Leone, Frederico,
Von der Lehre des „geborenen“ Verbrechers zur modernen Hirnforschung. Ein
Beitrag zur Geschichte der biologischen Kriminologie und ihrer Auswirkungen auf
das Strafrecht (= Strafrecht in Forschung und Praxis 263). Kovač, Hamburg
2013. 274 S. Zugleich rechtswissenschaftliche Dissertation der Universität des
Saarlandes. Besprochen von Werner Augustinovic.
Mit dem Namen Cesare Lombrosos (1835-1909) verbindet sich in erster Linie dessen seinerzeit ebenso populäre wie umstrittene, empirisch unhaltbare deterministische Lehre von dem „geborenen Verbrecher“, den er im L´uomo delinquente (1876), seinem Hauptwerk, als atavistisches, an spezifischen körperlichen wie geistigen Merkmalen erkennbares Mangelwesen beschrieb. Wer nun meint, dass derartiges Gedankengut bestenfalls im Fundus der Geschichte seinen Platz fände, der irrt, denn, so der Verfasser, „die für die Gegenwart und Zukunft interessante Frage, ob die Theorie vom geborenen Verbrecher immer noch ein Thema ist, kann man zweifelsohne mit ja beantworten“, obwohl sie „falsch war“. So erfreue sich die „Vorstellung, dass das Verbrecherische biologischen Ursprungs ist, heutzutage wieder großer Beliebtheit“; die „für einen solchen Nachweis zur Verfügung stehenden Methoden und Gerätschaften“ stellten zwar „einen großen Fortschritt dar, ändern aber nichts an den gesellschaftlichen Problemen, die auch die modernen Theorien mit sich bringen, die versuchen, kriminelles Verhalten biologisch zu erklären“, wie die Missbrauchsgefahr durch rassistische Propaganda, vor allem auf dem Gebiet kriminalpolitischer Forderungen (S. 63f.).
Es geht also, salopp gesagt, in Frederico Leones juristischer, sich als „interdisziplinärer Forschungsbeitrag in einem geschichtlichen Kontext“ (S. 25) verstehender Dissertation darum, zu zeigen, unter welchen modernen Etiketten sich bei genauerem Hinsehen alte, von Lombroso vertretene Positionen nunmehr in neuem Gewande verbergen und mit welchen Folgewirkungen das rezente Strafrecht dadurch konfrontiert sein könnte. So ist die Arbeit denn auch nur bedingt als rechtswissenschaftliche Studie zu betrachten, liest sie sich doch über weite Strecken eher wie ein kritisches Kompendium naturwissenschaftlicher und philosophischer Lehrmeinungen, ohne allerdings ihren Fluchtpunkt, die Frage der Existenz biologischer Ursachen für das Verbrechen, aus dem Auge zu verlieren. Nach Darstellung des Wirkens Lombrosos und des durch ihn ausgelösten internationalen Schulenstreits (Italien: Enrico Ferri, Raffaele Garofalo; Frankreich: Alexandre Lacassagne, Gabriel Tarde, Émile Durkheim; Deutschland: Franz von Liszt, Emil Kraepelin) diskutiert der Verfasser zunächst die klassischen (Zwillings- und Adoptionsforschung) sowie moderne biologische Kriminalitätstheorien (unter anderem Ethologie, Soziobiologie, Eysenck, Kretschmer, Chromosomenanomalie, Geschlechterspezifik, Testosteron und Serotonin), die zwar „auf den ersten Blick erstaunliche Resultate zum Vorschein“ gebracht hätten, aber, „was die Erklärung der Ursachen kriminellen Verhaltens anbelangt“ nur deutlich machten, „dass vieles vermutet wird, aber letztendlich nichts bewiesen ist“ (S. 109). Gleiches gilt auch für die so spektakulär anmutenden Annahmen der modernen Hirnforschung, die vor allem durch die Experimente Benjamin Libets und seiner Nachfolger große Popularität erfahren haben und manchem als angeblicher Beweis für die Nichtexistenz der menschlichen Willensfreiheit dienen sollten, obwohl eine solche „durch die Ergebnisse […] weder empirisch bewiesen, noch widerlegt worden“ sei (S. 164).
Die Frage der Existenz oder Nichtexistenz einer Willensfreiheit bliebe nicht ohne Auswirkungen auf die Strafrechtsdogmatik, wo sich zwei Strömungen herauskristallisiert hätten: „Die erste würde, für den Fall, dass es der Hirnforschung wirklich gelingen würde die Willensfreiheit empirisch zu widerlegen, das Schuldstrafrecht aufgeben, wohingegen die zweite auch in diesem Fall am Schuldstrafrecht festhalten würde“ (S. 174). Ein auf Determinismus basierendes Strafrecht könnte sich demnach alternativ zur Schuld auf Prävention, die Wahl des Täters zwischen Therapie und Strafe oder den Vertragsgedanken stützen, allesamt problematische Konzeptionen. Andere Deterministen wie Reinhard Merkel, Claus Roxin oder Björn Burkhardt haben daher – ebenso unzulänglich – versucht, am Schuldstrafrecht nicht zu rütteln und sich damit den Vorwurf des Utilitarismus oder der Metaphysik eingehandelt, den der Verfasser aber für sich relativiert: „Wenn ich aber die Frage stellen würde, was denn die wünschenswertere Grundlage eines humanen Strafsystems wäre, eine minimale Dosis Metaphysik oder ein methodisch ungenaues und angreifbares, weil nicht bewiesenes biologisches Konstrukt, wie es der neurobiologische Determinismus anbietet, dann dürfte die Antwort doch wohl außer Zweifel stehen“ (S. 201).
Breit stellt er anschließend in einem ausladenden „Blick über den juristischen Tellerrand“ (S. 202ff.) hinaus den Determinismus-Indeterminismus-Streit und die Positionen der sogenannten „Inkompatibilisten“ mit dem „harten“ Determinismus und dem Libertarismus (Akteurskausalität nach Chisholm, Ereigniskausalität nach Kane) sowie verschiedener „Kompatibilisten“ (Moore, Frankfurt, Dennett, Bieri, Beckermann, Pauen, Strawson, Nida-Rümelin) dar, hier ebenfalls und nicht überraschend zum Schluss gelangend, dass „auch in der Philosophie die Extrempositionen rund um die Willensfreiheit immer weniger Gefolgschaft haben“ und wie in der Jurisprudenz „kompatibilistische Konzepte (dominieren)“ (S.228).
Die Position des Verfassers ist von Pragmatismus gekennzeichnet, wenn er feststellt, das Strafrecht hielte mangels tauglicher Alternativen „am Schuldprinzip nicht fest, weil es dies unbedingt will, sondern weil es dies (zumindest derzeit noch) unbedingt muss“; dabei erscheine es „ganz und gar nicht abwegig, wenn auch das Strafrecht nach wie vor mit der Illusion einer Freiheit arbeitet, um menschliche Verantwortung zuzurechnen“ (S. 232). Damit zieht er eine klare Grenze zum neurobiologischen Determinismus und zu dessen Kernaussage, wonach niemand einen freien Willen besitze, „weil wir alle durch unsere Gehirne determiniert sind, folglich kann auch niemand für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden“ (S. 234). Zudem ginge von Protagonisten eines „Neolombrosionismus“ eine weithin unterschätzte Gefahr aus, etwa vom kanadischen Psychologen Robert D. Hare, dessen Konzept des unheilbaren Psychopathen und die daraus abgeleitete kriminalpolitische Folge, die Anwendung der Todesstrafe, einem Revival Lombrosos gleichkomme, dem bedauerlicher Weise nur wenige so entschlossen Paroli böten wie der Grazer Rechtssoziologe Peter Strasser.
Mit der Frage der Willensfreiheit hat sich Frederico Leone in seiner Dissertation eines ebenso komplexen wie komplizierten Problems angenommen, dessen Konturen nicht leicht abzustecken und dessen Argumentationslinien intellektuell nicht einfach nachzuvollziehen sind. Das erkennt der Verfasser selbst und gesteht es sympathischer Weise zwischen den Zeilen mit relativierenden Einschüben wie „wenn ich das richtig verstehe“ oder „auch wenn meine Analyse falsch sein sollte“ (S. 200) expressis verbis ein. Der Teil, der sich mit den biologischen Kriminalitätstheorien befasst, setzt unter dem Titel „Kriminalbiologie und Rassenwahn“ (S. 65ff.) erst mit der Epoche des Nationalsozialismus ein; hier fehlt ein Hinweis auf die reichhaltige kriminalbiologische Praxis, wie sie schon vor dieser Zeit bestanden hat und etwa von Thomas Kailer („Vermessung des Verbrechers. Die Kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945“, 2011) umfangreich dargestellt worden ist. Die störenden Schwächen in der Zeichensetzung, vor allem der Kommasetzung, den einen oder anderen Schreibfehler oder manche Unebenheit im Ausdruck hätte ein aufmerksames Lektorat leicht ausmerzen können. Dessen ungeachtet bietet die vorliegende Studie einen profunden Überblick über die wesentlichen biologischen Strömungen in der modernen Kriminologie und ihre geistigen Wurzeln, eine kritische Auseinandersetzung mit deren tatsächlichen oder vorgeblichen Erkenntnissen und die Gewissheit, dass zumindest auf absehbare Zeit eine Revision des klassischen Schuldstrafrechts nicht zu erwarten steht.
Kapfenberg Werner Augustinovic