostiensis (Henricus de Segusio) und Johannes Andreae (Giovanni d’Andrea). Die Hauptschriften der wichtigsten Prozessualisten des 13. Jahrhunderts, Tancred (Schüler des Azo) und Duranti (Guilelmus Durand), Schüler des Tancred, werden selbstverständlich herangezogen. Ein spezifisch prozessrechtlicher Autor aus der Zeit von 1300 bis 1400 fehlt, nicht zuletzt aus Mangel an bedeutenden Texten aus dieser Zeit. An Hauptschriften von Prozessualisten aus dem 15. Jahrhundert werden herangezogen die des Petrus de Ferrariis, des Johannes Urbach (dessen Schrift Processus iudicii erstmals in Erfurt gedruckt wurde, und der insbesondere die deutsche Gerichtspraxis berücksichtigt, s. E. Landsberg in: ADB, Bd. 39 (1895), S. 345) und des Lanfrancus de Oriano. Den Schlusspunkt bildet der italienische Rechtslehrer Robertus Maranta mit seiner bedeutenden Prozessschrift: Tractatus de ordine iudiciorum, die erstmals 1520 erscheint und in einer Kölner Ausgabe von 1628 herangezogen wird. Die von Nörr benutzten Ausgaben all dieser Autoren stammen zumeist aus dem 15. oder 16. Jahrhundert (vgl. XVII). Ein Vergleich, wie bestimmte Streitfragen bei dem betreffenden Autor in früheren Ausgaben oder Handschriften behandelt wurden, unterbleibt grundsätzlich. Nicht herangezogen wurden die Werke weniger bedeutender Prozessualisten, wie z.B. des Erfurter Juristen Henning Göde (gest. 1521) (bekannt durch seine Schrift: Iudiciarii ordinis processus, Lyon 1561, zuvor schon 1538 von Johann Braun herausgegeben) oder des Octavianus Vestrius, gest. 1572, mit seiner Schrift: In Romanae aulae actionem et iudiciorum mores introductio, Venedig 1547. Zudem wurden bedeutende eher populärwissenschaftliche Schriften, die auch den Stand des romanisch-kanonischen Zivilprozesses schildern, wie der Klagspiegel von 1436 und der Laienspiegel (Erstdruck 1509; zur Überlieferung des romanisch-kanonischen Zivilprozesses dort hatte Nörr in einem Vortrag von 2009 allerdings Kritik geäußert, abgedruckt in A. Deutsch (Hg.), Ulrich Tenglers Laienspiegel. Ein Rechtsbuch zwischen Humanismus und Hexenwahn, Heidelberg 2011, S. 233-242), nicht herangezogen, was für die Diskussion einzelner Streitfragen eventuell bedauerlich sein mag. Schließlich fehlt eine Kategorie an Rechtsquellen fast völlig und dies dürfte das größte Manko der Arbeit sein, nämlich die Rechtsprechung (Kasuistik). Leider erklärt Nörr dies nicht. Er spricht bei seiner Vorstellung der Quellen lediglich davon, dass „gelegentlich die Dezisionen der Rota Romana“ zitiert würden (S. 6). Nach meiner Zählung geschah dies in der ganzen Abhandlung bei insgesamt fast 1.600 Fußnoten ganze 15 Mal, wobei teilweise nur indirekt zitiert wird unter Verweis auf die Entscheidung eines untersuchten Autors. Zitiert wird dabei zwar aus der bedeutendsten Rechtsprechungssammlung des hohen kirchlichen Gerichts der Rota Romana (den Decisiones novae, antiquae et antiquiores, s. hierzu L. Auer, W. Ogris, E. Ortlieb, Höchstgerichte in Europa: Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnung, Wien Köln Weimar 2007, S. 9), hier aus einer Ausgabe von 1555. Zitate weltlicher Rechtsprechung fehlen dagegen völlig. Dabei überzeugt die nicht näher begründete Bemerkung des Autors auf S. 7 nicht, dass, entgegen vielfachen Lehrmeinungen, Theorie und gerichtliche Praxis des romanisch-kanonischen Prozessrechts nicht pauschal als unterschiedlich zu werten seien. Also kommt es im Konkreten auf die Unterschiede an. Zumindest hätten bei einigen wichtigen Fragen exemplarisch weltliche und kirchliche Rechtsprechung zur Evaluierung der herangezogenen Lehrautorenmeinungen präsentiert werden müssen. Die Kasuistik ist, jedenfalls für den Prozesspraktiker, Richter und Parteivertreter, die wichtigste Rechtsquelle nach den Prozessrechtsnormen. Und wenn es im behandelten Zeitraum eventuell anders war, so hätte dies zumindest erläutert werden müssen. Die vielen Ausnahmen, die Nörr zu den einzelnen Prozessrechtsinstituten und Prozessrechtsbegriffen anhand der Lehrautoren präsentiert, lassen auf eine vielfach uneinheitliche, ja kontroverse Rechtsprechung schließen. Darüber berichten die Lehrautoren, teils kommentierend, doch sicherlich –wie heute auch - nicht immer korrekt. Ich werde noch mehrfach bei der Besprechung der einzelnen Kapitel auf dieses Manko fehlender Rechtsprechungsbelege zurückkommen. In diesem Zusammenhang wird auch ein Eingehen auf die frühen Reichskammergerichtsordnungen von 1495 und besonders die von 1555, in denen der romanisch-kanonische Prozess seinen Niederschlag gefunden hat – und sei es auch nur rudimentär -, vermisst, wie auch auf die prozessrechtliche Rechtsprechung des Reichskammergerichts, bzw. des Vorgängers Hof- und Kammergericht und ggf. auch des Reichshofrats. Nach dem Amtseid von 1495 der Reichskammergerichtsordnung vom 7. August 1495 hatten die Richter „nach des Reichs Gemainen Rechten“ zu urteilen, damit nach dem romanisch-kanonischen Recht, folglich auch nach dessen Prozessrecht (s. als Übersicht P. Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht, Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt 2002; P. Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich, Wien Köln Weimar, 2012; P. Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit, Forschungen zum vormodernen Zivilprozess, Wien Köln Weimar 2009; F. Battenberg/B. Schildt (Hg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Wien Köln Weimar 2010; B. Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451-1527), Wien Köln Weimar, 2003; W. Sellert, Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundsätzen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973; Noe Meurer, Practica von deß Cammer Gerichts-Ordnung vnd Prozeß…etc., Frankfurt 1566).

 

Der Autor stellt den romanisch-kanonischen Zivilprozess in insgesamt sieben Kapiteln vor. Die ersten beiden Kapitel handeln von den am Verfahren beteiligten Personen und vom Rhythmus des Verfahrens, während der eigentliche Verfahrensgang – und hier liegt zurecht der Schwerpunkt der Abhandlung - in den Kapiteln 3 und 4 dargestellt ist. Es folgt ein Kapitel über das richterliche Urteil und ein 6. Kapitel über das vereinfacht-summarische Verfahren, bevor in einem Schlusskapitel über die Herrschaft der Parteien und über die doch oft gegensätzlichen prozessualen Leitgrundsätze einer Zügigkeit einerseits und Gründlichkeit andererseits des Verfahrens eine Bilanz gezogen wird.

 

Gemäß dem vom Autor treffend vorangestellten Grundsatz, dass der Prozess ein dreiseitiges Geschehen ist, das sich zwischen Kläger, Beklagtem und Richter abspielt (Iudicium est actus trium personarum, S. 9), werden zunächst diese und weitere Prozessbeteiligte (wie Streitgenossen/Streithelfer) und außerdem die Parteivertreter im 1. Kapitel behandelt. Während die Aussagen zu Richter und Gerichtsverfassung nur ganz generell sind, sind diejenigen über die Delegationsgerichtsbarkeit und hier besonders über die päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit von besonderem Interesse. Insbesondere wird in diesem ersten Kapitel bereits die hohe Bedeutung, ja zuweilen Dominanz des kanonischen Prozessrechts für die Entwicklung hin zu einem einheitlichen romanisch-kanonischen Zivilprozessrecht evident. Die besonders interessanten Ausführungen zur Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit (§ 3, Ziff. 4) zeigen zahlreiche Gründe hierfür auf und der Verfasser betont zu Recht die besondere Praxisrelevanz dieses Rechtsinstituts, wie es auch heute der Fall ist. Gerade deswegen hätte er besonders die Kasuistik auswerten und in die Darstellung einbeziehen müssen, da die Richterablehnung typisches Richterrecht ist (Besorgnis der Befangenheit als unbestimmter Rechtsbegriff) und die in der Prozessrechtsliteratur regelmäßig nur schlagwortartig zitierten Ablehnungsgründe erst anhand der Darstellung von Rechtsfällen nachvollziehbar werden und allgemein das Verständnis von dem erweitern, warum bestimmte Tatsachen auf eine mögliche Befangenheit schließen lassen und andere nicht. Wenn der Autor, ebenfalls sehr interessant, in dem Abschnitt über die Drittbeteiligung am Verfahren die Ursprünge der Hauptintervention und Nebenintervention nach unserer heutigen Diktion und der Drittwiderspruchsklage darstellt, so bemerkt er seine Schwäche der grundsätzlichen Nichteinbeziehung von Kasuistik indirekt selbst, wenn er die Frage offen lässt, wie die Praxis in Fällen der „assistierenden Intervention“ verfahren sei, was aus den Texten nur schwer erkennbar sei (S. 26, Fn. 113). Gerade hier ist in einer lehrbuchartigen Darstellung die Einbeziehung von Rechtsprechung gefragt. So wird das Werk des Verfassers durch diese Lücke leider zu einer reinen Distinktion der Lehren der wichtigsten Prozessrechtslehrer. Bei der Darstellung der Parteivertreter ragt die Rolle des Anwalts und hier die Zweiteilung der Parteivertretung in procurator und advocatus heraus (§ 6). Die Kompetenzen dieser Parteivertreter hätten zur Abgrenzung besser erläutert werden müssen und es wäre durchaus ein Hinweis auf noch heute herrschende Zweiteiligungen in der anwaltlichen Parteivertretung, etwa in Großbritannien (barrister/solicitor) und Spanien (abogado/procurador) angebracht gewesen. Spiegelbildlich zu den Gründen der Richterablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit sind die Ausführungen zur „Befangenheit“ (besser: Interessenkonflikt) des Anwalts respektive zum Parteiverrat (Prävarikation) von ebensogroßem Interesse (S. 35/36). Das Fallbeispiel eines Anwalts, der vorprozessual einen Klienten berät, dann im Prozess aber den Gegner vertritt und des Anwalts, der zwischen erster und zweiter Instanz die Seiten wechselt, wird leider nur mit Literaturmeinung diskutiert, die überwiegend in beiden Fällen keinen Konflikt/Interessengegensatz annahm und die entsprechende anwaltliche Vertretung als zulässig ansah. Ein Hinweis auf die heutige Rechtslage etwa nach deutschem Anwaltsrecht und Strafrecht wäre wünschenswert gewesen („dieselbe Rechtssache“ und damit Parteiverrat in beiden Fallkonstellationen möglich bei einer Identität des Sachverhalts, s. etwa BGHSt 18, 392 und 34, 191).

 

In einem weiteren Kapitel vor der eigentlichen Darstellung des Verfahrensganges im romanisch-kanonischen Zivilprozess behandelt der Autor wichtige Formalien, wie Prozesstermine und Terminsequenz, Fristen, Formen und Kategorien von Prozesshandlungen (§§ 7-9). Bei den Terminen spricht der Autor besonders die – theoeretisch, nicht immer praktisch - hohe Zahl der Termine im Verfahren bis zum Abschluss durch Urteil an. Andererseits geht er auf die Möglichkeit des Richters ein, durch sogenannte präkludierende Termine das Verfahren zu beschleunigen, etwa um den Prozessstoff abschließend vorzutragen und die Anzahl der Termine dadurch zu vermindern. Leider wird nur ein etwas abschreckendes Beispiel aus der forensischen Praxis eines kirchlichen Gerichts zur hohen Terminzahl gebracht, wo bei vier Monaten Verfahrensdauer 22 Termine bis zur Urteilsverkündung anfielen (S. 39), eine aus heutiger Sicht unvorstellbar hohe Zahl bei einer auch heute eher unterdurchschnittlich langen Verfahrensdauer. Hier wäre es erforderlich gewesen, eine breitere und differenziertere Tatsachengrundlage für halbwegs gesicherte Aussagen über die Terminszahl und die Verfahrensdauer zu präsentieren. Dazu wäre etwa die Gerichtspraxis an weltlichen und kirchlichen Gerichten für die mehreren Jahrhunderte des untersuchten Zeitraums zumindest in exemplarischen Zeitabschnitten und differenziert nach dem Grund des Verfahrens (z.B. Geldforderungen, Herausgabeansprüche, Ehestreitigkeiten usw.) auszuwerten. Die Anzahl der Termine ist allgemein ein wichtiger Gesichtspunkt in allen Verfahrensarten, respektive im Zivilprozess und sagt viel über das prozessuale System aus, ist damit stilprägend. Im deutschen Zivilprozess wurde nach Inkrafttreten der Zivilprozessordnung mehrfach versucht, die Beschleunigung des Verfahrens zu verbessern, namentlich auch die Anzahl der Termine auf ein Minimum zu beschränken (vgl. etwa die Novellen von 1924 und 1933 sowie besonders die von 1977 und die jüngste von 2001). Freilich ist eine entsprechend straffe Leitung des Verfahrens durch den Richter Voraussetzung, um das Ziel des Gesetzes zu erreichen, was in der Praxis nicht immer anzutreffen ist und dadurch einen höheren Aufwand für alle Beteiligten und eine längere Verfahrensdauer nach sich zieht und dadurch die Effektivität der Rechtsdurchsetzung vielfach mindert. Das praktisch überaus wichtige Thema der Fristen, insbesondere der richterlichen Fristen, wird leider etwas kurz abgehandelt. Als Besonderheit des romanisch-kanonischen Prozesses spricht der Autor die Frist von drei Jahren an, innerhalb derer ein Verfahren abzuschließen war (peremptio instantiae), ansonsten das Verfahren durch klageabweisendes Urteil zugunsten des Beklagten zu beenden war, allerdings mit der Möglichkeit des Klägers zu neuer Klageerhebung. Hier wären Angaben aus der forensischen Praxis wünschenswert gewesen, wie häufig derartiges annähernd vorkam, was leider fehlt. Bei den Prozessfristen, insbesondere den richterlichen Fristen, spricht der Autor von der ungemein reichlichen quellenmäßigen Überlieferung bei den wesentlichen Prozessautoren, die er heranzieht, was die hohe praktische Relevanz belegt. Leider erfolgt keine weitere Evaluierung anhand der Prozesspraxis, insbesondere welche Fristen besonders praxisrelevant waren, wie etwa heute die Fristsetzungen für die Schriftsätze an die Parteien des Verfahrens. Über die Form des Verfahrens berichtet der Verfasser, dass der römisch-kanonische Prozess ein gemischt mündliches-schriftliches Verfahren gewesen sei und geht dabei mit interessanten und zutreffenden Ausführungen auch auf die Rechtsparömie quod non est in actis non est in mundo ein. Er weist darauf hin, dass das in actis in erster Linie die Einführung des Prozessstoffes, also besonders der Tatsachenbehauptungen der Parteien, in die Verhandlung (= in actis) und die Belegung dieser Einführung durch Protokollierung bedeutet und nicht etwa das Zu-den-Akten-gelangen von Schriftstücken, wie heute noch vielfach fälschlich als Grundsatz des Kirchenrechts angenommen wird. In diesem Zusammenhang wäre ein Hinweis auf die Protokollierung im römischen Zivilprozess hilfreich gewesen (s. M. Kaser/K. Hackl, Das römische Zivilprozessrecht, 2. Aufl., München 1996, S. 482, 557, beginnend wahrscheinlich in der sog. Prinzipatszeit und Regel im sog. nachklassischen Verfahren), ggf. auch ein Hinweis auf den bei Cicero, Epistulae ad familiares, 2, 15, 5, erwähnten Grundsatz: Quod non est in actis, non est in mundo (in factis) (s. Ernst Lautenbach, Latein-Deutsch: Zitaten-Lexikon. Münster 2002, S. 9). Erfreulich ausführlich behandelt der Verfasser dagegen das Thema der Prozesshandlungen, von der Einreichung der Klageschrift über die notwendige ordnungsgemäße Ladung der Parteien (citatio) und die zentrale Handlung der Streitbefestigung, der litis contestatio, als wesentliches Element auch des römischen Zivilprozesses seit uralten Zeiten, bis zur Erforderlichkeit des schriftlichen Urteils. Die Unterscheidung zwischen verfahrenserheblichen und entscheidungserheblichen Handlungen wird in einem eigenen Abschnitt erörtert. Beide Abschnitte zeigen wiederum den hohen Einfluss der kirchenrechtlichen Dogmatik und der kirchenrechtlichen Prozesspraxis auf den romanisch-kanonischen Zivilprozess, wobei besonders der bedeutende (Juristen-)Papst Innonzenz IV. gebührend Erwähnung findet. Wenn der Rechtsbegriff des officium iudicis diskutiert wird – verschiedene richterliche Tätigkeiten betreffend, z. T. auf Anrufung der Parteien -, so wird augenscheinlich auch eine Praxisrelevanz betont. Doch ohne praktische forensische Beispiele wird die Darstellung des Autors kaum verständlich. Hier sind die Ausführungen leider zu einem extremen Beispiel für „trockene Theorie“ geraten.

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Der eigentliche Verfahrensgang des Zivilprozesses wird in den Kapiteln 3 und 4 abgehandelt, die gleichzeitig den Kern der Darstellung bilden. Das 3. Kapitel behandelt das Verfahren bis zur litis contestatio, einem Kulminationspunkt im Prozess. Es beginnt mit der gerichtlichen Zuständigkeit, wird fortgesetzt mit Möglichkeiten der Anrufung des Gerichts und den verschiedenen Klagearten. Es folgen Abschnitte über die Ladung der Parteien, über die contumacia, schließlich die Prozesshandlungen im ersten Termin, die Anforderungen an Klage und Klageschrift und schließlich die Möglichkeiten des Klagegegners, der Klage mittels Einwendungen (exceptiones) sowie Aufrechnung und Widerklage entgegen zu treten. Bei der Darstellung der Klagearten (analog zu unserer heutigen Einteilung in Leistungsklagen, Gestaltungsklagen und Feststellungsklagen) wären Beispiele aus der Rechtsprechung zur Veranschaulichung sehr instruktiv gewesen. Ausführlich wird die Ladung behandelt. Besonders gut ist der Abschnitt über die Arten der Ladung beschrieben. Bezüge etwa zum aktuellen deutschen Zivilprozessrecht wären nützlich gewesen, etwa dass eine mündliche Ladung (viva voce) nicht möglich ist, auch keine Ladung im Parteibetrieb (s. § 214 ZPO, schriftliche Ladung von Amts wegen durch die Geschäftsstelle). Bei der Darstellung der mündlichen Ladung wären besonders diejenigen Fälle aus der Rechtspraxis interessant gewesen, in denen der Richter dem ladenden Nuncius, dessen Ladung vom Beklagten bestritten wird, ausnahmsweise keinen Glauben schenkt. Der Autor stellt dar, dass die Ladung, anders als heute, über den Eintritt der Rechtshängigkeit hinaus auch einen Stillstand des Rechtsverkehrs in Bezug auf den streitbefangenen Gegenstand bewirkte (Verbot der Veräußerung, Belastung, Abtretung usw.; anders heute, s. § 265 ZPO). Auch hier wäre die Rechtspraxis von Interesse gewesen, von der man abermals nichts erfährt. Fruchtbar wäre auch ein leider fehlender Vergleich zum heutigen Recht bei der Darstellung des Rechtsinstituts der contumacia (prozessualer Ungehorsam der Parteien und deren Folgen) gewesen. Bei den wichtigen Prozesshandlungen im ersten gemeinsamen Termin hebt der Autor besonders das Geständnis hervor. Es wäre wünschenswert gewesen, für die verschiedenen Varianten der confessio bei Abgabe durch die Partei oder deren Prozessvertreter praktische Beispiele aus der Rechtsprechung zu bringen. Breiten Raum nimmt zu Recht die Darstellung von Klage (mündliche Klageerhebung möglich! Heute: grundsätzlich nicht möglich, Ausnahme etwa für einen während des Verfahrens in der mündlichen Verhandlung neu erhobenen Anspruch, s. § 261 II ZPO) und Klageschrift ein. Wenn ausgeführt wird, dass bei der libelli oblatio der Kläger die Klageschrift in aller Regel von sich aus oder zumindest auf Anforderung des Beklagten in das Verfahren eingebracht haben wird (S. 87), so fragt sich, warum diese Vermutung nicht untersetzt wird, etwa durch Beispiele aus der gerichtlichen Praxis. Beim Inhalt der Klageschrift ist aus heutiger Sicht interessant, dass bei Schadensersatzklagen der genaue Zahlbetrag noch nicht in der Klageschrift angegeben werden musste, es vielmehr genügte, wenn er sich im Laufe des Verfahrens ergab (S. 88/89). Auch hier werden leider keine Rechtsprechungsbeispiele gebracht und auch nicht die Bezüge zur heutigen Rechtslage hergestellt (bspw. unbezifferter Klageantrag bei der Klage auf ein angemessenes Schmerzensgeld zulässig, wobei die Tatsachen für eine gerichtliche Festsetzung anzugeben sind, vgl. etwa Reichold in: H. Thomas/H. Putzo, Zivilprozessordnung. 30. Aufl., München 2009, § 253 Rn. 12). In der Klageschrift mussten, so erfahren wir, nicht nur Tatsachen, sondern auch Rechtsgrundlagen für die geltend gemachten Ansprüche vorgetragen werden (im Gegensatz zum römischen Recht, vgl. etwa Kaser/Hackl, a. a. O., S. 119 Fn. 31, S. 358 Fn. 36 und S. 597; ebenso grundsätzlich heute, zu einer Ausnahme s. weiter unten). Die Ausführungen zu den Anforderungen an den Tatsachen- und Rechtsvortrag leiden wiederum daran, dass keine praktischen Beispielsfälle gebracht werden, etwa für die Konstellation, dass nur Klagevortrag zur causa gebracht wird, ohne die actio (den Antrag/das Begehren) zu nennen und wie damit von der Rechtsprechung konkret umgegangen wurde. In einem abschließenden interessanten Abschnitt zur Klage (§ 15, Ziff. 6) wird auf die besondere Form der Klageschrift in der Form des libellus articulatus mit der Zweiteilung in Tatsachenbehauptungen (positiones) und Beweisangebote (articuli) eingegangen. Diese Klageform verbreitete sich ab dem 13. Jahrhundert nach und nach über weite Teile Europas und findet sich im 14. Jahrhundert auch im deutschen Raum (S. 96). Sie kann durchaus als Vorläufer unserer heutigen Klageform betrachtet werden. Auch hierzu wären Beispielsfälle aus der gerichtlichen Praxis wünschenswert gewesen. Die Darstellung der klagehindernden Einwendungen folgt der traditionellen Einteilung in aufschiebende (dilatorische) und dauernde (peremtorische). Leider sind die Ausführungen sehr abstrakt und ohne Beispiele aus der Rechtspraxis. Insbesondere gilt dies, wo der beweisrechtliche Grundsatz zitiert wird, dass der Kläger grundsätzlich seinen Klageanspruch beweisen muss und sodann der Beklagte seine Einwendungen hiergegen. Dazu werden viele Ausnahmen genannt, die aber ohne Rechtsprechungsbeispiele oft nicht nachvollziehbar sind. Bei der Darstellung der Aufrechnung ist der Bezug zur heutigen Rechtslage da und wird zutreffend ausgeführt, dass die Aufrechnung damals in erster Linie als Prozesshandlung und nicht als solche des materiellen Rechts behandelt wurde, anders als heute. Auch bei der Widerklage wird der Bezug zur heutigen Rechtslage dargestellt, insbesondere, dass damals eine sog. Konnexität zwischen Klage und Widerklage nicht gegeben sein musste (vergleiche demgegenüber § 33 ZPO). Ohne Fundstelle wird ausgeführt, dass die Erhebung einer Wider-Widerklage (also durch den Widerbeklagten als Kläger) ausgeschlossen war. Hier wird kein Bezug zur heutigen Rechtslage hergestellt (grundsätzlich zulässig, s. etwa BGH NJW-RR 1996, 65 und NJW 2009, 148, auch als Hilfs-Wider-Widerklage). Die weiteren Fallkonstellationen, dass bei Nichteinlassung auf die Widerklage der Stillstand des Klageverfahrens eintrat und die Rücknahme der Klage bei Widerklage unzulässig war, werden ebenso nicht mit dem heutigen Rechtsstand verglichen (ersteres führt dazu, dass bei Schlüssigkeit der Widerklage dieser stattzugeben ist, lässt die Klage aber unberührt, letzteres ist möglich ohne Zustimmung des Beklagten = Widerklägers bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung und mit Zustimmung danach; nach Klagerücknahme ist über die noch anhängige Widerklage weiter zu verhandeln und zu entscheiden, wenn der Beklagte sie nicht zurücknimmt, s. etwa Hüßtege in: Thomas/Putzo, a. a. O., § 33 Rn. 23). Bei der abschließenden Darstellung zu den Besonderheiten der Widerklage im engeren Sinn (§ 17, Ziff. 3) werden viele interessante Aspekte leider nur kurz erwähnt und zudem ohne praktische Beispiele.

 

Das 4. Kapitel führt die Darstellung über den Ablauf des romanisch-kanonischen Zivilprozesses fort von der Litiskontestation bis zum Endurteil (§§ 18-29). Zunächst werden Wesen, Bedeutung, gängige Spruchformeln und prozessuale Wirkungen der Litiskontestation dargestellt. Die litis contestatio ist mit der vom Beklagten gegenüber dem Kläger formelhaft erklärten Streitbereitschaft/Streitabsicht im (nicht notwendig ersten) Gerichtstermin bewirkt. Von da ab ist das Streitverfahren eröffnet. Es handelt sich also bei dem Institut um die gegenseitige Streiterklärung, wobei der Kläger als „Angreifer“ den Anfang macht. Der Verfasser sagt uns aber nichts über die Gründe, warum man an diesem unvordenklichen Rechtsgrundsatz der römischen Zivilprozesse verschiedener Perioden auch für den romanisch-kanonischen Prozess festhielt, so dass dieses Institut wiederum stilprägend wurde. Selbst in der Wissenschaft vom römischen Recht sind allerdings die Gründe für das Institut einer Litiskontestation, wo die Betonung auf der Unterwerfung der Streitparteien unter die staatliche Gerichtsbarkeit vorherrscht, nicht völlig geklärt (s. etwa Kaser/Hackl, a. a. O., § 11 III.2.a), §§ 41, 42, § 73 III., § 90 IV. und die gute Zusammenfassung zu diesem Institut bei M. Kaser/R. Knütel, Das römische Privatrecht, 17. Aufl., München 2003, § 82 III.; s. a. Gaius, Inst. III, 180, 181). Leider unerwähnt bleibt, dass es im modernen Zivilprozess in Deutschland etwas ähnliches wie die Litiskontestation noch gibt, wenn nämlich bei Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens der Beklagte aufgefordert wird, seine Verteidigungsabsicht zu erklären, anderenfalls ein Versäumnisurteil auf Antrag des Klägers im schriftlichen Verfahren gegen den Beklagten ergehen kann (s. §§ 276 I, II, 331 III ZPO); im italienischen und auch im französischen Zivilprozess fehlt ein paralleles Institut. Nach der Litiskontestation werden die sogenannten verfahrensbezogenen Eide, der Kalumnieneid (iuramentum calumniae), der Wahrheitseid (iuramentum veritatis) und der Arglisteid (iuramentum malitiae) dargestellt. Bei ersterem erfährt man, dass er aus dem justinianischen Recht stammt, aber seine Bedeutung in der Realität gering war (S. 115), der Wahrheitseid wurde dagegen eigenständig von der mittelalterlichen Praxis entwickelt (S. 115), während unerörtert bleibt, woher der Arglisteid stammt. Leider erfährt man über Sinn und Zweck des Kalumnieneides (Eid zu fairem Verfahren), der auf parteilichen Antrag oder richterliche Anordnung hin zu leisten war (ggf. also auch ganz unterblieb, wenn die Parteien darauf verzichtet hatten und der Richter auch nicht von seinem Recht der Anordnung Gebrauch gemacht hatte) nichts, auch nicht, inwieweit die Eidesverletzung etwa Folgen bis zu strafrechtlicher Verfolgung nach sich zog (vgl. zu diesem Eidestyp auch die instruktiven Ausführungen W. Sellerts in: HRG, 2. Aufl., Bd. II, Sp. 1538-1540). In diesem Zusammenhang wäre auch ein neuzeitlicher Exkurs zu § 138 I ZPO mit seinem Gebot zu wahrheitsgemäßem Parteivortrag wünschenswert gewesen, inwieweit außerhalb der Verfahrenseide ein ähnliches Institut im romanisch-kanonischen Zivilprozess, auch älterer Prägung, etwa vor dem 15. oder 14. Jahrhundert, nachweisbar ist (im Eid der Prokuratoren und Advokaten findet sich die Pflicht zu wahrheitsgemäßem Vortrag bspw. in den Reichskammergerichtsordnungen von 1495, dort. §§ 6 und 7 und 1555, dort tit. LXIII und LXIV, auch im „eydt der boßheit“ [iuramentum malitiae], tit. LXXIV, der Prokuratoren) und welche praktische Bedeutung diesem Grundsatz zukam (der heute Parteien kaum abschrecken dürfte, wahrheitswidrig vorzutragen, wenn sie es denn beabsichtigen, so die Beobachtung des Rezensenten aus eigener zivilprozessualer Praxis).

 

Als weiteres stilprägendes Charakteristikum des romanisch-kanonischen Zivilprozesses handelt der Autor sodann die positiones (des Klägers) und responsiones (des Beklagten) ab. Er vertritt im Ergebnis die Auffassung, dass sich dieser notwendige Austausch des Parteivortrags aus dem richterlichen Fragerecht (interrogatio) entwickelt habe, während die herrschende Meinung davon ausgeht, dass sich die positio aus Gewohnheitsrecht und Gerichtsgebrauch entwickelt habe (S. 116). Nörrs Auffassung ist plausibel, doch lässt sich auch die These vertreten, dass sich der Wechsel zwischen dem klägerischen Sachvortrag und ggf. Rechtsvortrag und der Verteidigung des Beklagten hierauf aus der Natur der Sache ergibt, und der Richter als Entscheider naturgemäß erst nach Austausch dieser Positionen sein Fragerecht sinnvoll ausüben und damit auf den beiderseitigen Vortrag einwirken kann, also dann ggf. nur Veränderungen und/oder Ergänzungen dieses Parteivortrages durch sein Fragerecht hervorruft. Bei der positio betont der Autor, dass diese nur Tatsachenbehauptungen, nicht Rechtsbehauptungen enthielten, sofern dies nicht durch Partikularrecht anders geregelt ist (S. 118). Nicht geht der Verfasser dabei auf die bekannten Rechtsparömien „da mihi facta dabo tibi ius“ oder „iura novit curia“ ein, bei denen es sich nicht um römisch-rechtliche Grundsätze gehandelt haben soll, sondern um solche, die von mittelalterlichen Rezeptionsjuristen geprägt oder erfunden worden seien (s. Meder, Ius non scriptum: Traditionen privater Rechtssetzung, Tübingen 2009, S. 199, unter Berufung auf Puchta, Das Gewohnheitsrecht. Bd. II, S. 152ff.; vgl. zu „da mihi factum, dabo tibi ius“ auch die Dekretalen, 2, 1, 6, Alexander III., s. Ernst Lautenbach, a. a. O., S. 257; zu „iura novit curia“ als „unrömischer Satz“, s. Kaser/Hackl, a. a. O., S. 119 Fn. 31 und S. 358 Fn. 36). Hier wäre der Bezug zur heutigen Rechtslage angebracht. Danach gilt der Grundsatz iura novit curia im Anwaltsprozess mit der Einschränkung, dass der Anwalt nach Kräften dafür zu sorgen hat, irrtümliche Rechtsauffassungen des Gerichts zu korrigieren. Er muss deshalb jedenfalls entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung vortragen, die das Gericht nicht berücksichtigt hat (BGH NJW 2009, 987, unter Hinweis auf § 137 II ZPO und bestätigt durch BVerfG, 1 BvR 386/09, vom 22. 04. 2009, BRAK-Mitteilungen 2009, 169-170). Im Gegensatz zur positio konnte die responsio auch durch mündlichen Vortrag zu Protokoll erfolgen (S. 120). Interessant zur responsio sind insbesondere die Ausführungen zur sogenannten poena confessi, also den Voraussetzungen, unter denen wegen Nichterwiderung des Beklagten auf die positio diese als zugestanden zu gelten hatte. Mit der entsprechenden Geständniswirkung war nämlich nur eine Beweislastumkehr verbunden (S. 121/122). Ein Hinweis zur heutigen Rechtslage fehlt (zugestandene Tatsachen werden wie ein Geständnis behandelt und sind damit als nicht beweisbedürftig und wahr zu verwerten, s. §§ 138 III, 288 ZPO und zu Ausnahmen etwa Reichold in: Thomas/Putzo, a. a. O., § 288 Rn. 5, 6).

 

Der große Abschnitt über das Beweisrecht (§§ 21-27) wird durch allgemeine Erörterungen zum Beweis, zur Beweisbedürftigkeit, zu Beweislast und Graden des Beweiserfordernisses eingeleitet (§ 21), bevor der Autor mit der Darstellung des Zeugenbeweises beginnt. Unterschiede zum heutigen Beweisverfahren werden hervorgehoben, etwa die Nichterforderlichkeit eines Beweisbeschlusses zur Einleitung der Beweisaufnahme oder dass es keinen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (heute § 355 ZPO) gab. Bei der Frage der Beweisbedürftigkeit erörtert der Autor den sog. Grundsatz der Notorietät, also der Offenkundigkeit von Tatsachen (vgl. § 291 ZPO, auf den allerdings nicht hingewiesen wird). Die verschiedenen Kategorien des notorium werden ausführlich dargestellt. Gerade hier wäre es aber wieder besonders angebracht gewesen, dies durch Rechtsprechungsbeispiele zu veranschaulichen. So geraten die Ausführungen derart abstrakt, dass sie kaum Vorstellungen darüber aufkommen lassen, womit man es tatsächlich in der Gerichtspraxis zu tun hatte. Bei der Erörterung der Beweislast (§ 21, Ziff. 3) wird auf den Negativbeweis eingegangen und werden Varianten dargestellt. Auch hier fehlen Fallbeispiele, um die praxisrelevante Materie anschaulich zu machen. Großen Raum nimmt zu Recht die Darstellung des wichtigsten Beweismittels, des Zeugenbeweises (de testibus), ein. Diese erfolgt in zwei Abschnitten, nämlich innerhalb der Prozesshandlungen bis zur Vernehmung (Zeugenbeweis I, § 22) und sodann von der Vernehmung bis zur Aussagebewertung (Zeugenbeweis II, § 23). Der Autor stellt dar, dass es in der Regel drei Fristen gab, die zur Präsentation von Zeugen gewährt wurden, in Ausnahmefällen vier, und auch die Präklusion des Beweismittels durch richterliche Terminsetzung zur Beibringung von Beweismitteln möglich war (vgl. heute etwa § 296 I ZPO zur richterlichen Fristsetzung). Der Zeugenbeweis begann mit der Zeugenladung auf Parteiantrag (heute mit dem Beweisbeschluss und der Anforderung des Auslagenvorschusses oder der Auslagenverzichtserklärung). Der Autor stellt kurz dar, dass der Zeuge bei Weigerung zum Erscheinen vor Gericht gezwungen werden konnte, ohne Einzelheiten dazu zu nennen. Besonders interessant sind die Ausführungen zur Zeugnisunfähigkeit und den Ausnahmen dazu (§ 22, Ziff. 4). Es wird ausgeführt, dass es unübersichtlich viele Gründe für eine Zeugnisunfähigkeit ebenso wie Ausnahmen gegeben habe (S. 136). Hier wären besonders Beispiele aus der Rechtsprechung angezeigt gewesen. Der Autor erwähnt die Fälle, allerdings nicht unter Hinweis auf eine Abweichung zur heutigen Rechtslage, dass ein Advokat nicht Zeuge für seine eigene Partei sein konnte und auch nicht Zeuge sein konnte, wer vom Ausgang des Prozesses Vorteile oder Nachteile zu erwarten hätte (beides heute jeweils nur eine Frage der Beweiswürdigung). Insgesamt ist dieser interessante Abschnitt zur Zeugnisunfähigkeit weitgehend deskriptiv. Interessant wäre es gewesen, Herkunft und Gründe für einzelne Zeugenablehnungen näher kennenzulernen, respektive ob sie dem römischen Recht bereits bekannt waren. Die allgemeinen Ausführungen über den Zeugenbeweis schließen mit einem Abschnitt über den Zeugeneid, über die Beweisbehauptungen und die Möglichkeit, einen Fragenkatalog an den Zeugen der Gegenseite zu richten. Beim Zeugeneid erfahren wir, dass er Voraussetzung für die Gültigkeit der Aussage war und entweder vor (Voreid) oder nach der Aussage (Nacheid) geleistet werden musste, wobei Voreid die Regel war (S. 140). Heute ist die Regel, worauf der Autor allerdings nicht eingeht, dass der Zeuge unbeeidet bleibt, bei Beeidigung der Eid aber immer nach der Aussage geleistet wird, also stets „Nacheid“ ist (s. § 392 ZPO). Bei der Darstellung der Beweisbehauptungen, die grundsätzlich schriftlich vorzubringen waren, hätte man gerne etwas über die praxisrelevante Frage erfahren, wie konkret (substantiiert) diese Behauptungen vorzubringen waren (Abgrenzung zum unzulässigen Ausforschungsbeweis!). Dies geschieht leider nicht.

 

Der zweite Abschnitt über den Zeugenbeweis beginnt mit dem überaus praxisrelevanten Thema der Zeugenvernehmung. Nörrs Ausführungen lesen sich hier sehr spannend. Einmal mehr wird auch bei diesem Thema die große Beeinflussung der verfahrensrechtlichen Grundsätze durch das Kirchenrecht sichtbar. Besonders interessant, auch für die heutige Praxis der Zeugenvernehmung, ist die Passage zur Unterscheidung von Aussagen, die auf der Wahrnehmung mit den fünf Sinnen und solchen, die auf Schlussfolgerungen beruhen (S. 144); außerdem, dass Suggestivfragen und Fangfragen, wie heute auch, grundsätzlich unzulässig waren, es sei denn es bestand ein gewisser Verdacht, dass der Zeuge lügt, so dass damals wie heute auch die bekannte Frage nach dem Wetter am Ereignistag oder an bestimmten anderen Tagen zulässig sein konnte (S. 144). Die Zeugenaussage musste protokolliert werden und hier erfahren wir das interessante Detail, dass auch Angaben zur Glaubwürdigkeit des Zeugen im Protokoll zu vermerken waren (heute grundsätzlich nicht gegeben, doch kann derartiges auch indirekt aus dem Protokoll hervorgehen, wie der Rezensent schon mehrfach erlebt hat). Bei der Darstellung der publicatio attestationum, der Zugänglichmachung der Zeugenprotokolle an die Prozessparteien (heute durch Übersendung der Protokollabschriften), ist deren Wirkung beachtlich, dass ein weiterer Zeugenbeweis grundsätzlich unzulässig war (S. 145). In der heutigen Prozesspraxis wird dies durch die Konzentrationsmaxime weitgehend erreicht, so dass ein zweiter Gerichtstermin mit weiteren Zeugenvernehmungen grundsätzlich die Ausnahme bildet. Der Autor betont aber, dass im romanisch-kanonischen Prozess auch hier wiederum Ausnahmen gegeben waren. Bei der Zeugenaussage und deren Wert lernen wir als Besonderheit die Anwendung einer Art quantifizierender Methode oder Zeugenarithmetik kennen, wonach die Aussage nur eines Zeugen grundsätzlich nicht zum Prozesserfolg verhalf, sondern mindestens zwei übereinstimmende Zeugenaussagen dafür erforderlich waren (Rechtssprichwort: „Ein Zeuge ist kein Zeuge!“). Hatte ein Zeuge der Gegenpartei anders ausgesagt, so vertrat eine Lehrmeinung die Ansicht, der Zeuge sei unbeachtlich, während nach der anderen Auffassung einer der beiden anderen Zeugen neutralisiert und damit Beweisfälligkeit der beweisbelasteten Partei gegeben wäre, die daher den Beweis zum Vollbeweis ergänzen musste, wollte sie den Prozess nicht verlieren (S. 149). Leider bringt der Autor zu dieser wichtigen Thematik mit hoher Praxisrelevanz keine Beispielsfälle aus der Rechtsprechung. Der Abschnitt über den Zeugenbeweis schließt mit der Darstellung über die richterliche Bewertung der Zeugenaussage (§ 23, Ziff. 4). Dabei wird auf den Beurteilungsspielraum des Richters eingegangen (heute weiter gefasst in § 286 ZPO mit dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung) und es werden auch die Rolle der Advokaten und ihre Möglichkeiten betont. Nochmals wird auf das Zweizeugenerfordernis eingegangen und gleichzeitig betont, dass es dazu zahlreiche Ausnahmen gegeben habe, die freilich zumindest beispielhaft durch Rechtsprechung zu veranschaulichen gewesen wären.

 

Der Autor wendet sich nach dem Zeugenbeweis dem Urkundenbeweis zu, dem regelmäßig zuverlässigsten Beweismittel, auch heute noch. Er behandelt die öffentliche Urkunde, die Privaturkunde und Verfahrensfragen (§ 24). Interessant, auch in Bezug auf die heutige Prozesspraxis, sind die Ausführungen auf S. 156, wonach der durch öffentliche Urkunde geführte sog. Vollbeweis beispielsweise im Fall des simulierten Rechtsgeschäfts zerstört wird. Hier wäre ein Beispiel in Form eines Rechtsfalles sehr instruktiv gewesen. Bei der Privaturkunde wird dargestellt, wann Vollbeweis, Halbbeweis oder nur Indiz anzunehmen war. Ferner bemerkt der Autor zu der Problematik des Schriftvergleichs, dass dies ein eher unsicheres Beweismittel war. Jeder heutige Prozesspraktiker wird dies sofort bestätigen können. Als weitere Beweismittel werden der richterliche Augenschein (auch ohne Antrag möglich, S. 162, ebenso heute, s. § 144 I ZPO), der Sachverständigenbeweis und zuletzt „fama“ und „Indizien“ abgehandelt (§ 25). Dem Sachverständigenbeweis kam, wie heute nicht anders, hoher Beweiswert zu. Dabei ist bedeutsam der Unterschied zu heute, dass diese Beweisart (artis periti), zunächst als Fall des Zeugenbeweises behandelt wurde. Urteile, die auf Sachverständigenbeweis beruhten, erwuchsen jedoch nicht in Rechtskraft (S. 165, heute natürlich nicht so). Bei der fama, dem Beweis mittels Zeugen vom Hörensagen, mussten mindestens zwei Zeugen die Tatsachen vor Gericht bekunden. Diesem Beweis kam grundsätzlich nur halber Beweis zu, ausnahmsweise war voller Beweis möglich (S. 166). So konnte diese Beweisart bei Pattsituation mitunter „Zünglein an der Waage“ spielen. Auch hier sind die Ausführungen interessant, aber leider nicht durch Fallbeispiele aus der Rechtsprechung veranschaulicht. Bei den besonders in Ehesachen relevanten Indizien war voller Beweis bei Bestreiten nötig (S. 168). Der Autor grenzt das Institut zur Vermutung (praesumptio) ab. In einem Anhang (§ 25, Ziff. 5) stellt der Autor noch das richterliche Fragerecht als funktionales Äquivalent vor. Er führt aus, dass die Parteivernehmung als Beweismittel eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts sei (S. 168). Hier wäre als Bezug zur heutigen Rechtslage zu erwähnen gewesen, dass die Parteivernehmung im Zivilprozess kaum eine praktische Rolle spielt, dafür aber umso mehr die informatorische Anhörung der Parteien durch den Richter (§ 141 ZPO). Nach Darstellung der verschiedenen Kategorien der Vermutung (praesumptio) und ihres Beweiswertes (§ 26) wendet sich der Autor der zweiten großen Gruppe von Eiden zu, nämlich den entscheidungsbezogenen Eiden (§ 27). Nach dem vom Richter auferlegten Eid, besonders um der beweisbelasteten Partei zu ermöglichen, den Vollbeweis damit zu führen, behandelt er den, allerdings nur mit Zustimmung des Richters zulässigen, aber interessanteren von Partei zu Partei geschobenen Eid (iuramentum iudiciale). Danach konnte der Kläger den Eid dem Beklagten zuschieben und dieser konnte ihn wieder zum Kläger zurückschieben (dann hatte der Kläger den Eid zu leisten). Der Autor stellt dar, dass der zuschiebende Kläger bei einem ihm ungünstigen Urteil aufgrund der Eidesleistung des Beklagten nicht appellieren konnte, andererseits der Beklagte dies bei Zurückschiebung und dann ungünstigem Ausgang des Rechtsstreits für ihn sehr wohl tun konnte (S. 176). Die Darstellung leidet hier darunter, dass der Sinn des Zuschiebens und Zurückschiebens der Eidesleistung nicht erklärt wird, dies vor allem, weil nach den Ausführungen Nörrs (S. 175, Fn. 507) die Zuschiebung der Eidesleistung von vornherein durch den Kläger auf den Beklagten bei geringfügigen Sachen die Praxis gewesen sein soll. Entweder hatte der Kläger dann von vornherein keine Beweismittel zur Hand oder deren Beibringung, respektive in Form von Zeugen, war etwa zu aufwändig bzw. zu kostspielig. Den überaus interessanten Ausführungen zur Beweisstation schließt sich die Darstellung zu den Verfahrensschritten zwischen Beweisstadium und Endurteil an (§ 28). Hier musste in einem besonderen Termin von beiden Parteien plädiert werden und zwar durch Tatsachenvortrag und Rechtsvortrag (allegationes), wobei für Partikularrecht durch die Partei der Nachweis zu führen war, allerdings nicht bei veröffentlichten Statuten (S. 179/180). Die Parteien konnten sodann (nur) übereinstimmend auf weitere Verhandlung verzichten und der Richter schloss dann die Verhandlung (renunciatio und conclusio in causa, § 28, Ziff. 2). Schließlich stellt der Autor eine weitere Eigentümlichkeit des romanisch-kanonischen Zivilprozesses dar, nämlich die Einholung von Rechtsgutachten (consilia) zur Entscheidungsfindung. Hier werden verschiedene Arten von Rechtsgutachten, solche mit und ohne Bindungswirkung für den Richter, vorgestellt. Der Schwerpunkt dieses Instituts lag in Norditalien und Mittelitalien (S. 183). Es gab Statuten in Stadtrechten, die eine Gutachtenspflicht beinhalteten. Verstieß der Richter dagegen, konnte Nichtigkeit des Urteils, je nach statutarischer Regelung, die Folge sein, wobei der Autor hier zu stringent formuliert, dass Nichtigkeit die Folge gewesen sei, was natürlich von der jeweiligen Regelung abhing und welche Rechtsfolge dort angeordnet wurde (S. 185). In verfahrensrechtlicher Hinsicht sind zwei weitere Punkte von Bedeutung und zwar die Möglichkeit, gegen ein Urteil mit Gutachten nicht nur Rechtsmittel einzulegen, sondern alternativ eine Neubegutachtung zu beantragen und außerdem die fehlende Rechtskraftwirkung eines auf einem Rechtsgutachten basierenden Urteils, jedenfalls nach herrschender Meinung (S. 185).

 

Das 4. Kapitel endet mit einer kurzen Darstellung prozessualer Grundregeln für die richterliche Urteilsfindung (§ 29). Dabei wurde vom Richter nicht umfassende Rechtskenntnis wie heute verlangt (Ausnahme etwa ausländisches Recht, s. § 293 ZPO), weil nur das gemeine Recht (ius commune), offenkundiges Gewohnheitsrecht (consuetudines) und öffentliche Statuten dem richterlichen Rechtsstoff zugerechnet wurden, andere Rechtsquellen hingegen den Tatsachen (facta), die beizubringen, also von den Parteien vorzutragen waren (S. 190). Der Verfasser geht leider nicht auf den Grund sowie auf Sinn und Zweck dieser Erleichterung der Rechtsfindung für den Richter ein. Der Abschnitt über die richterliche Beweiswürdigung (§ 29, Ziff. 3) wiederholt vor allem bereits behandelte Fragen, wann Vollbeweis und wann etwa nur halber Beweis anzunehmen war.

 

Im 5. Kapitel über das richterliche Urteil werden das Zwischenurteil und das Endurteil als Urteilstypen behandelt. Über eventuelle weitere Urteilstypen, etwa analog dem heutigen Teilurteil oder dem Vorbehaltsurteil (s. §§ 301, 302 ZPO), erfährt man allerdings nichts. Beim Zwischenurteil (sententia interlocutoria) stellt der Autor die verschiedenen Gruppen solcher Urteile vor, auch solche, denen kein Endurteil nachzufolgen pflegte. Bedeutender Unterschied zu heute war, dass ein Widerruf von Zwischenurteilen teilweise zulässig war, der wiederum durch Zwischenurteil (revocatio) erfolgte und die Berufung gegen Zwischenurteile wurde nach kanonischem Recht generell als zulässig angesehen, während sie nach weltlichem Recht nur für gewisse Typen zugelassen sein sollte (S. 195/196). Insgesamt leidet auch dieser wichtige und praxisrelevante Abschnitt zu Zwischenurteilen an der Abstraktheit der Darstellung, ohne Beispielsfälle. Bei der Darstellung des Endurteils und seiner verfahrensrechtlichen Erfordernisse stellt der Autor die Nichtigkeitsgründe für ein Urteil vor (im Gegensatz zur Anfechtbarkeit durch Rechtsmittel). Hier ist der Unterschied zu heute bedeutsam, dass das Urteil auch dann nichtig war, wenn es ohne hinreichende Prüfung der Sach- und Rechtslage (sine causae cognitione) ergangen war. Dieser interessante Fall hätte durch Rechtsprechungsbeispiele veranschaulicht werden müssen (der Autor zitiert als Beleg jedoch nur Bartolus, S. 197, Fn. 42). Ebenso war das Urteil im Unterschied zur heutigen Rechtslage nichtig, wenn die zur Urteilsverkündung zu ladenden Parteien nicht (vollständig) anwesend waren und das Urteil dennoch verkündet wurde (S. 197). Bei der Darstellung der inhaltlichen Erfordernisse (üblicherweise sechs an der Zahl) ist am auffälligsten im Vergleich zu heute der Unterschied, dass eine Urteilsbegründung grundsätzlich nicht erforderlich war (vgl. demgegenüber § 313 I Nr. 6 ZPO und zu Ausnahmen § 313 a ZPO), wenn auch in bestimmten Konstellationen vorgeschrieben oder partikularrechtlich angeordnet (vgl. S. 198-200). Schließlich konnte es der Gerichtsbrauch gestatten, dass Urteilsentwürfe von Parteien (!) vorgelegt werden konnten (S. 200, wobei Nörr als Beleg hierfür nur eine Stelle zitiert, die sich mit kirchlichen Gerichten in England befasst, Fn. 78). Wie heute waren nach Urteilsverkündung Korrekturen am Urteil grundsätzlich nicht möglich, allerdings mit einer Reihe von Ausnahmen und im kanonischen Recht galt die Besonderheit, dass eine Abänderung des Urteils bei „Gefährdung des Seelenheils“ grundsätzlich immer zulässig war (S. 202). Die Ausführungen zum Endurteil schließen ab mit einer kurzen Darstellung zu den Prozesskosten. Hieraus zeigen sich große Gemeinsamkeiten zu heute, aber auch einige Unterschiede, wie derjenige, dass eine unterlegene Partei dann die Kosten des Rechtsstreits nicht zu tragen hatte, wenn sie sich auf eine iusta causa berufen konnte (S. 204, rudimentär heute noch gegeben bei sofortigem Anerkenntnis ohne Anlass zur Klageerhebung, § 93 ZPO und im Berufungsrecht, wenn der obsiegende Berufungsführer die erfolgreichen Argumente schon in erster Instanz hätte erheben können, § 97 II ZPO). Auch war über die Kosten grundsätzlich, anders als heute, auf Antrag einer Partei zu entscheiden, doch konnte der Richter auch ohne Antrag entscheiden. Das Kapitel wird abgeschlossen mit Ausführungen über die Rechtskraft des Urteils (§ 32). Bei der Darstellung der Grundfragen zeigt der Autor die vielfachen Ausnahmen auf, wann ein Urteil nicht in Rechtskraft erwuchs (etwa wenn es auf Sachverständigen- oder Rechtsgutachten beruhte oder im kanonischen Bereich bei „Gefährdung des Seelenheils“). Erfreulicherweise wird auch einmal ein Rechtsprechungsnachweis gebracht, und sei es nur in Bezug auf kirchliche Sachen (S. 207 Fn. 146). Zum objektiven und subjektiven Umfang der Rechtskraft stellt der Autor die Grundsätze und zahlreichen Ausnahmen vor, wobei leider Beispiele aus der Rechtsprechung fehlen.

 

Im 6. Kapitel behandelt Nörr noch knapp das vereinfacht-summarische Verfahren, das im römischen Recht als Verfahrensart unbekannt war (vgl. Kaser/Hackl, a. a. O., § 99) und stellt zunächst dessen Erscheinungsformen vor (§ 33). Hier ging es insbesondere um notwendige vorläufige Entscheidungen des Rechtsstreites, wie wir sie heute etwa unter den Begriffen Arrest, einstweilige Verfügung und einstweilige Anordnung kennen (s. §§ 916 ff. ZPO, 49, 119, 156, 157, 214 FamFG). Der Autor stellt die sogenannten Klauseln dieser Verfahrensart (summatim oder summariae, also summarisches Verfahren, processus summarius) und deren hauptsächliche Charakteristika vor, etwa die Beweiserleichterung oder die nur eingeschränkte Verteidigungsmöglichkeit für den Beklagten. Er spricht schließlich die anderen Vereinfachungsklauseln, sprich Verfahrensarten innerhalb des vereinfachten Verfahrens, in der Regel vier an der Zahl, an (sog. „Vierfachklausel“, simpliciter, de plano, sine strepitu iudicii, sine figura iudicii). Doch ist die Darstellung wegen der fehlenden Beispielsfälle aus der Rechtspraxis leider sehr abstrakt und wenig verständlich. Als weitere große Kategorie behandelt der Autor das vereinfachte Verfahren nach der Clementine Saepe. Die Darstellung beginnt mit einem fast einseitigen lateinischen Zitat, wie üblich ohne deutsche Übersetzung. Sodann werden die Unterschiede nach der Clementine Saepe im Vergleich zum ordentlichen Verfahren dargestellt, nämlich anhand der Prozesshandlungen, die auch im summarischen Verfahren unverzichtbar sind (S. 219), der scheinbaren Abweichungen des summarischen zum ordentlichen Verfahren und der besonderen Bestimmungen nach diesem summarischen Verfahren, hier etwa die formlos-schriftlich oder zu Protokoll zu erklärende petitio anstatt der Klageschrift (Klaglibell) oder der Wegfall der Litiskontestation. Der Autor kommt am Ende des Kapitels zum Ergebnis, dass die Prozessherrschaft des Richters im vereinfachten (summarischen) Verfahren nicht größer gewesen sei als im ordentlichen Verfahren (S. 220). Dieses Ergebnis erscheint plausibel, auch wenn der Autor betont, dass die landläufige Meinung in der Forschungsliteratur davon abweicht. Allerdings ist auch hier das Manko, dass der Autor das Ergebnis nicht durch Fälle aus der Rechtspraxis weiter untersetzen kann.

 

Im Schlusskapitel zieht Nörr Bilanz und geht zunächst auf die Handhabung der Dispositionsmaxime ein (§ 35). Das Verfahren wird von dem (dialektischen) Dualismus des Klagevortrags einerseits, wiederum aufgeschlüsselt in die positiones und der Klageerwiderung (exceptio) andererseits, wiederum aufgeschlüsselt in die responsiones, geprägt. Zutreffend stellt Nörr fest, dass es sich bei dem romanisch-kanonischen Prozess um einen Typus des kontradiktorischen Verfahrens gehandelt habe, dessen Rechtfertigung aber bei den Juristen unterblieben sei (S. 221/222 „war die Herkunft aus dem römischen Recht vielleicht Rechtfertigung genug?“). Der Richter wacht gegenüber den Parteien über die Einhaltung des Verfahrensrechts, hat aber zum Teil auch von Amts wegen tätig zu werden. Die Beweisführung im Prozess obliegt den Parteien, während der Richter die Beweise frei oder regelgebunden würdigen kann und ihm ein umfassendes Fragerecht zusteht (S. 223). Man könnte ergänzen sozusagen als Korrektiv und/oder Ergänzung des Beibringungsgrundsatzes und zur Verwirklichung eines, wenn auch nur relativen, Gerechtigkeitspostulates, im Gegensatz zu anderen Prozessarten, die von der richterlichen Aufklärungsmaxime (Inquisitionsgrundsatz) beherrscht sind.

 

Die zweite große Bilanz zieht der Autor zu den oft im Gegensatz zueinander stehenden Grundsätzen der Gründlichkeit und der Zügigkeit des Verfahrensrechts (§ 36). Er stellt fest, dass die Gründlichkeit eine hohe Priorität hatte (S. 224), andererseits das Verfahren im allgemeinen recht zügig abgelaufen sei, entgegen landläufiger Annahme wegen der Prozessverzögerungen. Allerdings ist die Quellengrundlage, respektive sind die Zahlenangaben des Autors, aus denen er diese Schlussfolgerungen zieht (S. 226-227), für eine derartig umfassende Aussage zu gering. Hier bedarf es weiterer umfassender Untersuchungen, insbesondere differenziert nach Zeiträumen, Gerichtsorten und verschiedenen Prozessgegenständen/Streitgegenständen. Die letztgenannten Aussagen, dass im Hinblick auf die Zügigkeit des Verfahrens viel vom Richter abhing (S. 227) und noch mehr von den Parteien (S. 228), ist ebenso trivial wie richtig und zeitlos zugleich.

 

Bei allen Mängeln, die das besprochene Werk nach Ansicht des Rezensenten hat, allen voran die weitgehende Ausblendung der Rechtsprechung zur Untersetzung oder Widerlegung von Literaturmeinungen und der zu geringe Bezug zum heutigen Zivilprozessrecht der ersten Instanz, ist es dem Autor jedenfalls nicht hoch genug anzurechnen, einen lehrbuchartigen Überblick des romanisch-kanonischen Zivilprozessrechtes erster Instanz von ca. 1150 bis Anfang 1500, beschränkt auf Deutschland und Italien, gewagt und vorgelegt zu haben. Das Werk Nörrs wird sicherlich zu einem Standardwerk werden, sowohl als Überblicksdarstellung auf neuestem Stand als auch für erste Orientierungen und Grundlegungen bei der Erforschung speziellerer Fragen auf dem Gebiet dieser Prozessart. Und nicht zuletzt ist das Werk zur Rückbesinnung hervorragend geeignet, woher einige tragende Prinzipien des Erkenntnisverfahrens erster Instanz in einigen modernen Zivilprozessordnungen - nicht nur Deutschlands und Italiens - kommen, die als dauerhaftes Vermächtnis auch in Zukunft erhalten bleiben sollten.

 

Leider fehlt ein Personen- und Sachregister und letzteres sollte zumindest bei einer künftigen Auflage nicht fehlen. Die Druckfehler halten sich mit etwa 20 erfreulich in Grenzen (etwa S. 24, Fn. 100, promittendi statt pomittendi; S. 31, 1. Zeile, es muss heißen „zu lassen“ statt „zu werden“; S. 34 Fn. 178: siècle statt sièle, conflits statt conflicts, Italia e Europa statt Italia ed Europa; S. 94: „Litiskontestation“ statt Litiskontestion“; S. 210, Fn. 161: ʽcondemnatoriaʼ statt condenmatoria).

 

Erfurt                                                                                                 Roland Kleinhenz