KöblerHermandverloreneillusionen20130319 Nr. 14557 ZIER 3 (2013) 00. IT

 

 

Hermand, Jost, Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus. Böhlau, Wien 2012. 390 S., Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Nationalismus ist das in der Mitte des 18. Jahrhunderts vom Gedankengut der studentischen Landsmannschaften und der Romantik ausgehende Denken in Nationen. Es führt in Europa im 19. Jahrhundert zu nationalen, im Kultu­rellen beginnenden und danach politisierten Gegensätzen. Diese entladen sich im ersten Weltkrieg und nach Adolf Hitlers Verschmelzung des Nationalismus mit dem Sozialismus zum Nationaslsozialismus im zweiten Weltkrieg auf verhängnisvolle Weise.

 

Der in Kassel 1930 geborene Verfasser wurde im Alter von zehn Jahren in einem nationalsozialistischen Programm der Kinderlandverschickung nach Polen gebracht. Nach dem zweiten Weltkrieg studierte er in Marburg ab 1950 Literatur, Philosophie, Geschichte und Kunstgeschichte, wurde 1955 mit einer Dissertation über die literarische Formenwelt des Biedermeiers promoviert und wechselte zu Richard Hamann an die Humboldt-Universität in Berlin, die er aber wenig später mit seinem Lehrer verlassen musste. Seit 1958 in den Vereinigten Staaten von Amerika lebend und als Professor für neuere deutsche Literatur und deutsche Kulturgeschichte der University of Wisconsin-Madison wirkend, hat er zahlreiche Werke etwa über Jugendstil, den deutschen Vormärz oder die deutsche Kulturgeschichte insgesamt vorgelegt.

 

Seine Geschichte des deutschen Nationalismus führt nach einem kurzen Vorwort rasch vom Mittelalter bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Danach werden ausführlicher Rationalismus, Pietismus, Liberalismus, die Auswirkungen der französischen Revolution, Napoleon, Metternich, das Paulskirchenparlament, Bismarcks Reichsnation, der Kriegsnationalismus von 1913 bis 1918, die Weimarer Republik, das rassistisch begründete Herrschaftskonzept der Nazifaschisten, deutschbetonte Engagementsformen im Exil, der gescheiterte Versuch eines besseren sozialistischen Deutschlands, die ältere Bundesrepublik als Wirtschafts- und Staatsbürgernation und schließlich nationalistische Tendenzen nach 1990 betrachtet. Im Ergebnis plädiert der Verfasser in seinem mit Auswahlbiographie, Namenregister von Abusch bis Wilhelm Zimmermann sowie 66 Abbildungen bis zu einem Spiegel-Specialheft abgerundeten Werk gegen den drohenden ökonomischen und privaten Egoismus im Rahmen eines weltweiten High Tech- und Finanzkapitalismus und für eine politische Rückbesinnung auf das in kleinerem Maßstab Machbare, was gegenwärtig nur innerhalb nationaler Grenzen möglich ist, aber trotz seiner Begrenztheit für die gesamte Euro-Zone Vorbildcharakter haben könnte.

 

Innsbruck                                                                               Gerhard Köbler