Neutatz, Dietmar, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. Beck, München 2013. 688 S., Kart. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der in Bad Homburg 1964 geborene, in Maria Enzersdorf, Mödling und Salzburg geschulte, nach dem Studium der Geschichte und Slawistik in Salzburg 1990 bei Friedrich Gottas mit der Dissertation Die deutsche Frage im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien - Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856-1914) promovierte, in Düsseldorf als wissenschaftlicher Assistent 1999 in osteuropäischer Geschichte mit einer Schrift über die Moskauer Metro (1897-1935) habilitierte und 2003 für neuere und osteuropäische Geschichte nach Freiburg im Breisgau berufene Verfasser beginnt seine kurze Einleitung mit einem Zitat, das auf den ersten Blick suggeriert, dass der Historiker vor Russland resignieren müsste, weil es mit dem Verstand nicht zu begreifen und mit allgemeinen Maßstäben nicht zu messen sei, so dass man an es nur glauben könne. Er vermeidet jedoch die damit verbundene Problematik, indem er das Wesen oder die Seele Russlands übergeht und festhält, dass sein Anliegen bescheidender (!) ist. Sein neues gewichtiges Werk möchte verstehen und einordnen helfen, was sich im vergangenen Jahrhundert in Russland ereignet und welche Entwicklungen dieses Land durchlaufen hat.

 

Dazu gliedert er sein in der Ruhe des niederösterreichischen Waldviertels im Sommer 2011 in fünf Wochen im Rohentwurf des Manuskripts erarbeitetes Werk in fünf Teile. Im ersten Teil ist Russland um 1900 unterwegs in die Moderne (1890-1917), im zweiten Teil über Utopie und Kompromisse (1917-1928) wird für die Sowjetunion um 1926 Bilanz gezogen, der dritte Teil über den Kriegszustand zwischen 1928 und 1953 folgt dem für die Sowjetunion um 1942, der vierte Teil über die Konkurrenz mit dem Westen (1953-1982) für die Sowjetunion um 1966, während der fünfte Teil über Scheitern und Neubeginn (1982-1999) nach der Auflösung der Sowjetunion nochmals zu Russland um 1995 zurückkehrt. Entsprechend der politischen Wirklichkeit steht also die Sowjetunion vom Ende des ersten Weltkriegs bis zur Wende um 1990 im Vordergrund und ist Russland nur ihr wohl wichtigster Teil.

 

Im Einzelnen schildert der Verfasser sachkundig und detailliert Herausforderungen, Politisierungen, Polarisierungen, Richtungswechsel, Katastrophen, Umgestaltungen, Umbrüche, Höhenflüge und Rückschläge, Stabilisierung, Reformversuche und Umbauversuche oder insgesamt schöne Träume und schwierige Wirklichkeiten bis zum kaum vorausgesehenen Zusammenbruch unter dem westlicher ausgerichteten Michail Gorbatschow. Die schließliche Bilanz steht unter dem Diktum Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer. Ob sich dies unter der eisernen, entdemokratisierenden Hand Wladimir Putins wieder ändert oder ob die gelenkte Demokratie sich dauerhaft als eine autoritäre russische Variante des marktwirtschaftlichen Systems etablieren wird, vermag auch der vorzügliche Kenner der Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert nach Durcharbeitung und Vorstellung aller durch Anmerkungen im Anhang abgesicherten und durch Literaturverzeichnis und Sachregister von Achmatova bis Žukov dem Leser aufgeschlossenen wesentlichen Geschehnisse und Vorstellungen nicht vorherzusagen, so dass sich der Leser am Ende der plastischen Schilderung sein eigenes Urteil hierzu bilden muss.

 

Innsbruck                                                                   Gerhard Köbler