Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften, hg. v. Renz, Werner (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts Band 20). Campus, Frankfurt am Main 2012. 332 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Es gehört zu jenen Eigentümlichkeiten, für die sich nicht wirklich eine griffige Erklärung finden lässt, dass der seinerzeit weltweit Aufsehen erregende Jerusalemer Prozess von 1961 gegen den Organisator der nationalsozialistischen Judenvernichtung, den in seinem südamerikanischen Versteck vom israelischen Geheimdienst aufgespürten, ergriffenen und in einer spektakulären Aktion zwecks Aburteilung nach Israel verbrachten, ehemaligen SS-Obersturmbannführer und Judenreferenten im Berliner Reichssicherheitshauptamt (RSHA), Adolf Eichmann, bis heute nicht in wissenschaftlich befriedigender Weise monografisch behandelt worden ist. Einen Eindruck davon, welche Gesichtspunkte in eine derartige Darstellung einfließen könnten und sollten, gibt der vorliegende Sammelband, in dem der Germanist und Philosoph Werner Renz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main, die anlässlich einer Tagung des Instituts zum 50. Jahrestag des Eichmann-Prozesses im April 2011 eingebrachten Studien weiterer dreier männlicher und acht weiblicher Autoren unterschiedlicher Fachgebiete der breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Renz hat neben seinem Vorwort, in dem er das Wesentliche der jeweiligen Beiträge in wenigen treffenden Sätzen zusammenfasst, zu diesem Band auch eine kurze einführende Darstellung des justiziellen Umgangs mit NS-Tätern in der Bundesrepublik Deutschland schwergewichtsmäßig der fünfziger und sechziger Jahre und des den Eichmann-Prozess charakterisierenden Kontextes beigesteuert, wodurch auch der sperrig anmutende Titel „Interessen um Eichmann“ seine erste verständliche Definition erfährt: Imagefragen und diplomatisches Kalkül prägten nicht unwesentlich Rahmen und Inhalt des Verfahrens. Die im Untertitel eingeführte Begriffstrias legt eine Sortierung der Beiträge nach den drei genannten Gesichtspunkten nahe.

 

Primär auf die israelische Justiz fokussieren die Beiträge der Rechtswissenschaftlerin Leora Bilsky und der Geschichtsforscherinnen Hanna Yablonka und Lisa Hauff. Bilsky hinterfragt die Legitimation des Eichmann-Prozesses zwischen nationalem und internationalem Recht und deutet ihn als Musterfall der Anwendung des Universalprinzips, Yablonka arbeitet im Vergleich dessen Unterschiede zum Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher heraus, die sie vor allem an der nur in Jerusalem erfolgten, eindeutigen Konzentration auf den Gesamtkomplex der Shoah festmacht. Hauff porträtiert Werdegang und Leistung der drei allesamt in Deutschland geborenen israelischen Juristen Moshe Landau (1912 – 2011), Benjamin Halevi (= Ernst Levi, 1910 – 1996) und Yitzhak Raveh (= Franz Reuss, 1906 – 1989), die dem schwierigen Verfahren als Richter vorstanden.

 

Zu jenen Autoren, die sich mit den für Deutschland maßgeblichen Implikationen des Prozesses beschäftigen, zählen die Historiker Ruth Bettina Birn, Annette Weinke und Jürgen Matthäus. Birn bestätigt die von dem seinerzeit als Beobachter nach Jerusalem entsandten, deutschen Staatsanwalt Dietrich Zeug ventilierte Kritik an der Anklage und widerspricht überzeugend der These, der Eichmann-Prozess habe den entscheidenden Anstoß zur strafrechtlichen Verfolgung von NS-Tätern in der Bundesrepublik geliefert; auch sei „der Beitrag des Verfahrens zum historischen Wissen über die Judenvernichtung […] fraglich“ (S. 116). In letztere Kerbe schlägt auch Matthäus, denn für die Holocaust-Forschung bedeute der Prozess mit seiner einseitig intentionalistischen Positionierung, der Betonung eines zentral gesteuerten Vernichtungsgeschehens, keinen Fortschritt, zumal in der Fachwelt längst funktionalistische Betrachtungsweisen bekannt gewesen seien. Im Zentrum der Bestrebungen des Auswärtigen Amtes im diplomatischen Handling des anstehenden Verfahrens in Israel stand wiederum, wie Weinke ausführlich darlegt, in erster Linie das Bestreben, jegliche mögliche Gefahr für den Ruf des westlichen deutschen Staates abzuwenden.

 

Die „alten Kameradschaften“ kommen vorzugsweise im Aufsatz des studierten Sprach- und Literaturwissenschaftlers und Journalisten Willi Winkler zur Sprache: Er stellt sowohl die vielfältigen Maßnahmen der deutschen Politik dar, den Namen des belasteten Staatssekretärs Adenauers, Hans Globke, unter allen Umständen aus dem Prozessgeschehen herauszuhalten, als auch zwielichtige Versuche im Dunstkreis um Eichmanns Verteidiger Robert Servatius unter Mitwirkung namhafter Nationalsozialisten und diverser Geheimdienste, die Äußerungen des Angeklagten finanziell auszuschlachten: „Im Hintergrund ereignete sich […] mehr, als sich Diplomaten-Weisheit träumen lässt. Adolf Eichmann war ein großes Geschäft, der BND war daran beteiligt, und das Kanzleramt […] wusste davon“ (S. 303). Zwei Beiträge korrigieren das lange weithin verbreitete, durch Hannah Arendts geflügeltes Diktum von der „Banalität des Bösen“ geprägte Eichmann-Bild eines durchschnittlichen, reibungslos „funktionierenden“ Befehlsempfängers ohne eigene Ambitionen erheblich: Fabien Théofilakis entlarvt an Hand von Eichmanns Prozessaufzeichnungen, der sogenannten Israel-Papiere, den Angeklagten als überzeugten nationalsozialistischen Weltanschauungstäter und geschickten Manipulator, ein Befund, den Bettina Stangneths philosophische Analyse seiner im südamerikanischen Exil entstandenen Handschriften und Gesprächsprotokolle zu hundert Prozent bestätigt: „Dieser Mann hat nicht gemordet, weil er zu wenig gedacht hätte. […] Adolf Eichmann wurde zum Mörder, weil er zutiefst von der Richtigkeit der vollständigen Ausrottung all derer überzeugt war, in denen er Feinde zu erkennen glaubte – allen voran der Juden. […] Eichmann handelte nicht gegen die Einsicht, sondern aus der Selbstbestimmung zum Vollstrecker genau der Konsequenz, die aus dem Denken folgt, das er im Rahmen des Sicherheitsdienstes der SS mitentwickelt und vorangetrieben hatte. […] Er handelte in Übereinstimmung mit sich selbst“ (S. 198). Hierzu ist anzumerken, dass sich dieses Bild nahtlos in die Ergebnisse der neueren Täterforschung einfügt, die auf unterschiedlichen Ebenen des nationalsozialistischen Herrschaftsapparates jeweils ein mit dem zunehmenden Grad der NS-Ideologisierung einhergehendes, signifikantes Ansteigen der Bereitschaft eines Täters zum Verbrechen, meist in Verbindung mit einem offenkundig fehlenden Unrechtsbewusstsein in Bezug auf die begangenen Taten, nachweisen konnte. Diese ideologisch motivierten Überzeugungstäter verwirklichten nicht selten mit außergewöhnlichem Eifer und mit Hingabe, was sie für das Richtige und Notwendige hielten, weshalb sie, im Nachhinein mit ihren Untaten konfrontiert, in der Masse mit Unverständnis reagierten oder gar sich selbst in einer Opferrolle sahen. Mit zwei namhaften Schriften um Eichmann und um die Deutung des Holocaust setzen sich zu guter Letzt zwei weitere Forscherinnen auseinander: Die Soziologin und Hannah Arendt-Expertin Ursula Ludz mit deren klassischer Studie „Eichmann in Jerusalem“, sowie die Kulturwissenschaftlerin Ann-Kathrin Pollmann mit jenem offenen Brief, den der Philosoph und Ex-Ehemann Hannah Arendts, Günther Anders, kurz nach Eichmanns Hinrichtung unter dem Titel „Wir Eichmannsöhne“ verfasst und später an dessen Sohn Klaus übermittelt und veröffentlicht hat.

 

Das multiperspektivisch und interdisziplinär angelegte Sammelwerk ermöglicht in seiner Vielfalt ein komplexes Verständnis des Eichmann-Prozesses in seiner Zeit. Interessant ist mithin, dass das symbolträchtige Jerusalemer Verfahren offenbar keine wirklich prägenden und in die Zukunft fortwirkenden juristischen Akzente setzen konnte und vielleicht auch gar nicht wollte. Seine rechtshistorischen Besonderheiten beschränken sich, abgesehen von der singulären Stellung des Angeklagten im Kontext des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungssystems und der Dimension des ihm vorgeworfenen Verbrechens, im Wesentlichen auf die Persönlichkeiten der involvierten Juristen sowie auf die normativen Grundlagen des Prozessgeschehens, das israelische „Gesetz zur Bestrafung von Nazis und ihren Helfern“ aus dem Jahr 1950, das - zwar ex post facto geschaffen - dennoch nicht als Verletzung des Rückwirkungsverbotes galt, da die darunter „zu subsumierenden Taten […] auch nach dem zur Tatzeit am Tatort geltenden Recht als Mord zu qualifizieren (waren)“ (S. 27), die „Lex Servatius“ von 1960, die die Verteidigung Eichmanns durch Robert Servatius, einen Rechtsvertreter, der keine israelische Staatsbürgerschaft besaß, erst möglich machte, und das „Gerichtsgesetz – Verbrechen, die Todesstrafen zur Folge haben“ aus 1961, das dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs die Bestimmung des Vorsitzenden Richters vorbehielt und darüber hinaus Nebenklagen ausschloss. Unerlässlich zum Verständnis der Eigenarten des Verfahrens ist auch die genaue Erforschung der politischen Rücksichten, die das bilaterale deutsch-israelische Verhältnis jener Zeit prägten und die sich beispielsweise ganz konkret in der sorgfältigen Selektion der gehörten Zeugen niederschlugen. Und nicht zuletzt ist die initiative Rolle, die der damalige Generalstaatsanwalt des Landes Hessen und Namensgeber des die hier besprochene Publikation besorgenden Instituts, Fritz Bauer, in der Causa Eichmann spielte, zu würdigen: „Er war es, der israelischen Behörden die entscheidenden Hinweise auf Eichmanns Aufenthaltsort in Argentinien gab und damit dessen Ergreifung ermöglichte (ohne deutsche Justizstellen oder Nachrichtendienste zu informieren)“ (S. 220), denn, wie es an anderer Stelle heißt, „ohne Fritz Bauers Aufklärungsarbeit stünde dieses oft so mangelhafte Rechtssystem der frühen Bundesrepublik noch viel blamierter da“ (S. 290).

 

Kapfenberg                                                                                        Werner Augustinovic