Hildermeier, Manfred, Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. Beck, München 2013. 1504 S., 11 Kart., 36 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

So imposant der vorliegende, im Umfang an Jürgen Osterhammels große Universalgeschichte des 19. Jahrhunderts „Die Verwandlung der Welt“ erinnernde Band dem Leser erscheinen mag, der, wie sein Verfasser prophetisch festhält, „kaum in einem Zuge gelesen werden wird, aber hoffentlich annähernd überzeugend den Anspruch erheben kann, alle wesentlichen Aspekte seines Leitthemas über den Gesamtzeitraum der russischen Geschichte vor 1917 zu berücksichtigen“, so ist er doch als Überblicksdarstellung, die „weder die Lesbarkeit noch den Informationsstand des interessierten Laien […] aus den Augen verlieren“ sollte (S. 21ff.), zur Definition eines bestimmten Blickwinkels ebenso gezwungen wie zur inhaltlichen Reduktion. Obwohl daher „wissenschaftlich solide und kompetente Darstellungen der Geschichte der riesigen russischen (und sowjetischen) Peripherie […] allemal überfällig“ seien, passten sie „nicht in den engen Rahmen einer einbändigen Gesamtübersicht der historischen Entwicklung des Zarenreichs und seiner Vorläufer“, wie sie hier angestrebt werde, verpflichtet dem Motto, „dass sich die Geschichte Russlands ganz überwiegend ‚in Europa‘ vollzog und das Zarenreich […] trotz bleibender Besonderheiten zu einer ‚europäischen Macht‘ wurde“ (S. 24f.). In der Gliederung sowohl chronologisch als auch systematisch ausgerichtet, erfasst die Darstellung vier „Kerndimensionen der historischen Wirklichkeit“ (S. 27f.): Herrschaft (Politik, Recht, Verwaltung), Gesellschaft (soziale Struktur, Korporationen, Schichten), Wirtschaft (Landwirtschaft, Manufakturen, Gewerbe, Industrie, Handel) und Kultur (materielle und geistige unter besonderer Berücksichtigung von Bildung, Religion und Kirche, säkularer Denkströmungen, Kunst und Ästhetik).

 

Die in ihrem wissenschaftlichen Wert hoch zu veranschlagende Arbeit ergänzt nun die annähernd ebenso umfangreiche „Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates“ (1998), die der Göttinger Osteuropa-Gelehrte vor nunmehr fünfzehn Jahren vorgelegt hat. Zusammen vermögen die beiden Bände Günther Stökls verdienstvolle, aber mehr als ein halbes Jahrhundert alte, noch 2009 in siebenter Auflage vollständig überarbeitete und aktualisierte „Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“ als Standardpublikation im deutschsprachigen Raum abzulösen und der Fachwelt wie dem interessierten Laien einen komplexen Abriss der russischen Geschichte auf dem Stand der Zeit zur Verfügung zu stellen. Ein Blick auf die im umfangreichen Literaturverzeichnis angeführten Publikationen des Verfassers lässt erkennen, dass er sich in seiner bisherigen Forschungsarbeit primär mit dem neuzeitlichen Russland auseinandersetzt. So wird dieses auch im vorliegenden Werk besonders ausführlich gewürdigt: Während die Kiever Rus‘, die Mongolenherrschaft und das Moskauer Reich - ein Zeitraum von über 800 Jahren - auf 370 Seiten Platz finden, erstreckt sich die Präsentation der Entwicklungen seit Peter dem Großen, mit dessen Herrschaft Europa Modellcharakter für das Zarenreich erlangen sollte, also der letzten etwa 230 Jahre bis zum Ausbruch der Revolution, über beeindruckende, mehr als 940 Druckseiten (dazu kommen über 1000 Seiten sowjetrussischer Zeitgeschichte des Vorgängerbandes). Im Zuge der Darstellung werden immer wieder auch Positionen der älteren sowie der sowjetischen Geschichtsforschung kritisch hinterfragt. So heißt es beispielsweise über die Herrschaftsgründung der Waräger und die Etymologie der Rus‘: „Der vehemente Widerspruch jedoch, der seit dem 18. Jahrhundert gegen die ‚Normannenthese‘ erhoben wurde und noch die sowjetische Geschichtswissenschaft inspiriert hat, darf als endgültig widerlegt und Produkt nationalen Wunschdenkens gelten. […] Wer die warägisch-wikingische Staatsgründung akzeptiert, gibt damit auch schon eine Antwort auf die lang und intensiv diskutierte Frage nach der Herkunft des Namens ‚Rus‘‘. […] Sprachforscher des 19. Jahrhunderts haben diese namensphilologische Herleitung zu einer weitestgehend akzeptierten Annahme erhärtet. Obwohl die offizielle Sowjetforschung seit Stalin wieder gehalten war, sie zu leugnen, und auch im Westen ‚phantastische Etymologien‘ angeboten wurden, darf der gewöhnliche Historiker auch weiterhin von ihrer ungetrübten Plausibilität ausgehen“ (S. 41f.).

 

Manfred Hildermeier stellt das autokratische System als Leitmotiv der politischen Prägung Russlands in das Zentrum seiner Betrachtung und verbindet es in einem universalen Ansatz in breiter Front mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ebenso wie mit den Erscheinungsformen, der Kontinuität und dem Wandel der materiellen und geistigen Kultur des Landes. Als ein Beispiel von vielen sei hier exemplarisch die Spezifik der „jüdische(n) Frage“ im Zarenreich angeführt. Im Kiever und Moskauer Reich habe es „so gut wie keine Juden gegeben“, und „die starke jüdische Minderheit, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in den Westprovinzen anzutreffen war“, sei „nicht das Ergebnis innerrussischer Politik, sondern Folge des ‚Staatenmords‘ an der Adelsrepublik“ gewesen, Integrationsprobleme „wurden gleichsam durch die (selbstgewählte) Verwicklung in die Politik der westlichen Anrainerstaaten importiert“. Unter Katharina II. scheiterte eine „Einbeziehung [der Juden] in die neue, einheitliche und damit auch unifizierende, ständisch-korporative Sozialverfassung auf der ganzen Linie“, wodurch „noch in der Herrschaftszeit der großen Zarin eine Diskriminierung erwuchs, die zum Kennzeichen der Lage der Juden im Zarenreich wurde“ und die einen Antisemitismus beförderte, „der wiederum viele Ähnlichkeiten zu analogen geistig-gesellschaftlichen Strömungen und politischen Tendenzen in Europa aufwies“ (S. 1227). Unter Alexander II. „summierte sich, was Berater und Petenten dem Zaren abrangen, zu einer Wende der russischen Judenpolitik“ mit einer Bewegungsfreiheit und Chancenvielfalt, die sie „im Rückblick als goldene Zeit erscheinen“ lassen. Hier avancierte insbesondere „der Juristenberuf zu jenem Tätigkeitsfeld, auf dem jüdische Untertanen mit Abstand die größte Repräsentanz und Prominenz erreichten. Hauptursache dürfte die singuläre Unabhängigkeit der gesamten neuen Judikatur gewesen sein, die mit der Reform auf den Weg kam. […] Die Zahlen sprechen für sich: 1885 waren 12,9 % aller Anwälte des Reiches und 19 % ihrer Helfer jüdischer Herkunft, 1896 – nach ersten Beschränkungen für erstere – 9,8 % aller Anwälte und 32,3 % der Gehilfen. In Petersburg und Odessa lag der Anteil noch deutlich höher“ (S. 1234f.). In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, wie sehr auch Jonathan Sperber in seiner jüngsten Biografie zu Karl Marx an Hand von dessen Vater in einem anderen räumlichen und zeitlichen Kontext (Trier in der nachnapoleonischen Ära) die eminente Bedeutung juristischer Betätigung für die Judenemanzipation hervorgehoben hat. Nach der Ermordung Alexanders II. 1881 vollzog sich eine unheilvolle Kehrtwende, mit der „eine Reihe von Diskriminierungen“ durchgesetzt wurden, die „zum Signum der antijüdischen Politik des Spätzarismus wurden und wesentlich zu seinem Ruf beitrugen, nicht nur die letzte Despotie unter den europäischen Großmächten, sondern auch ein antisemitisches Unrechtsregime zu sein“; unter anderem sperrte man 1889 „die Advokatur für Juden“ (S. 1237). Als mögliche Gründe dafür, dass „am Ende seiner Ära das Zarenreich neben Rumänien der einzige Staat Europas (war), der den Juden die rechtliche Emanzipation noch vorenthielt“, identifiziert der Verfasser deren Qualität als „sozial-rechtlicher“ und auch „kultureller Fremdkörper“, des Weiteren und skurril anmutend die in der Herrschaftselite vorhandene, „obsessive Vorstellung […], die Bauern vor dem verderblichen Einfluss jüdischer Schankwirte auf dem Land bewahren zu müssen“. Insgesamt blieb „das Schicksal der Juden im Zarenreich ausschließlich eine Angelegenheit des Staates und seiner Verwaltung“, aber „wer für die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit warb, konnte dies nur im Rahmen von Bestrebungen tun, die auf die Umwandlung der Autokratie in eine konstitutionell-parlamentarische Ordnung gerichtet waren“ (S. 1240ff.).

 

Dass die Darstellung insgesamt laufend auf die jeweils relevante Normenlage und auf markante Rechtsakte rekurriert, ist selbstverständlich und bedarf keiner besonderen Betonung; zu würdigen ist hingegen der Umstand, dass Manfred Hildermeier entscheidende Akzente in der rechtlichen Entwicklung Russlands zusätzlich geschlossen abhandelt. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang vor allem auf seine (kürzer gehaltenen) Ausführungen zu den durch byzantinische Vorbilder beeinflussten Gesetzbüchern und der Rechtsordnung der Kiever Rus‘ (S. 114ff.) und - breiter und reflektierter - zur Neuordnung der Rechtsprechung 1864 (S. 914ff.), von welcher der Verfasser sagt, sie „dürfte die unbekannteste der ‚Großen Reformen‘ sein“, da sie „Opfer des Mangels an Spezialkenntnissen und der grundsätzlichen Meinung, die Justiz habe sich im Zuge der Ausdifferenzierung staatlicher Herrschaftsfunktionen zu einem separaten, eigener Logik folgenden Bereich entwickelt“, geworden sei. Eine „Wiederentdeckung und Umwertung“ in jüngster Zeit mache zweierlei deutlich: „Dass die liberalen Ideen der frühen 1860er Jahre auf keinem Gebiet so konsequent in gesetzliche Vorgaben gegossen wurden wie im Justizwesen - mit der Folge besonders ausgeprägter Umsetzungsprobleme -; und dass der Kern dieser Reform, die Unabhängigkeit der Justiz sowohl als solche durch die Eigenständigkeit der Prozeduren als auch in Gestalt der Autonomie ihres Personals (neben den Richtern vor allem der Rechtsanwälte) wesentlich zur Entstehung einer politischen Opposition, der moderaten ebenso wie der radikalen, beigetragen hat“ (S. 914). Ungefragt, dass „die Autokratie mit der Rechtsprechung der von ihr geschaffenen unabhängigen, nur dem Gesetz verpflichteten Justiz, soweit ihre eigene Stabilität und Unversehrtheit betroffen war, ganz und gar nicht einverstanden (war). Zur Abhilfe schuf sie zunächst ein Sondergericht; danach setzte sie die normale Rechtsprechung außer Kraft, um sie seit August 1881 durch Ausnahmegesetze auch regulär stark einzuschränken“. Diese Notstandsdekrete wurden „mehrfach verlängert und (galten) faktisch bis 1917“. Klar trete hervor, dass „eine ‚legale Autokratie‘ […] ein ‚Widerspruch in sich‘“ sei (S. 122f.).

 

Ein großes Lob verdient die reichhaltige Ausstattung des Bandes mit informativen Materialien. Ein Diagramm, 36 Tabellen zu Fragen der sozialen und wirtschaftlichen Struktur Russlands sowie elf Karten in erfreulich brauchbarer Dimension begleiten laufend den anspruchsvollen und dennoch stets gut lesbaren Text. Der an die 160 Seiten umfassende Anhang beherbergt den Anmerkungsapparat, das umfangreiche und aktuelle Literaturverzeichnis und zwei genealogische Stammbäume zu den Dynastien der Rjurikiden und der Romanov, daneben jeweils ein Orts-, ein Personen- und ein Sach- und Begriffsregister. Das die zahlreichen Fachbegriffe aus dem Russischen zusammenfassende und erläuternde Glossar erweist sich als besonders nützliches Hilfsmittel bei der Lektüre.

 

Man braucht kein Prophet zu sein, um Manfred Hildermeiers mit größter Sachkenntnis und bewundernswertem Fleiß erarbeiteter „Geschichte Russlands“ einen breiten Erfolg zu prognostizieren. Dafür sprechen die Qualität der inhaltlichen Aussage, die allgemeine Verständlichkeit und die an gängige Handbücher erinnernde Strukturierung des Materials, die dem Werk den Charakter einer Richtmarke zuweisen, an der sich zukünftige Darstellungen zu messen haben werden.

 

Kapfenberg                                                                            Werner Augustinovic