NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung, hg. v. Priemel, Kim Christian/Stiller, Alexa. Hamburger Edition, Hamburg, 2013. 928 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Nach Abschluss des Hauptkriegsverbrecherprozesses durch das Internationale Militärtribunal fanden zwischen Oktober 1946 und Oktober 1948 zwölf weitere Verfahren vor dem sog. Nuernberg Military Tribunals (NMT) statt, die in ihrer Gesamtheit bisher von der Forschung wenig beachtet worden sind. Im vorliegenden Band werden die NMT-Verfahren als „Prozessserie mit eigenem Profil begriffen, die einen originären, vom Vorgänger distinkten Ansatz verfolgten und eigene Dynamiken entwickelten“ (S. 11). Der Band will keine „Anthologie oder Aufsatzsammlung im herkömmlichen Sinne“, sondern „vielmehr eine Gesamtdarstellung, die erstmals eine umfassende, aus den Quellen gearbeitete Analyse aller NMT-Verfahren bietet, sein“ (S. 61). In ihrem Einführungsbeitrag zeigen die Herausgeber v. Priemel (Berlin) und Stiller (Bern) als Zielsetzung des Werkes auf, eine „multiperspektivische und multidisziplinäre Analyse auf einer breiten empirischen Grundlage“ zu bieten (S. 26). In den 23 Beiträgen wird gleichwohl ein einheitliches Erkenntnisinteresse verfolgt, das sich in sechs übergreifenden Fragestellungen konkretisiert: Konzeptionelle Stadien der NMT-Gruppen, biographische Aspekte des Prozesspersonals, Prozesspraxis, institutionelle Anschlüsse und Netzwerke, Muster und historische Narrative sowie die „Rezeptionsgeschichte der Verfahren in zeitgenössischer gleichermaßen wie in langfristiger Perspektive“ (S. 26f.). Insgesamt waren die NMT-Verfahren von Bedeutung für die Entwicklung des Völkerstrafrechts und für historische Forschung. Das umfangreiche unmittelbare Quellenmaterial ist in gedruckten Editionen nur teilweise verfügbar (S. 14). Nur ein Bruchteil des Quellenmaterials ist in deutscher Sprache greifbar (so u. a. das Urteil im Juristenprozess, das erstmals 1969, dann 1987 und zuletzt vollständig von Peschel-Gutzeit 1996 veröffentlicht wurde). Insgesamt umfasst der Quellenkorpus 140.000 Seiten Verhandlungsprotokolle und 30.000 für die NMT zusammengestellte Dokumente. Im Einleitungsteil behandeln v. Priemel/Stiller die Ursprünge und den Verlauf des NMT-Programms (1941-1958) und geben einen Überblick über das Personal der Prozesse. Während in Teil 1 die Prozesse erfasst werden, geht es in Teil 2 um die „Hintergründe“ (Akteure, Recht, Rezeption) und damit um einige übergreifende Gesichtspunkte (S. 491ff.). Nach Donald Bloxham erweist sich „die Untersuchung der NMT-Prozesse als Ausweitung und Weiterentwicklung des mit dem IMT in Gang gesetzten Prozesses“ als sehr gewinnbringend (S. 495f.). Der Erkenntnisgewinn des Gerichts sei Hand in Hand mit der „Entwicklung ausgefeilterer Instrumente“ verbunden (S. 496). Als zu bestrafende Delikte kamen in Frage Verschwörung zu Verbrechen gegen den Frieden, Angriffskrieg, Organisationsverbrechen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (vgl. die Tabelle über Urteile und Strafmaße S. 760).

 

Drei Beiträge befassen sich mit dem für die NMT maßgebenden Rechtsgrundlagen. R. Oberndörfer geht auf die verfassungsrechtlichen Aspekte ein (S. 525ff.) und stellt als Rechtsgrundlage für die NMT das Kontrollratsgesetz Nr. 10 und die Verordnung Nr. 7 der US-Militärregierung vom Oktober 1946 (Grundlage für ein faires Verfahren) sowie von Richtern des NMT aufgestellte Rules of Procedure (S. 530ff.) heraus. Die 32 Richter kamen nicht von den Bundesgerichten, sondern aus den Gerichten der Einzelstaaten. J. A. Bush entwirft ein Profil der Ankläger (S. 547ff.), während H. Krösche die Verteidigungslinien der Verteidiger, speziell am Beispiel von Hans Laternser herausarbeitet (S. 605f.). Die Prozesse gegen Wirtschaftsführer aus der NS-Zeit ermöglichten, „einen Prozess der Vergangenheitsbewältigung anzuschieben, auch wenn dieser sich noch schleppend und oft widerwillig vollzog“ (S. J. Wiesen, S. 630ff., 652). Die NMT-Verfahren wurden aus zeitgenössischer Sicht „vielfach und in Westdeutschland vorherrschend als gescheitert wahrgenommen“ (M. Urban, S. 684ff., 717). Der Beitrag L. Jockuschs beschäftigt sich mit der Sicht jüdischer Holocaustüberlebender im besetzten Deutschland insbesondere in der Zeitschrift „Undzer Weg“ (S. 653ff., 663ff.), die sich enttäuscht zeigte über die geringe Opferzentrierung der Verfahren. Eine zentrale Rolle spielte nach D. M. Segesser der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den NMT-Verfahren, der seine Grundlage hatte im Kontrollratsgesetz Nr. 10 Art. II 1 c (S. 586ff., 603f.). Die Anwendbarkeit dieses Tatbestandes in der Praxis der NMT habe entscheidend – so Segesser – dazu beigetragen, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dem international anerkannten Tatbestand zu machen, der er seither im internationalen Strafrecht geblieben ist“ (S. 603). Dagegen hatten die NMT den Anklagepunkt des Angriffskriegs (Verbrechen gegen den Frieden) ganz fallen gelassen und das Verbrechen gegen den Frieden (Planung, Vorbereitung Initiierung eines Angriffskriegs) nur bei drei Angeklagten des Wilhelmstraßenprozesses angenommen (vgl. S. 760). Insbesondere hinsichtlich des Tatbestandes des Art. II 1 c des KRG Nr. 10 stellte sich die Problematik der Rückwirkung in den Nürnberger Prozessen und später auch bei den Gerichten der Britischen Zone während der Besatzungszeit (hierzu L. Douglas, S. 719ff.). Hinzuweisen ist darauf, dass der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone bereits in seiner Entscheidung vom 4. 5. 1948 die rückwirkende Bestrafung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit bejaht hat: „Die nachträgliche Heilung solcher Pflichtversäumnisse durch rückwirkende Bestrafung entspricht der Gerechtigkeit. Das bedeutet auch keine Verletzung der Rechtssicherheit, sondern die Wiederherstellung ihrer Grundlage und Voraussetzung, Unrechtssicherung ist nicht Aufgabe der Rechtssicherheit“ (OGH St. 1, S. 5). Insgesamt wäre es zum Verständnis der Beiträge hilfreich gewesen, wenn die Herausgeber die wichtigsten Teile der materiell- und verfahrensrechtlichen Grundlagen der NMT-Prozesse mitgeteilt hätten.

 

Der Abschnitt über die Planung, das Verfahren und die Wirkung der einzelnen Prozesse beginnt mit dem Beitrag J. E. Schultes über das Verfahren gegen Angehörige des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes (Fall 4, S. 67ff.). Hier war es der Anklagebehörde gelungen, neben der „individuellen Verantwortung der Angeklagten auch die nur kollektiv zuschreibbare Dimension der kriminellen Taten deutlich zu machen“ (institutioneller Ansatz, S. 94). Der Fall 4 bildet einen wichtigen Beitrag zu den völkerrechtlichen Straftatbeständen des römischen Statuts von 1998 (Art. 6-8). Gegenstand des Falles 8 war die nationalsozialistische Volkstums-, Siedlungs- und Germanisierungspolitik, deren von der Anklage erarbeitete Grundlagen die Geschichtswissenschaft erst 50 Jahre später angemessen würdigte und erweiterte. Auch wenn Genozid noch kein Anklagepunkt war, hatte der Einsatzgruppenprozess „nachhaltige Auswirkungen auf das historische Verständnis der ‚Endlösung’ in den besetzten sowjetischen Gebieten“ (H. Earl, S. 127ff., 135). Der Ärzte-Prozess ist der am besten dokumentierte NMT-Prozess (P. Weindling, S. 158 ff.) und stellt „eine richtungweisende und gelungene Konfrontation mit den Schrecken der Medizin-(Verbrechen) im Nationalsozialismus“ (S. 193) dar. Der Fall 2 betraf den Prozess gegen den Luftwaffenoffizier und Generalflugzeugmeister Erhard Milch, der dazu beitrug, dass die KZ-Werke der deutschen Industrie längere Zeit insgesamt unberücksichtigt blieben (L. Budraß, S. 194ff.). Der Südost-Generäle-Prozess (Geiselmord gegen Wehrmachtsangehörige in Südosteuropa; F. Dierl/A. Stiller, S. 230ff.) war zwar dem politischen Kontext des kalten Krieges verhaftet, führte jedoch bereits 1949 dazu, dass das Genfer Abkommen vom 12. 8. 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten festlegte, dass „Geiselnahmen sowie Hinrichtungen ohne vorheriges Urteil eines ordentlichen Gerichts zukünftig ‚jederzeit und jederorts verboten’ sein sollen“ (S. 254). Der umfangreiche OKW-Prozess (Fall 12) war eine wichtige Grundlage für die Beurteilung einer „wesentlich größeren und verheerenderen Mitschuld der Institution Wehrmacht an den Verbrechen des NS-Regimes“ (S. 286), eine Thematik, die erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts breiter thematisiert wurde. Chr. Wilke befasst sich mit dem Juristenprozess, bei dem das Gericht die Nürnberger Rechtsnormen „tiefer in den Regeln der Zivilisation verankerte“ (S. 288ff., 291ff.): „Ohne die Erwartung zivilisatorischer Standards an Deutschland hätte diese als barbarisch verstandene Gewalt gar nicht dem Strafrecht unterworfen werden können“ (S. 315). Den Wilhelmstraßenprozess (Fall 11), ein sog. Omnibusprozess, behandeln D. Pöppmann hinsichtlich des Auswärtigen Amtes und der SS (S. 320ff.) – im Mittelpunkt stand die Anklage und Verurteilung Ernst von Weizsäckers – und R. Ahrens hinsichtlich der nationalsozialistischen Raubwirtschaft (Ausbeutung der besetzten Gebiete, Verschleppung ihrer Bewohner zur Zwangsarbeit). Es folgen die Beiträge von A. Drecoll über Manager des Flick-Konzerns (S. 376ff.), von St. H. Lindner über die Manager des IG Farben-Konzerns (S. 405ff.) und von K. Ch. Priemel über Alfried D. Krupp und seine Manager. Außerhalb der NMT stand das auf der Grundlage des KRG Nr. 10 von der französischen Justiz durchgeführte Verfahren gegen Röchling und seine Manager, das F. Berger und H. Joly behandeln (S. 464ff.), das ihrer Meinung nach zu einem ausgewogenen und maßvollen Urteil in zwei Instanzen führte.

 

Der Teil 3: „Die Fakten – Personen, Daten, Ergebnisse“ (S. 755-829) fasst in Tabellen die Anklagepunkte sowie die Urteile und Strafmaße zusammen. Weitere Tabellen enthalten die wichtigsten Daten über die behandelten 13 Prozesse und über das Personal und die Zeugen vor dem IMT und ihr späteres Auftreten in den NMT-Prozessen. Im Anhang findet sich das Quellenverzeichnis, der Nachweis der gedruckten Quellen und der Literatur. Vielleicht wäre es angesichts des Umfangs insbesondere der Sekundärliteratur hilfreich gewesen, wenn die Titel auch unter dem Gesichtspunkt der einzelnen Prozesse zusammengestellt worden wären. Auch wenn der Band mehr als die „Summe seiner Einzelteile“ (S. 61) darstellt, so liegt damit jedoch noch keine Gesamtanalyse der Prozesse der IMT vor, die sich der Leser aus einer Gesamtschau der einzelnen Beiträge noch erarbeiten müsste. Für diese Gesamtschau finden sich bereits vielfältige Hinweise im Eingangsteil und im Abschnitt über die „Hintergründe“ (S. 491 ff.). Auch der (völker-)rechtsgeschichtliche Ertrag der NMT-Verfahren müsste noch detaillierter erschlossen werden, als dies in den Einzelbeiträgen möglich war. Mit dem von Priemel und Stiller herausgegebenen Band liegt ein wichtiges, immer interessant geschriebenes Grundlagenwerk vor, das volle Beachtung auch der Rechtshistoriker verdient.

 

Kiel

Werner Schubert