Kershaw, Ian: Das Ende. Kampf bis in den Untergang, NS-Deutschland 1944/45. 2. Auflage. München, Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. 704 S.

 

Das zu besprechende Buch ist die zweite Auflage der deutschen Übersetzung einer im selben Jahr auf Englisch erschienenen Studie des anerkannten Hitler Biographen und Erforschers des nationalsozialistischen Systems. Er wirft in der Tat eine historisch bedeutsame und erstaunlich selten gestellte Frage auf: Warum kämpften die Deutschen weiter, als der Krieg schon längst nicht mehr zu gewinnen war, sondern alles je länger, je mehr auf eine Zerstörung noch nie gekannten Ausmaßes hinauslief? Warum hat das nationalsozialistische Reich bis fast zum letzten Tag in all seinen Facetten funktioniert? Kershaw ist wie wohl fast alle, die sich mit dieser Zeit befassen, von den großen Widersprüchen fasziniert: Da ist zum einen, dass die Versorgung der Bevölkerung weiterhin funktionierte, die Deutschen fast normal ihrer Arbeit und dem Vergnügen nachgingen, während die Feinde in Ost und West unaufhaltsam vorrückten; da ist zum anderen das Faktum, dass es nach dem Juli 1944 nicht einmal einen Versuch gab, den zerstörerischen Irrsinn Hitlers und seiner Helfer einzudämmen. Schon zu Beginn wird klar gemacht, dass die Apologien der unmittelbaren Nachkriegszeit, dass dafür die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation (so vor allem die Militärs) und der Terror des Regimes (so die Bevölkerung) nicht ausreichen. Und der Standardverweis auf Hitler erkläre noch nicht, warum seine Macht bis zum bitteren Ende ungebrochen gewesen sei. Das sei vielmehr deswegen besonders erstaunlich, weil eine Säule seiner „charismatischen Herrschaft“, nämlich der plebiszitäre Rückhalt spätestens seit Stalingrad bröckelte.

 

Kershaw irritiert, dass in den letzten zehn Monaten vom gescheiterten Hitler-Attentat im Juli 1944 bis zur Kapitulation im Mai 1945 2,6 Millionen deutsche Soldaten fallen, mehr als in den vier Jahren zuvor, und dennoch Soldaten, Offiziere und vor allem Generäle anstandslos weiter kämpften. Bei Bombenangriffen werden 400.000 Menschen getötet, doppelt so viele verletzt, Millionen obdachlos, KZ-Insassen in Todesmärschen quer durch das Land gehetzt und bei der Flucht aus dem Osten gehen Tausende jämmerlich zugrunde, dennoch bleibt die Bevölkerung ruhig, Verwaltung, Gerichte und Terrorapparat arbeiten wie eh und je. Je länger der Krieg dauerte, je mehr richtete er sich gegen das eigene Volk und nicht mehr gegen den Feind. Und dennoch nicht einmal der Ansatz von Widerstand und nur spärlich Verweigerung.

 

Kershaw will den Fragen, die diese, wie er meint, besondere Form der deutschen Selbstzerstörung aufwirft, nachgehen, indem er die letzten Monate des Dritten Reichs eingehend nacherzählt. Es liegt aber ein Widerspruch, der das ganze Buch durchzieht, darin, dass er sich dabei auf die Strukturen der von ihm als „charismatisch“ verstandenen Herrschaft“ Hitlers und auf Mentalität der deutschen Mehrheitsbevölkerung konzentrieren will. Strukturen und Mentalitäten bekommt man mit einem erzählenden Ansatz aber nicht angemessen in den Griff.

 

Seine Antwort, die eher durch die Erzählung durchscheint, als dass sie stringent herausgearbeitet würde, lautet: Eine nur militärisch denkende Armee kämpfte, solange es ihr befohlen wurde, und war motiviert von dem Ziel, die Heimat zu verteidigen, vor allem vor dem Bolschewismus; die Verwaltung arbeitete weiter, weil es nötig war und ihre Beamte darin fraglos ihre Pflicht sahen. Die Bevölkerung zwischen Bombenangriffen und der Angst vor dem nationalsozialistischen Terror eingezwängt, war vor allem damit beschäftigt, das Überleben in den nächsten Tagen zu organisieren. Nach der Neustrukturierung der Führung der Armee und der verstärkten Mobilisierung der Partei und deren Führer nach dem Attentat auf Hitler habe es auch keine Ansatzpunkte mehr für Widerstand oder einen politischen Kurswechsel gegeben. Wenn auch das Ansehen des Führers im Volk zurückgegangen sei, so habe Hitlers Charisma, der erbarmungslos lieber das Volk opferte als zu kapitulieren, noch in Teilen gewirkt und habe er in Militär und Partei und vor allem der SS noch genügend willfährige Helfer gehabt. Das vor allem sind die Strukturen und Mentalitäten, die Kershaw für diese, wie er unterstreicht, wohl einzigartige Selbstzerstörung eines Volkes verantwortlich macht.

 

Der englische Historiker verarbeitet die internationale Forschung, zieht in anerkennenswertem Umfang Archivalien heran, kann aus diesen und Tagebüchern manche beeindruckende Sichtweise zutage fördern und dennoch überzeugt dieses Buch nicht ganz. Das hat 3 Gründe.

 

1. Fasst man die Ergebnisse zusammen, ergibt sich ein Bild vom letzten Jahr des Hitler-Reichs, das im Kern so gut wie keine neuen Einsichten vermittelt. Das findet sich so mehr oder weniger auch in anderen Gesamtdarstellungen. Dafür bleiben Themen, die für diesen Zeitraum noch zu wenig gewürdigt wurden, ausgeblendet: die vermehrte Macht der Gauleiter als Reichsverteidigungskommissare, der Machtzuwachs von SS und Gestapo, die effektivierte Rüstungsproduktion und die stets zureichende Versorgung der Bevölkerung. Der Verfasser übersieht, dass die Forschung schon seit längerem betont, dass es in den letzten Monaten sehr wohl eine Alternative zur Politik des Regimes gegeben hat: das Unterlaufen des Befehls der verbrannten Erde durch Wirtschaftsführer und Militärs, die schon für die Zeit nach Hitler planten. In der gesamten Darstellung wird zu wenig deutlich, was es bedeutete, dass der jeden Tag näher rückende Krieg die Bevölkerung total im Griff hatte, ihr Denken und Handeln bestimmte. Die „Mentalität“, obwohl als eigener Gegenstand proklamiert, bleibt deutlich unterbelichtet.

 

2. In jedem Kapitel wird vermutlich vor allem im Blick auf das bereite Publikum ein großes Panorama entworfen. Dieses präsentiert viel zu viel, was schon zu oft wiederholt wurde: die militärische Lage in Ost und West, Nemmersdorf, die Ardennenoffensive, die Regierung Dönitz u. ä. So wird nochmals deutlicher, wie konventionell der Autor seinen Gegenstand behandelt und in welchem Ausmaß er gängigen Sichtweisen verhaftet bleibt.

 

3. Im narrativen Ansatz liegt letztlich die entscheidende Schwäche. Der Autor verliert sich in Beschreibungen der Ereignisse, die kaum weiter vertieft werden. Das ist zu viel Ereignisgeschichte und zu wenig systematisches Vorgehen. Die jeweilige Untersuchung der Fragen, warum funktionierten Paladine, Militärs, Bürokratie, Unterdrückungsapparat und die verschiedenen Schichten der Bevölkerung hätte wahrscheinlich tiefere Einsichten vermittelt als das chronologische Erzählen. Die Strukturen, die jeweils wirkten, und die Mentalitäten, die jeweils herrschten, waren nämlich stets andere. Diese kommen aber kaum in den Blick, wenn man Monat für Monat ein Gesamttableau entwirft. Bezeichnend, dass sich im gesamten Buch keine Reflexion darüber findet, nach was gefragt wird, wenn man Strukturen und Mentalitäten herausarbeiten will, welche Methoden anzuwenden sind und welche Quellen sich dafür am besten eignen.

 

Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt                             Karsten Ruppert