Kämpf, Tobias, Das Revaler Ratsurteilsbuch. Grundsätze und Regeln des Prozessverfahrens in der frühneuzeitlichen Hansestadt, 2013, Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Berlin, 253 S., 2 Abb. Besprochen von Reinhard Schartl.

 

Die von Albrecht Cordes betreute Frankfurter Dissertation wertet die 1952 von Wilhelm Ebel vorgelegte Edition des Revaler Ratsurteilsbuchs aus, das für den Zeitraum von 1515 bis 1554 mehr als 1.100 Einträge aufweist. Kämpf beschreibt in seiner in vier Teile gegliederten Arbeit nach einer Einleitung im zweiten Teil die livländische Hansestadt Reval, die 1248 mit dem lübischen Recht bewidmet wurde und im 15. Jahrhundert zum Knotenpunkt des Ostseehandels aufstieg. Nachdem der Verfasser kurz die Oberstadt, in welcher der livländische Ordensmeister als Vertreter des Landesherrn und der Bischof residierten, gestreift hat, wendet er sich ausführlicher der Unterstadt zu. In ihrer Einwohnerschaft, seinerzeit rund 5.000 Menschen, bildeten die Kaufleute eine Oberschicht, der durchgehend Deutsche angehörten und deren offizielle Sprache das Niederdeutsche war. Die Revaler Gerichtsverfassung weist ein vom Vogt geleitetes Niedergericht und den Rat als oberstes Organ der Stadt auf, dem einer von insgesamt vier Bürgermeistern vorstand. Der Rechtszug in Reval ging vom Niedergericht als erster Instanz durch Schelte an den Rat als zweite Instanz, von wo, wie Kämpf nachweist, nur bei rechtzeitiger Schelte nach Lübeck appelliert werden konnte. Eingehend beschreibt die Arbeit sodann die Oberhoftätigkeit des Rates für die livländischen Städte Narva und Wesenberg. Im dritten und umfangreichsten Teil befasst sich die Untersuchung mit dem Rechtsgang vor dem Revaler Rat. Bei den Verfahrensbeteiligten findet der Autor nicht mehr den mittelalterlichen Vorsprecher (Vorspraken). Für Minderjährige und Witwen traten deren Vormünder auf. Hier stellt der Verfasser fest, dass sie im Urteilsbuch, teilweise neben dem Mündel, als Parteien bezeichnet und auch selbst zur Zahlung verurteilt wurden. Er bewertet dies zutreffend als eine Unsicherheit des Rates, die den Vormund nach heutigem Prozessrecht als Partei kraft Amtes, teilweise aber auch als Stellvertreter des Mündels erscheinen lässt. Eine gleichartige Problematik sieht der Verfasser, wenn sonstige Bevollmächtigte im Namen eines anderen klagten oder offen ein fremdes Recht geltend machten. Sie werden im Urteilsbuch ebenfalls wie Parteien angesprochen, jedoch nicht selbst verurteilt. Bei der rechtlichen Einordnung darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass im 16. Jahrhundert noch nicht klar zwischen dem materiellen Anspruch und dem prozessualen Behelf der Klage unterschieden wurde. Die Verfahren begannen oftmals und ab 1540 regelmäßig mit der Verweisung der Parteien zu einem Güteversuch oder Schlichtungsversuch, was der Rat mit dem bemerkenswerten Satz begründete: darmede des rechten nicht vonnoden, wente eß scheidet wol, freundet aber selden. Kam es zu keiner Einigung, hatte der Beklagte auf die mündliche oder schriftlich eingereichte und vor dem Rat verlesene Klage zu antworten. Bei der Antwort des Beklagten findet Kämpf sowohl das auf den Klageanspruch als Ganzes wie das auf einzelne Tatsachen bezogene Anerkenntnis. Eine vom weitverbreiteten deutschen Prozessrecht unterschiedliche Praxis stellt der Autor bei mehrmaliger Säumnis des Beklagten fest: der Kläger konnte den Beklagten zwar vom Vogt vorführen lassen, sachfällig wurde der Beklagte durch sein Ausbleiben jedoch nicht. Das Revaler Urteilsbuch belegt das Institut der Bejahwortung (Bejawortung), wobei die Parteien auf Verlangen des Gegners erklärten, dass ihr Klagevortrag beziehungsweise ihr Antwortvortrag endgültig sei, sie somit mit diesem Vortrag zu gewinnen oder zu verlieren gedachten. Grundsätzlich war damit eine nachträgliche Verbesserung des Vortrags ausgeschlossen, allerdings milderte der Revaler Rat nach Kämpfs Feststellung diese strenge Regel gelegentlich ab. Während nach lübischem Recht die vollkommene Klage erforderte, dass der Kläger Zeugen oder Eideshand anbot, beschränkte sich die Revaler Praxis, wie der Verfasser ermittelt, auf die doch andersartige Voraussetzung einer Bejahwortung (Bejawortung). Sodann geht die Arbeit auf die Prozessbürgschaften ein, die einerseits das Einverständnis der häufig auswärtigen Parteien mit der Anwendung des lübischen Rechts, andererseits das Erscheinen der Parteien vor dem Rat sichern und schließlich verhindern sollten, dass die unterlegene Partei den Rechtsstreit nochmals vor einem anderen Gericht führte. Überzeugend ist auch die Analyse des Autors, dass es auf Beklagtenseite für die Erfüllung des Urteils einer gesonderten Bürgschaft bedurfte. Daneben beschreibt die Arbeit weitere prozessuale Bürgschaften wie diejenige zur Ablösung eines Arrests (besate). Die Konzeption des Revaler Rates zur Zuteilung des Parteieides erscheint nicht völlig widerspruchsfrei. Wie Kämpf dem Urteilsbuch entnimmt, konnte der Kläger durch eigenes Anerbieten eines Eides für seine Klage dem Beklagten den Eid zuschieben (Eideshand muss Eideshand lösen), wobei die Eidespflicht als prozessualer Nachteil erscheint, andererseits erhielt der Beklagte den Vorzug, durch seinen Eid den Prozess zu entscheiden. Möglicherweise brauchte der Beklagte nach Revaler Recht wie in Lübeck auf die Klage nicht zu antworten, wenn der Kläger nicht selbst seinen Eid anbot. Zu Recht bezweifelt der Autor, dass mit dem im Urteilsbuch genannten gehorden tuchnis Eideshelfer gemeint waren, eher dürfte es sich um Zeugen des Klägers zur Verlegung des Unschuldseides gehandelt haben. Ab 1538 findet er keinen streitentscheidenden Parteieid mehr. Beim Urkundenbeweis war gegen Stadtbücher kein Gegenbeweis möglich, ob aber – wie Kämpf resümiert – andere Urkunden „widerlegt“ werden konnten, erscheint zweifelhaft, da private Urkunden unmittelbar nur die Abgabe der in ihnen enthaltenen Erklärungen, nicht aber die Richtigkeit des erklärten Inhalts beweisen. Handelsbücher hatten keine Beweiskraft, wenn sie nachträglich verändert worden waren. Mitgläubiger konnten nicht Zeugen sein, dagegen lässt sich auch im Zivilprozess das peinliche Verhör des Gegners oder von Zeugen als subsidiäre Beweisführung nachweisen. Die mittelalterliche einseitige Beweisführung erkennt der Autor durch die zunehmende Zulassung eines Gegenbeweises als überwunden, was mit seinem Befund korrespondiert, dass im Urteilsbuch die Zahl der Endurteile mit Beweiswürdigung gegenüber den Beweisurteilen zunimmt. Soweit es um die Beweiszuteilung ging, sieht die Arbeit den Grundsatz, dass jede Partei die für sie günstigen Tatsachen zu beweisen hatte. Für die Urteile (Absprüche) des Rates stellt Kämpf keinen einheitlichen Aufbau fest. Anordnung und Ausführlichkeit beruhten offenbar auf dem Gutdünken des Rates. Nach den Feststellungen des Autors waren wie in Lübeck nicht nur Sachurteile bzw. Endurteile, sondern auch Verfahrensurteile scheltbar, jedoch ließ der Rat bei offensichtlich eindeutiger Sachlage oder Rechtslage die Schelte nicht zu. Kämpf setzt sich schließlich eingehend mit der Auffassung Jürgen Weitzels auseinander, im lübischen Recht sei das Urteil des Rats nicht notwendigerweise mit seinem Ausspruch bereits verbindliches Gebot, sondern werde dazu erst durch den freiwilligen oder durch Unscheltbarkeit erzwungenen Konsens der Parteien oder durch die den Rechtszug nach Lübeck abschließende Transformation des Oberhofspruchs durch den Rat der Tochterstadt. Die Notwendigkeit der Transformation unterscheide den Rechtszug nach Lübeck im Sinne einer deutsch-rechtlichen Schelte von der römisch-kanonischen Appellation mit einer abschließenden Berufungsentscheidung. Kämpf kommt dagegen mit guter Begründung zu dem Ergebnis, dass der Revaler Abspruch schon mit seiner Verkündung Gebotswirkung hatte, die auch im Falle der Schelte nach Lübeck bei einer Bestätigung durch den Oberhof bestehen blieb und nur bei einer Abänderung möglicherweise durch den Oberhofspruch ersetzt wurde. Das Lübecker Urteil wurde in Reval lediglich verlesen, während es keine neue Ratsentscheidung gab. Darin sieht der Verfasser zutreffend eine größere Nähe zur römisch-kanonischen Appellation. Insgesamt leistet die sehr sorgfältige Untersuchung einen wertvollen Beitrag zur weiteren Erforschung des Lübecker Rechtskreises im 16. Jahrhundert. Der Wert der Arbeit wird schließlich durch Hinweise auf das materielle Recht Revals erhöht: Testamente waren formell ungültig, wenn sie nur auf einem ungesiegelten Blatt Papier, nicht in Gegenwart zweier Ratsherren errichtet und nicht dem Rat zu Lebzeiten übergeben worden waren, materiell fehlte die Gültigkeit, wenn ohne Zustimmung der Erben über Familiengrundbesitz verfügt wurde. Bei unversiegeltem Testament musste der Nachlass Jahr und Tag unverändert bleiben, was den Ausschluss von Erbansprüchen nach dieser Frist belegt. Dass Verträge einzuhalten waren, formulierte der Rat mit dem Sprichwort wes vordragen is, moeth vordragen bliven. Beim Konditionenkauf galt die Bedingung als eingetreten, wenn ihr Eintritt von einer Partei grundlos verhindert wurde. Der Regress des Bürgen gegen den Hauptschuldner beruhte auf einem Versprechen zur Schadloshaltung. Die Bürgschaftsverpflichtung ging – offenbar auch ohne die Formel „für mich und meine Erben“ – auf die Erben des Bürgen über. Ein Gesellschafter haftete für die von einem Mitgesellschafter eingegangenen Verbindlichkeiten. Wünschenswert bleibt eine Analyse des Ratsurteilsbuchs hinsichtlich aller Bereiche des materiellen Rechts.

 

Bad Nauheim                                      Reinhard Schartl