Kershaw, Ian, Das Ende. Kampf bis in
den Untergang, NS-Deutschland 1944/45. Aus dem Englischen von Binder,
Klaus/Leineweber, Bernd/Pfeiffer, Martin. Deutsche Verlags-Anstalt, München
2011. 704 S., zahlr. Abb. und Kart. Besprochen von Steffen Schlinker.
Eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus
drängt immer wieder zu der Frage nach den Mechanismen der Herrschaft und den
prägenden Mentalitäten. Das gilt für den Beginn der nationalsozialistischen
Herrschaft im Jahr 1933 ebenso wie für deren Ende im Jahr 1945. Ian Kershaw,
der als einer der besten Kenner dieser Zeit gelten darf, hat nun erstmals
Antworten auf die Frage erarbeitet, welche Gründe die Fortsetzung eines
aussichtslosen Krieges und die Fortdauer von Hitlers Herrschaft ermöglichten,
bis das Deutsche Reich (fast) vollständig besetzt und seine Städte sowie seine
Infrastruktur (weitgehend) zerstört waren. Warum – so fragt Kershaw – wurden
gegen jede Vernunft nicht vor dem Mai 1945 Kapitulationsverhandlungen geführt,
wieso kam es nicht zur Revolte der Streitkräfte, zum Aufstand der
Zivilbevölkerung oder zum Putsch einer Führungsschicht, um einen früheren
Friedensschluss herbeizuführen. Der deutsche Titel des Buchs „Das Ende. Kampf
bis in den Untergang NS-Deutschland 1944/45“ bezeichnet daher besser als der
englische Originaltitel „The End. Hitler’s Germany, 1944-45“ das Ziel, auf welches
das Land durch Hitlers selbstzerstörerische Befehle zusteuerte: auf einen
Untergang, der in weitem Ausmaß mit der militärisch nicht mehr begründbaren
Vernichtung von Menschenleben und wirtschaftlichen Ressourcen einherging (S.
11, 23f.).
Die von Kershaw gewählte Fragestellung bedingt,
dass die Kriegsereignisse, innenpolitischen Verhältnisse sowie Stimmungsbilder
allein aus deutscher Sicht beschrieben werden. Im Einzelnen berücksichtigt
Kershaw die militärische Lage und die Situation der Kriegswirtschaft, aber auch
die Strukturveränderungen im Innern des Reichs sowie die Situation der
Zivilbevölkerung, soweit das für die Fragestellung von Belang ist. Ergänzend
werden in zeitlichem Fortgang biographische Details zu führenden Funktionären
der NSDAP beleuchtet, insbesondere zu den vier Männern, die sich in diesen neun
Monaten unter Hitler die Macht im Reich teilten: Goebbels, Himmler, Bormann und
Speer. Zeitlich behandelt das Buch einen Zeitraum von etwa neun Monaten
zwischen Juli 1944 und Mai 1945. Ausgehend vom Attentat der Gruppe um Oberst
Claus Graf Schenk von Stauffenberg am 20. Juli 1944 und der alliierten Landung
in der Normandie begleitet der Leser das Deutsche Reich auf dem Weg der
Zerstörung über den Vormarsch der Roten Armee im Osten bis zum ersten Einbruch
in Ostpreußen im Herbst 1944 und zum Scheitern der Ardennenoffensive Ende 1944.
Das Jahr 1945 beginnt mit dem endgültigen Einbruch der Roten Armee in
Ostpreußen und Schlesien, der die Sowjets bis Ende Januar 1945 bis an die Oder
führt und mit einer erheblichen Intensivierung des brutalen Terrors der
nationalsozialistischen Machthaber innerhalb der Reichsgrenzen einhergeht, bis
der Krieg mit der Besetzung des Reichs, dem Zusammenbruch des Regimes und der
bedingungslosen Kapitulation endet. Die hier erörterten vielfältigen
Einzelaspekte werden abschließend in einer zusammenfassenden Analyse zu einem überzeugenden
Gesamtbild vereinigt.
Es liegt nahe, dass die komplexe Fragestellung
keine einfache Antwort erlaubt. Vielmehr wird eine Vielzahl von Faktoren
vorgestellt, die jeweils für sich, aber mit ganz unterschiedlicher Intensität
den Fortbestand des Regimes ermöglicht haben. Kershaw widmet sich zunächst der
alliierten Forderung nach bedingungsloser Kapitulation, die er überzeugend als
wenig belastbaren Grund für eine Fortsetzung des Krieges versteht. Zwar
versuchte noch Karl Dönitz in den ersten Maitagen 1945, eine Kapitulation an
allen Fronten zu vermeiden, weil damit zwei Millionen deutsche Soldaten in die
sowjetische Kriegsgefangenschaft zu geraten drohten (S. 524), ein Schicksal,
das ihnen in großer Zahl schließlich doch widerfuhr. Dönitz setzte daher den
Krieg noch bis zum 7. Mai fort, aber einen beherrschenden Einfluss hatte die
Forderung nach bedingungsloser Kapitulation auf das Denken der führenden
Militärs nicht.
Ablehnend steht Kershaw auch der Annahme
gegenüber, die Fortsetzung des Kriegs beruhe auf der angeblich andauernden
Popularität Hitlers bei den Frontsoldaten und in der Zivilbevölkerung. Kershaw
kann überzeugend darlegen, dass das Volk in seiner großen Mehrheit kein
Vertrauen mehr in Adolf Hitler hatte (S. 187, 527). Der zunächst durchaus vorhandene
plebiszitäre Rückhalt, der aufgrund der Verbesserung der Wirtschaftslage, der
ersehnten Wiederherstellung nationaler Ehre sowie aufgrund des Einsatzes der
Propagandamaschinerie in den dreißiger Jahren gewachsen war, begann bereits
seit dem Fall von Stalingrad im Januar/Februar 1943 zu schwinden und schmolz in
erheblichem Maße in den letzten Kriegsmonaten seit etwa Oktober 1944 dahin (S.
33). Der massive Ansehensverlust der nationalsozialistischen Partei beruhte im
Westen auf den permanenten Luftangriffen (S. 42, 181, 218ff.) und im Osten auf
dem Vormarsch der Roten Armee (S. 269ff., 275). Die Meldungen des
Sicherheitsdienstes stellten im Herbst 1944 Skepsis und Kriegsmüdigkeit in der
Bevölkerung fest (S. 99ff., 162, 186ff., 218ff., 361). Ein kleiner fanatischer
Teil der Bevölkerung war allerdings bis zum Kriegsende bereit, am
nationalsozialistischen Irrglauben festzuhalten und jede kritische Äußerung
oder jede als destruktiv betrachtete Handlung zu denunzieren (S. 187f.).
Während die Luftangriffe im Westen den Wunsch nach baldigem Kriegsende stetig
förderten, bestand im Osten größere Bereitschaft, die Verteidigung
fortzusetzen, weil mit der Beendigung des Krieges eine Besetzung durch
russische Truppen drohte (S. 181). In Ostpreußen und Schlesien waren Zuversicht
und Führerglaube längst einem Gefühl der Angst gewichen: Für die
Zivilbevölkerung führte die Offensive der Roten Armee zu panischer Angst vor
Vergewaltigung und Deportation in die sowjetischen Arbeitslager (S. 261ff.).
Nicht nur die Erfahrungen des ersten Weltkriegs und die unablässige Propaganda
hinterließen hier ihre Spuren. Die Sorgen waren auch den Gerüchten oder gar dem
Wissen um die Kriegsführung der Wehrmacht im Osten mit ihren Gräueln an der
Zivilbevölkerung und den Juden geschuldet (S. 150, 163ff., 256ff.). Die
sowjetische Propaganda bemühte sich ihrerseits, die Soldaten der Roten Armee zu
drastischer Vergeltung anzustacheln (S. 152, 169ff.). Die Ereignisse von
Nemmersdorf im Oktober 1944 gaben der Bevölkerung insofern einen Vorgeschmack
auf das Kommende.
Auch bei den Soldaten der Wehrmacht zeigten sich
im Westen und im Osten unterschiedliche Empfindungen. An der Ostfront waren
viele Soldaten zur Fortsetzung des Krieges bereit, um die nunmehr von der Roten
Armee bedrohte Heimat und das Leben ihrer Angehörigen zu verteidigen (S. 178f.,
528, 533). In einer Verlautbarung an die Wehrmacht an der Ostfront wurde denn
auch ausdrücklich zur Verteidigung des Vaterlands und „unserer Frauen und
Kinder“ aufgerufen (S. 81ff.). Der Feind stehe an Ostpreußens Grenze. Abgesehen
davon war die Furcht, in die Hände der
Roten Armee zu fallen, auch bei den Frontsoldaten eine kaum zu
unterschätzende Motivation dafür, die Kämpfe unbedingt fortzusetzen (S. 152f.,
182, 276, 279f., 321, 380f., 532): „Den deutschen Soldaten war durchaus bewußt,
dass sie von der Roten Armee nichts zu erwarten hatten, wenn sie in
Kriegsgefangenschaft gerieten. Häufig wussten sie, manchmal aus erster Hand,
welche Grausamkeiten die Deutschen im Osten begangen hatten. Womit sie zu rechnen
hatten, war der Tod; bestenfalls endlose Zwangsarbeit irgendwo weit weg in der
Sowjetunion.“ (S. 433). So resultierte die Fortdauer des Krieges nicht selten
aus dem Kampf um das nackte Überleben (S. 154, 533). Eine vergleichbare Angst
vor britischer oder amerikanischer Gefangenschaft lässt sich dagegen für die
Westfront nicht feststellen (S. 153, 174, 178ff.): „Das Bewusstsein für den
grundsätzlich anderen Charakter des Krieges im Osten und im Westen war in der
gesamten deutschen Gesellschaft seit dem Überfall über die Sowjetunion 1941
vorhanden.“ (S. 180). Wie die Zivilbevölkerung versuchten später auch noch die
Soldaten, sich aus dem Osten zu den amerikanischen Linien durchzuschlagen.
Insofern ließen sich vor allem „im Osten … der leidenschaftliche Wunsch nach
einem Ende des Krieges, die Verachtung für die Partei, die Kritik am Regime, ja
sogar der Verlust des Vertrauens in Hitler mit der anhaltenden Entschlossenheit
der Soldaten vereinbaren, die russischen Eindringlinge zurückzuschlagen, die
als Gefahr für Familien und Heimat betrachtet wurden. Und als schließlich
jeglicher Idealismus verschwunden war und pure Verzweiflung um sich griff,
kämpften die Soldaten … nur noch ums eigene Überleben.“ (S. 380f.).
Für das Regime war diese unterschiedliche Wahrnehmung
durchaus gefährlich, weil es den geforderten Kriegseinsatz im Westen schwächte.
Der Aufruf zu fanatischem und brutalem Kampf galt dem Westen wie dem Osten (S.
317f., 370, 433). Generalisierende Aussagen über die Einstellung der Offiziere
und Soldaten zum Regime und zum Krieg lassen sich natürlich kaum formulieren.
Anhand von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen vermag Kershaw aber ein
Stimmungsbild mit einem breiten Spektrum zu entwerfen. Äußerst skeptische und
das Regime ablehnende Aussagen kontrastieren mit weiterhin zuversichtlichen, ja
begeisterten Äußerungen, die gläubiges Vertrauen auf Adolf Hitler und den Sieg
verraten (S. 366f., 431f.). Zwar stieg die Zahl der Fahnenflüchtigen und Fälle
von Disziplinlosigkeit mehrten sich, aber Anzeichen einer Revolte finden sich
nicht (S. 224ff., 230ff., 314 ff., 364ff., 529f.). Ausdruck der eisernen
Disziplin, die das Regime ausübte, sind die 30.000 Todesurteile, die gegen
deutsche Soldaten durch deutsche Kriegsgerichte verhängt wurden, 35.000
Verurteilungen erfolgten insgesamt wegen Fahnenflucht (S. 317).
Diese Zahlen weisen bereits überdeutlich auf
einen weiteren gewichtigen Aspekt hin, der die Fortsetzung des Krieges
sicherte: Unterstützung musste das Regime durch massiven Terror gegen seine
eigenen Bürger und gegen die Soldaten der Streitkräfte erzwingen. Hitler stand
bis zum Ende ein brutaler Terrorapparat zur Verfügung (S. 34, 108, 301ff., 528
ff.). Schon im Frühjahr 1933 hatten die Nationalsozialisten keinen Zweifel
daran gelassen, gegenüber regimekritisch eingestellten Persönlichkeiten Gewalt
anzuwenden. Hitler war offensichtlich davon überzeugt, dass das, was die
Menschen am meisten beeindruckte, die offene Gewalt war. Insofern war für viele
Deutsche das Frühjahr 1933 ein Schlüsselerlebnis für den Terror und die
Repression des nationalsozialistischen Regimes gegen die Bevölkerung. Loyalität
wurde erzwungen und durch die Verbesserung der ökonomischen Verhältnisse auch
erkauft. Sebastian Haffner hat in seiner Geschichte eines Deutschen sehr
anschaulich beschrieben, wie der Beginn nationalsozialistischer Herrschaft im
Berliner Kammergericht brutale Spuren hinterließ. Als im Herbst und Winter
1944/1945 die Nerven der Parteifunktionäre blank lagen und die Propaganda
versagte, verstärkte sich der Terror.
Das misslungene Attentat vom 20. Juli 1944 hatte
zur Folge, dass sich die Macht der Partei über die Bürger und die staatliche
Verwaltung noch einmal erheblich ausweitete und der Zugriff auf Staat und
Gesellschaft in bisher nicht gekanntem Maße intensiviert wurde: „Der
Attentatsversuch Stauffenbergs markiert eine innere Zäsur in der Geschichte des
Dritten Reiches. Das Scheitern der Verschwörung hatte nicht nur furchtbare
Repressalien gegen die Beteiligten zur Folge …, sondern auch eine verschärfte
Radikalisierung des Regimes sowohl bei der Repression als auch bei der
Mobilisierung.“ (S. 56). Nach dem Attentat wurde von Himmler die Anweisung
erteilt, dass „Auffangkommandos aus brutalsten Kommandeuren … alles erschießen
[sollten], was das Maul aufmacht“ (Zitat Himmler). Jede Form der Kritik oder
des Zweifels an der Führung sollte durch brutale Unterdrückung unterbunden
werden (S. 65). Organisatorisch kam es zu einer Aushöhlung der Staatsorgane
durch Parteiorgane (S. 138ff.): Im September 1944 übertrug Hitler den Gauleitern
als Reichsverteidigungskommissaren die Exekutivgewalt in zivilen
Angelegenheiten sowie das Recht, der staatlichen Verwaltung juristisch bindende
Anordnungen zu erteilen (S. 138). Die Gauleiter erhielten die Kompetenz für den
Bau von Verteidigungsanlagen, die Mobilisierung des Volkssturms, die
Sozialfürsorge und die Durchführung der Evakuierung. Das ermöglichte massive
Eingriffsmöglichkeiten der Partei in Gesellschaft, Verwaltung und Militär und
begründete neue Kontrollstrukturen (S. 71f., 83ff., 160). Ebenfalls als
Instrument der Kontrolle und Reglementierung der Zivilbevölkerung diente der
Volkssturm (S. 132ff., 531f.). Er sollte dazu beitragen, „jeglichen
Zusammenbruch im Innern zu verhindern“ (S. 135). Der totale Krieg diente daher
nicht nur der Mobilisierung nach außen, sondern auch als Überwachungs- und
Repressionsmechanismus nach innen (S. 70).
Jede Form von Kritik am Regime, jeder Zweifel am
Sinn der Kriegsanstrengungen sollte unterbunden und härtester Sanktion
unterworfen werden: „Jeder, der so kühn war, offen defätistische Bemerkungen zu
machen oder die Führung Hitlers unumwunden zu kritisieren, musste immer noch
damit rechnen, von eifrigen Getreuen des Regimes bei den Behörden denunziert zu
werden.“ (S. 115). Hier trug die Förderung der schlechten menschlichen
Eigenarten in der Bevölkerung durch die nationalsozialistische Ideologie wie
Neid, Habgier, Missgunst und Denunziantentum ihre Früchte: „Anzeichen von
allem, was sich als Defätismus interpretieren ließ, lösten jetzt entsetzliche
Vergeltung aus.“ (S. 84). Die Untergliederungen der Partei über Gaue, Kreise,
Ortsgruppen, Zellen bis in die sogenannten Blöcke kontrollierten und
überwachten die Bevölkerung flächendeckend (S. 116f.): „Im Jahr 1945 waren die
Verachtung Hitlers und des Regimes oder eine hitzige Kritik an der Politik, die
zum Elend eines verlorenen Krieges geführt hatte, Gefühlsregungen, die man
besser herunterschluckte. Die kleinsten Anzeichen von Auflehnung konnten
brutalste Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen.“ (S. 14, 26f., 150, 236, 321,
Zitat: S. 383).
Mit dem Vormarsch der Alliierten und der Zunahme
des Bombardements stieg das Misstrauen des Regimes gegenüber der Bevölkerung
(S. 130): Himmler bevollmächtigte die Sicherheitskräfte „etwaige innere Unruhen
oder sonstige außergewöhnliche Umstände“ mit allen Mitteln niederzuschlagen und
kurzen Prozess zu machen (S. 130). In den ersten Monaten des Jahres 1945 begann
sich der Terror massiv gegen die deutsche Bevölkerung zu richten: „Der Terror,
den man für einige Jahre nach Osten exportiert hatte, kehrte jetzt heim ins
Reich.“ (S. 297). Neues Instrument der Unterdrückung waren die Standgerichte,
die zur Aburteilung aller Vergehen, welche die Kampfmoral gefährdeten,
eingerichtet wurden (S. 321ff.). Ihre Aufgabe war die „Vernichtung aller
Volksschädlinge“ (Wortlaut Bormann, S. 322). Sie sprachen innerhalb kurzer Zeit
6000 bis 7000 Todesurteile: „sie waren nicht mehr als eine Fassade für
zunehmend wahllosen und ungezügelten Terror.“ (S. 322). Ergänzt wurden die
Standgerichte ab 9. März 1945 schließlich durch fliegende Standgerichte, deren
vornehmliches Ziel der Ausspruch der Todesstrafe war (S. 322, 370). Von
Rechtsprechung kann man bei Unternehmungen wie dem fliegenden Standgericht von
Major Erwin Helm (S. 450), das jeden Anschein eines rechtsstaatlichen
Verfahrens vermissen ließ, sicher nicht sprechen. Was nur äußerlich in
rechtliche Formen gegossen worden war, entbehrte des inneren Gehalts der
Gerechtigkeit vollständig. Günter Spendel hat daher zu Recht darauf
hingewiesen, daß die Aussprüche der Standgerichte nicht als Gerichtsurteile,
sondern als „Nichturteile“ zu qualifizieren sind. Noch bis zum Eintreffen der
amerikanischen Streitkräfte wurden im Westen Regimegegner erbittert verfolgt.
Vernünftige Vorschläge, weiteres Blutvergießen und weitere Zerstörungen zu
verhindern, hatten vielfach die Vollstreckung der Todesstrafe zur Folge.
Während die Funktionäre der Partei flohen, tönten die Durchhalteparolen weiter,
deren Einhaltung mit drakonischen Strafen gesichert worden war (S. 308ff., 311ff.,
443ff.). So befahl Himmler am 3. April 1945, „aus einem Haus, aus dem eine
weiße Fahne erscheint, sind alle männlichen Personen zu erschießen.“ (S. 445).
Noch wenige Stunden vor dem Einrücken der westalliierten Truppen wurden
Zivilisten, die eine Zerstörung ihrer Städte verhindern wollten, nicht selten
aufgrund von Denunziationen fanatischer Nationalsozialisten rücksichtslos
erschossen oder gehängt (S. 19f., 448ff., 470): „Jedes scheinbar nicht konforme
Verhalten konnte für gewöhnliche deutsche Bürger verheerende Folgen haben, und
gegenüber den designierten Feinden des Regimes kannte der Terror überhaupt
keine Grenzen mehr.“ (S. 323).
Auch in der Wehrmacht wurden die „Möglichkeiten,
sich einer Nazifizierung zu entziehen, geringer …. Die Auswirkungen des
gescheiterten Bombenanschlags, die Notwendigkeit, sich als loyal zu erweisen,
der ausgeweiterte Einsatz von NS-Führungsoffizieren, die zunehmenden
Überwachung und die Furcht, in die Klauen Himmlers zu geraten (der jetzt über
größeren Spielraum zu Eingriffen in die militärische Sphäre verfügte),
hinterließen bei Offizieren wie bei Mannschaften ihre Spuren“ (S. 139f.). Große
Teile des Offizierskorps waren bereits durch die Mitgliedschaft in
nationalsozialistischen Organisationen seit 1933 und während des Krieges durch
die nationalsozialistische Ideologie geprägt worden. Nach dem 20. Juli 1944
wurden die oberen Führungsränge der Wehrmacht mit betont
nationalsozialistischen Offizieren besetzt. Kershaw meint, im Sommer 1944 sei
die „Stimmung im gesamten Generalstab … von Verzweiflung bestimmt … [gewesen]
und das hatte zu dem Schluß geführt, dass der Krieg verloren sei. Es waren
schwere Fehler gemacht worden und man betrachtete Hitler militärisch als
Belastung.“ (S. 54f.). Dennoch müssen nach Bekanntwerden des Attentats
Loyalitätsbekundungen und Bestürzung festgestellt werden (S. 56ff.). Die
Vorstellungen von militärischem Gehorsam und von Pflichterfüllung sowie das
Bewusstsein, mit einem Eid gebunden zu sein, erzwangen auch innerlich
Konformität und Kollaboration (S. 534). So wurden immer wieder auch Befehle, welche
die Generäle als unvernünftig und geradezu abwegig erkannten, befolgt (S. 535).
Ohne den außerordentlichen Einsatz der Militärführer wäre das Regime wohl früher
zusammengebrochen (S. 371f.). Unabhängig von ihrer Einstellung zu Hitler und
zum Nationalsozialismus hätten Soldaten und Offiziere verhindern wollen, dass
Deutschland den Krieg verlor und zumindest teilweise unter kommunistische
Herrschaft geriet (S. 428f.). Die Tagebucheintragungen von Offizieren sprechen
klar aus, dass die militärische Lage von vielen durchaus richtig erkannt wurde
(S. 106). Andere hielten jedoch an ihren nationalsozialistischen Anschauungen
fest und verharrten in einem unbedingten Glauben an Adolf Hitler (S. 113).
Ebenso wie bei den einfachen Soldaten weiß sich Kershaw auch hier vor
Verallgemeinerungen zu hüten. Noch im Frühjahr 1945 schien die Stimmung
zwischen Fatalismus und Zuversicht zu schwanken (S. 280ff.). Einige klammerten
sich an die Hoffnung auf Wunderwaffen, viele aber erwarteten das Zerbrechen der
alliierten Koalition und einen gemeinsamen Kampf gegen die kommunistische
Sowjetunion (S. 35f., 40).
Als weiteren wichtigen Grund für die Fortsetzung
des Krieges sieht Kerschaw die Besonderheit der nationalsozialistischen Herrschaftsstrukturen
in der unlösbaren Verbundenheit der Parteifunktionäre mit Hitler und seiner
Politik. Funktionäre der Partei hatten sich „längst unwiderruflich festgelegt.
… Nicht wenige hatten das Gefühl, daß ihnen infolge ihrer Handlungen in früheren
Jahren nichts anderes übrig blieb, als mit der Partei und mit Hitler
durchzuhalten oder unterzugehen.“ (S. 117). Die mangelhafte oder verhinderte
Evakuierung schon in Aachen (S. 101ff.) sowie in dramatischen Formen in
Ostpreußen (S. 164, 167ff., 256ff.), Schlesien (S. 263ff.) und Pommern (S. 266ff.),
während sich zugleich Parteigrößen mit Hab und Gut absetzten (S. 309ff., 440ff.),
hatte zu einem gravierenden Ansehensverlust der Partei geführt. Angesichts der
Verachtung für die Parteifunktionäre in Wehrmacht und Zivilbevölkerung (S. 282,
308ff.), die Brutalität und Erbärmlichkeit zugleich aufwiesen, wussten
jedenfalls die hohen und mittleren Funktionäre, dass sie nach der militärischen
Niederlage, die jedem rational denkenden Menschen klar vor Augen stand, keine
Zukunft hatten (S. 412, 449, 530). Nicht selten entlud sich dieser Druck in
ungezügelter Gewalt lokaler Machthaber: „Die Desperado-Aktionen vieler
Parteiaktivisten in den letzten Wochen zeigen, dass diejenigen, die ohne Regime
keine Zukunft hatten, nur zu bereit waren, ihre Feinde mit sich in den Abgrund
zu reißen, an alten Gegnern Rache zu üben, persönliche Rechnungen zu begleichen
und dafür zu sorgen, dass kein Regimegegner über dessen Untergang triumphieren
konnte.“ (S. 530). Ihre alten Gegner sollten ihren Untergang nicht erleben (S.
449, 451, 470f.). Eine Opposition der Partei gegen Hitler war auf dieser Basis
kaum wahrscheinlich.
Hinzu tritt ein weiterer Aspekt, dem Kerschaw
erhebliche Bedeutung beimisst. Die
Stabilität nationalsozialistischer Herrschaft sieht er vor allem in der
Struktur des Doppelstaats gegründet, der keine Institution in Staat oder Partei
kannte, in der ein konzentrierter Widerstand hätte formuliert und durchgesetzt
werden können (S. 33, 412). Hitlers Herrschaft war selbst „im Vergleich zu
anderen autoritären Herrschaftsformen … extrem personalisiert“ (S. 33) sowohl
„im militärischen ebenso wie im politischen Bereich“ (S. 247). Für die
Streitkräfte wurde zwischen dem Oberkommando der Wehrmacht und dem Oberkommando
des Heeres für die Ostfront unterschieden. In der Partei standen unter Hitler
vier Funktionäre, die wesentliche Bereiche für die Kriegsführung, Rüstung und
Repression kontrollierten. Deren Aufgabenbereiche waren nicht klar voneinander
abgegrenzt, so dass Reibungsflächen zwischen den Satrapen erhalten blieben (S.
137). Gegenseitiges Misstrauen und Uneinigkeit verhinderten ein gemeinsames
Vorgehen. Legitimation erhielt jedwede Herrschaft allein von Hitler (S. 539):
„Jenseits ihres eigenen Herrschaftsbereiches waren sie … eine zerstrittene
Gruppe, die nicht zu einem geeinten positiven Handeln in der Lage war, um dem
zunehmenden Sog der Selbstzerstörung zu entrinnen, und deren einzige Gewissheit
darin bestand, daß ihr eigenes Schicksal an das unvermeidliche Überleben des Regimes
gekettet war.“ (S. 238f.). Bis Ende April blieben die „Mechanismen der
Kontrolle und Repression … intakt. Es existierte keine organisatorische
Kapazität, die sie hätte infrage stellen können.“ (S. 188). In der Wehrmacht
leisteten Keitel und Jodl blinde Unterstützung (S. 247f., 295). Aber auch
diejenigen militärischen Führungspersönlichkeiten, die keine glühenden Anhänger
des Nationalsozialismus waren, wiesen in der hier untersuchten Zeit unbedingte
Loyalität und Pflichtgefühl auf (S. 283ff., 291, 376ff.). Sachliche Einwände
waren von Hitler dezidiert nicht erwünscht: „Wer kühn genug war, Ansichten zu
äußern, die, mochten sie auch noch so realistisch sein, nicht zu dem
vorgeschriebenen Optimismus passten, den Hitler verlangte, wurde abgelöst;“ (S.
53). Militärische Professionalität sollte durch den „Triumpf des Willens durch
blinden Gehorsam“ ersetzt werden (S. 293). Widerstand gegen die Fortsetzung des
irrationalen Kriegs und gegen schwere strategische Fehler war aus dieser
Gruppierung nicht zu erwarten (S. 248ff.): „Eine verhängnisvolle, bleibende
Folge des Bombenanschlags war die Beseitigung jeglicher Möglichkeit, dass die
Streitkräfte in den letzten Monaten des Dritten Reiches zu einem Träger des
Regimewandels wurden.“ (S. 79).
Weder aus der Partei, noch aus der Wehrmacht war
daher nach dem Juli 1944 ein Umsturz möglich. Die maßlosen Verbrechen Hitlers
waren nunmehr ein Garant für die Unterstützung seiner Trabanten: Sie hatten
ohne ihn keine Zukunft, waren durch ihre Beteiligung an Verbrechen aneinander
gekettet und hatten „gemeinsam die Brücken hinter sich abgebrochen“ (S. 33f.
Zitat; S. 138, 177f., 213, 237ff.). Himmler hatte im Herbst 1943 im Vorbedacht
führende Parteivertreter über den Massenmord an den Juden informiert und damit
die „Komplizenschaft ausgeweitet“. Sie befanden sich somit in auswegloser Lage.
Das Weiterkämpfen war für sie der einzige Ausweg oder vielmehr der zeitliche
Aufschub ihres eigenen Untergangs (S. 304ff.). Die führenden
Nationalsozialisten waren damit an die Alternative gebunden, die Hitler
postulierte: Sieg oder Tod, Durchhalten oder Untergang.
Hier kommt nun Hitlers Persönlichkeitsstruktur
ins Spiel. Hitler sah nicht nur für sich persönlich keine Zukunft im Fall einer
Kapitulation (S. 393). Zu seinen politischen Grundüberzeugungen gehörte es,
eine „feige“ Kapitulation wie 1918 in jedem Fall zu verhindern. So blieb ihm
nur der Selbstmord als Ausweg, der aufgeschoben werden konnte, solange der
Krieg andauerte. Daraus resultierte zwangsläufig die Fortsetzung des Krieges
unter allen Umständen. Zudem verhinderte Hitlers Wille zur Zerstörung eine
Kapitulation. Seiner Meinung nach hatte Deutschland versagt. Das deutsche Volk
verdiente den Untergang (S. 399). Der „Verbrannte Erde-Erlaß“ vom März 1945
ließ an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig: „Es ist nicht notwendig, auf die
Grundlagen, die das Volk zu seinem primitiven Weiterleben brauche, Rücksicht zu
nehmen. Im Gegenteil, es sei besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das
Volk habe sich als das schwächere erwiesen, und dann gehöre ausschließlich dem
stärkeren Ostvolk die Zukunft. Was nach dem Kampf übrig bleibe, seien ohnehin
die Minderwertigen, denn die Guten seien gefallen.“ (S. 404).
Hitlers charismatische Herrschaft verhinderte –
so Kershaw in Anlehnung an Wehler eine rationale Betrachtung und Lösung (S. 32,
241). Noch im Winter 1944/1945 vermochte Hitler bei den Menschen seiner
Umgebung Optimismus zu verbreiten (S. 346ff.). Hitler genoss offenbar eine
geradezu pseudoreligiöse Verehrung durch seine Anhänger, die ihn als
quasisakrale Erlöserfigur ansehen wollten. Hier liegt die Basis für Hitlers
Macht über andere Menschen. Vielleicht hätte dieser Aspekt noch stärker
herausgearbeitet werden können. Erst Hitlers Tod ermöglichte den militärischen
Führern der Realität ins Auge zu sehen, die Kapitulation in die Wege zu leiten
und möglichst viele Menschen vor der sowjetischen Gefangenschaft zu bewahren
(S. 484f., 493f., 500ff.).
Abschließend zieht Kerschaw folgendes Fazit:
„Die Strukturen nationalsozialistischer Herrschaft und die ihnen zugrunde
liegenden Einstellungen sind die wichtigsten Gründe für Deutschlands Fähigkeit
und Bereitschaft, bis zum absoluten Ende zu kämpfen. … Paradoxerweise war es
inzwischen eine charismatische Herrschaft ohne Charisma. Hitlers Fähigkeit, die
Massen zu begeistern, wirkte schon länger nicht mehr. Gleichwohl blieben
Strukturen und Mentalitäten von Hitlers charismatischer Herrschaft bis zu
seinem Tod im Bunker wirksam. So uneins wie die herrschenden Eliten waren,
besaßen sie weder den gemeinsamen Willen, noch verfügten sie über die
Mechanismen der Macht, um Hitler daran zu hindern, Deutschland ins Verderben zu
stürzen. Das war das Entscheidende.“ (S. 541).
Diese kurze Zusammenfassung des Inhalts muss
hier genügen, um die wesentlichen von Ian Kerschaw benannten Gründe für eine
Fortsetzung des Krieges bis zum 7./8. Mai 1945 vorzustellen. Ian Kershaw hat
auf breiter Quellenbasis ein detailreiches, höchst anregendes und sprachlich
elegantes Buch vorgelegt, das jedem Leser eine Fülle neuer Einsichten und
Anregungen zu weiterem Nachdenken schenken kann. Die Forschungsliteratur ist im
umfangreichen Anmerkungsverzeichnis dokumentiert (S. 549-666). In einer
brillanten Analyse hat Ian Kerschaw somit ein dunkles Kapitel deutscher
Geschichte nachvollziehbar und überzeugend erklärt und die Strukturen
offengelegt, die den Weg bis zum bitteren Ende verlangten.
Würzburg/München Steffen
Schlinker