Lange, Christian, Öffentliche Kleinkindererziehung in Bayern. Die Rolle des Staates bei der Definition einer Lebensphase im 19. Jahrhundert (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 284 = Lebensalter und Recht 7). Klostermann, Frankfurt am Main 2013. XI, 362 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Die vorliegende Frankfurter Dissertation ist im Rahmen der Thematik der selbständigen wissenschaftlichen Forschungsgruppe „Lebensalter und Recht“ am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte entstanden. Untersucht wird im Rahmen des von der Sozialgeschichte entwickelten Modells eines „segmentierten Lebenslaufes“ (S. 6), „inwieweit bereits im 19. Jahrhunderts die Institution ‚öffentliche Kleinkindererziehung’ die Zeit zwischen dem Säuglingsalter und dem Schulalter als klar umrissene Lebensphase ‚Kleinkind’ definierte und welche Bedeutung dabei dem Staat und seinem Recht zukam“ (S. 4). Hierbei geht Lange von dem Begriff der „regulierten Selbstregulierung“ aus, der die „von staatlicher Seite erfolgende Indienstnahme aus der Gesellschaft heraus entstandener Organisationen“ beschreibe (S. 8).

 

Im ersten Teil seines Werkes befasst sich Lange mit den Anfängen der öffentlichen Kleinkindererziehung (die Entwicklung bis 1839; S. 15-135). Am Anfang des 19. Jahrhunderts galten „verwahrloste“ Kinder aus den Unterschichten als Gefahr für die Gesellschaft, der man in fürsorgerischer Absicht entgegenwirken wollte. Zwischen 1828 und 1830 scheiterten Versuche zur Gründung von Kleinkinderbewahranstalten und Kinderschulen noch überwiegend (S. 68ff.). Aber bereits 1833/1834 gab es in Bayern neun Kinderverwahranstalten, was das Innenministerium veranlasste, die öffentliche Kleinkindererziehung in der „Instruktion über die Behandlung des Armenwesens“ vom 24. 11. 1833 zu regeln (S. 102ff.). Diese Anstalten für Kinder ab zwei/drei Jahren waren als „privatwohltätige Institute im Bereich des Armenwesens“ verortet (S. 134). Träger der Anstalten waren vorwiegend Vereine, deren Statuten von der Verwaltung genehmigt wurden (S. 109ff.).

 

Im zweiten Hauptteil: „Die Regulierung vor und nach der Märzrevolution“ wird die Zeit zwischen 1839 bis zum Anfang der 60er Jahre behandelt (S. 139-225). Maßgebend für diese Zeit waren Normierungen von 1839, 1846, 1847 sowie von 1851 und 1852. Grundlegend waren die „Allgemeinen Bestimmungen“ vom 17. 10. 1839, „die Errichtung und Beaufsichtigung der Kleinkinder-Bewahranstalten betreffend“; sie enthielten Regelungen über die Genehmigung der Anstalten und deren Beaufsichtigung, über die Erziehungsziele und das Personal. In dieser Breite war diese Verordnung „im deutschen Sprachraum einmalig“ und erfasste „alle für den Staat relevanten Bereiche der öffentlichen Kindererziehung“ (S. 173f.). In Abgrenzung zur Schule hatte sich das Personal eines „’eigentlichen Unterrichtes … gänzlich und strenge zu enthalten’“ (S. 144). Verordnungen von 1846/1847 regelten die Beschäftigungen in den Kleinkinder-Bewahranstalten (S. 165ff.) und die Sicherstellung gegenseitiger Achtung in konfessionell gemischten Anstalten (S. 166). 1851 wurde Kindergärten nach dem „Fröbelschen System“, die schichtübergreifend ausgerichtet waren und als „Pflanzschulen der Demokratie“ und von der Bürokratie als „staats- und gesellschaftsfeindlich“ angesehen wurden (S. 191f.). Ab 1852 wurde die öffentliche Kleinkindererziehung, die bisher vornehmlich die städtischen unterbürgerlichen Kinder erfasste, auch die ländlichen Ortschaften ausgedehnt (S. 199). Zugleich sollte die Erwerbstätigkeit unverheirateter Mütter gefördert werden. Die Statistik zeigt, dass sich zwischen 1833/1834 und 1851/1852 die Zahl der Anstalten verzehnfacht hat (von 8 auf 91 Anstalten; S. 213 f.). In die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts fällt auch die Entstehung von Kinderkrippen für Kinder bis zum Alter von zwei oder drei Jahren (S. 221ff.), eine Entwicklung, die Lange leider nicht detailliert weiterverfolgt.

 

Im 3. Kapitel: „Die Entwicklung der öffentlichen Kleinkindererziehung zur schichtübergreifenden Institution“ (S. 229-237) befasst sich Lange zunächst mit der Zulassung Fröbelscher Kindergärten seit 1868 (S. 251ff.) und mit der statistischen Erfassung der Kleinkinder-Verwahranstalten und Kindergärten, wonach in Bayern zu dieser Zeit 27 Kindergärten und 222 Kleinkinderanstalten bestanden (S. 235ff.). Zunehmend wurde auf die Ausbildung der Erzieherinnen insbesondere durch christliche Schwesterngemeinschaften und durch Fröbelsche Bildungsanstalten für Kindergärten Wert gelegt (S. 242ff.). Nach einer statistischen Übersicht (S. 277ff., 322ff.) existierten in Bayern 1906 815 Bewahranstalten und Kindergärten (40% von Vereinen, 30% von den Gemeinden getragen) mit 67.600 Kindern (Beteiligungsquote 15,3%); auf eine Betreuerin entfielen 48 Kinder. 81% der in den Einrichtungen beschäftigten Frauen verfügten über eine berufliche Ausbildung. Am Ende des Untersuchungszeitraums stehen die „Allgemeinen Bestimmungen über Einrichtung und Betrieb von Kinderbewahranstalten“ vom 17. 12. 1910, vor deren Erlass die nachgeordneten Behörden gutachterlich gehört worden waren (S. 283ff.). Die „Allgemeinen Bestimmungen“ vollzogen die „Abkehr von der öffentlichen Kleinkindererziehung als eine in erster Linie schichtspezifische Institution“ (S. 296). Die interventionistischen Tendenzen bedingten eine detaillierte Regelung der öffentlichen Kleinkindererziehung. Hinsichtlich des Eintrittsalters wurde eine strenge Festlegung der Altersgrenze vermieden (Aufnahme von Kindern in Ausnahmefällen auch ab Vollendung des zweiten Lebensjahres). Mit den sog. Anstalten „für nichtchristliche Kinder“ dürften jüdische Einrichtungen gemeint gewesen sein (S. 295). Ausführliche Regelungen brachte die Verordnung auch über die Aufsicht und über das Personal der Anstalten.

 

Nach einem präzisen Resümee bringt Lange statistische Übersichten, einen Nachweis der zahlreichen besprochenen Normierungen (S. 331-337) und nach dem Literaturverzeichnis ein knappes Personen- und Sachregister. Sehr hilfreich wäre es gewesen, wenn Lange im Anhang zumindest die wichtigsten Bestimmungen der Normierungen von 1839 und 1910 und vielleicht auch von 1846/1847 gebracht hätte. Der Vergleich der Entwicklung in Bayern mit dem Ausbau der Kindergärten bzw. Kleinkinderbewahranstalten in anderen Bundesstaaten und im Ausland (zu England vgl. S. 63f., 75f.) hätte etwas breiter angelegt sein können. Auch ein Ausblick auf die weitere Entwicklung in Bayern bis zum Ende der Weimarer Zeit wäre von Interesse gewesen. Wie das Archivalienverzeichnis zeigt (S. 327ff.), hat Lange neben zeitgenössischen Zeitschriften, Intelligenzblättern und pädagogischen Werken in großem Umfang die Verwaltungsakten herangezogen. Hierdurch hat Lange auch der Rechtsgeschichte ein Forschungsgebiet erschlossen, für das bisher lediglich die philosophische Diessertation Klaus Klattenhoffs für Oldenburg von 1982 vorlag.

 

Kiel

Werner Schubert