Kanwischer, Simon, Der Grenzbereich zwischen öffentlichem Strafanspruch und intimer Lebensgestaltung. Verschiebungen in der historischen Entwicklung - aufgezeigt am Beispiel der Strafbarkeit des Inzests (§ 173 StGB) (= Beiträge zu Grundfragen des Rechts 12). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013. 194 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Entsprechend dem Untertitel des Werkes, einer an der Universität Hannover unter Henning Radtke entstandenen Dissertation, befasst sich Kanwischer mit der Geschichte der Normen zur Strafbarkeit des Inzests. Nach den „ersten komplexen strafrechtlichen Normensystemen“ in Deutschland (S. 18ff.; u. a. Carolina, Codex Juris Bavarici criminalis) geht Kanwischer auf den ideengeschichtlichen Hintergrund der strafrechtlichen Begrenzungsmodelle der Aufklärung (Trennung von Recht und Moral) ein. Nach dem StGB-Entwurf Feuerbachs von 1810 sollte lediglich der Missbrauch von Abkömmlingen und anderen „Schutzbefohlenen“ zur Unzucht strafbar sein (S. 35f.). Demgegenüber setzten die Konservativen in der Strafrechtskommission gegen den Willen Feuerbachs einen „von Pflichtverhältnissen losgelösten ‚klassischen’ Inzesttatbestand“ in Art. 207 des Strafgesetzbuchs von 1813 durch. Der nächste Abschnitt befasst sich mit dem „strafbewehrten Sexualverhalten“ in den Kodifikationen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts. Der Code pénal von 1791/1810 enthielt keine Vorschriften über die Strafbarkeit des Inzests, worauf Kanwischer noch detaillierter hätte eingehen sollen (vgl. S. 36f.). Obwohl der nicht in Kraft getretene Code pénal des Königreichs Westphalen von 1813 dem französischen Vorbild weitgehend folgte, wies er im Gegensatz zum französischen Recht eine Norm über die Strafbarkeit des Inzests in direkter Linie auf (Art. 329: „L’inceste commis entre les parents ou alliés en ligne directe sera puni de la peine de réclusion à temps“; W. Schubert [Hrsg.], Der Code pénal des Königreichs Westphalen von 1813, Frankfurt am Main 2001, S. 85). Nach dem preußischen Allgemeinen Landrecht waren der Inzest („Blutschande“ nicht ausdrücklich auf den Beischlaf beschränkt) in gerader Linie und zwischen Geschwistern, nicht jedoch zwischen Verschwägerten strafbar (S. 44f.). Ausführlich behandelt Kanwischer die „Gesetzrevision“, in deren Rahmen insbesondere die Rheinländer für den Wegfall der Strafbarkeit des Inzests eintraten. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang die Diskussionen im Vereinigten Ständeausschuss (1847/1848), der Streichungs- und Milderungsanträge zum Inzesttatbestand mit einer Mehrheit von 14 Stimmen ablehnte (S. 61). Der wohl von dem aus dem Rheinland kommenden Ministerialbeamten Bischoff stammende StGB-Entwurf von 1848/1849 sah eine Bestrafung der Blutschande als solcher nicht mehr vor (S. 70); gleichwohl sanktionierte das preußische Strafgesetzbuch von 1851 die „Blutschande“ in vollem Umfang, und zwar auch unter Einbeziehung der Schwiegerverhältnisse und Stiefverhältnisse (seit dem Entwurf von 1828).

 

Das Strafgesetzbuch von 1870/1871 reproduzierte in § 173, jedoch ausdrücklich beschränkt auf den „Beischlaf“ unter Abmilderung des Strafrahmens, die Regelung des preußischen Strafgesetzbuchs (S. 95ff.). Breit befasst sich Kanwischer mit der Strafrechtsreformzeit zwischen 1909 und 1919 (S. 101ff.) unter Berücksichtigung des Rechtsgutsbegriffs (für Wegfall der Strafbarkeit des Inzests Wolfgang Mittermaier, Kurt Hiller und Max Marcuse) und mit den Einflüssen der Kriminalanthropologie und der „Sozialhygiene“ hinsichtlich der Strafbarkeit des Inzests. Als Höhepunkt der „Liberalisierungskampagne im Sexualstrafrecht“ bezeichnet Kanwischer die Strafrechtsreform zwischen 1925 und 1931 – hinzu kommt noch der StGB-Entwurf Radbruchs aus dem Jahre 1922, der jedoch keine wesentlichen Änderungen enthielt – und in diesem Zusammenhang die Beratungen des Strafrechtausschusses des Reichstags im Oktober 1929, in dem Abgeordnete der KPD die Abschaffung des § 173 StGB (Entwurf § 290) und SPD-Abgeordnete die Straflosigkeit des Geschwisterinzests (der „Inzest“ unter Verschwägerten hatte bereits der Reichsrat beseitigt; vgl. W. Schubert/J. Regge, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, I 2, 1998, S. 228) forderten; beide Anträge wurden abgelehnt; derjenige der SPD-Abgeordneten mit 14 gegen 10 Stimmen. Die Gründe, aus denen Kanwischer die NS-Zeit nur knapp behandelt (S. 126ff.) – die Sittlichkeitsdelikte müssten „Gegenstand einer eigenen Arbeit sein“ (S. 126) – überzeugt nicht, zumal der StGB-Entwurf von 1936 keine Verschärfungen des Inzesttatbestandes brachte, sondern vielmehr die Strafbarkeit des Verschwägertenbeischlafs gestrichen hatte und die Straflosigkeit auf unter 18jährige Geschwister ausgedehnt werden sollte (S. 128). Nach 1945 wurde die Regelung einer Verordnung vom 23. 4. 1938, wonach der Beischlaf zwischen Verschwägerten nicht mehr bestraft werden sollte, wenn die Ehe, auf der die Schwägerschaft beruhte, zum Tatzeitpunkt erloschen war, beibehalten (S. 129f.).

 

Nach den Beschlüssen der Großen Strafrechtskommission (1954-1959) sollte der Straftatbestand des § 173 StGB beibehalten werden und die Strafbarkeit des Inzests auf minderjährige Geschwister ausgedehnt werden (S. 131ff.), ein Vorschlag, dem das Bundesministerium der Justiz nicht folgte. Der StGB-Entwurf von 1962 war Gegenstand einer umfassenden Kritik und führte zum Alternativentwurf von 1968, der hinsichtlich des Inzestverbots für eine vollständige Streichung des § 173 eintrat (S. 144f.). Die Strafrechtsreformgesetze von 1973 und 1974 führten dazu, dass der Verschwägerteninzest endgültig gestrichen wurde (S. 147ff.). In diesem Zusammenhang wäre vielleicht auch die Heranziehung der Protokolle des Sonderausschusses des Bundestags für die Strafrechtsreform aufschlussreich gewesen. Nach einem Abschnitt über neuere Tendenzen in der Rechtsgutslehre (S. 150ff.) setzt sich Kanwischer ausführlich mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 23. 2. 2008 auseinander, nach dem § 173 Abs. 2 StGB (insbesondere Strafbarkeit des Inzests unter Geschwistern) als nicht verfassungswidrig anzusehen ist, den Kanwischer jedoch für nicht überzeugend hält. Im Rahmen des Schlussteils schlägt Kanwischer vor, die Inzestregelung auf die innerfamiliär geschaffenen bzw. fortbestehenden Abhängigkeitsverhältnisse zu beschränken (S. 179).

 

Mit dem Werk Kanwischers liegt eine Geschichte der Strafbarkeit des Inzests vor, die in einigen Teilen hätte noch ausführlicher sein können. Der Vorschlag zu § 173 StGB de lege ferenda überzeugt, da er nicht für eine vollständige Abschaffung des Inzeststraftatbestandes eintritt. Insgesamt stellt die Arbeit Kanwischers einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Sexualstrafrechts bzw. des Strafrechts zum Schutz von Ehe und Familie dar, der besonders hinsichtlich der preußischen Gesetzrevision und der Weimarer Strafrechtsreform Beachtung verdient.

 

Kiel

Werner Schubert