Heinrich Himmlers Taschenkalender 1940. Kommentierte Edition, hg. v. Moors, Markus/Pfeiffer, Moritz (= Kreismuseum Wewelsburg - Schriftenreihe des Kreismuseums Wewelsburg Band 9). Schöningh, Paderborn 2013. 510 S., Ill.

 

Welch weltbewegende Neuigkeiten, so wird man fragen dürfen, sind von einem schmalen Notizbüchlein zu erwarten, das, beschränkt auf ein einzelnes Jahr, in Stichwortform wenige dürre Angaben fast ausschließlich zu Aufenthaltsorten und - zumeist privaten - Personenkontakten festhält? Wohl keine, würde man vermuten, stammten diese Aufzeichnungen nicht aus der Hand Heinrich Himmlers, der nach Adolf Hitler wohl einflussreichsten Persönlichkeit des Dritten Reiches, deren Name untrennbar mit den schlimmsten Untaten des Regimes verbunden ist. Sein Dienstkalender für die für den Holocaust besonders bedeutsamen Jahre 1941/1942 steht bereits seit 1999 der Forschung ediert und kommentiert zur Verfügung.

 

Die beiden Herausgeber des Taschenkalenders 1940, Markus Moors und Moritz Pfeiffer, sind wissenschaftliche Mitarbeiter des Kreismuseums Wewelsburg. Dort hatte die SS 1934 das ehemalige fürstbischöflich-paderbornische Residenzschloss in Ostwestfalen übernommen; Heinrich Himmler forcierte den Ausbau zu einer exklusiven Kultstätte der SS-Gruppenführer, zu einem inszenierten Raum, der die gesellschaftspolitischen Vorstellungen von der SS als kriegerischem Neuadel und Elite des Nationalsozialismus zum Ausdruck bringen sollte: „Wewelsburg sollte ein Ort der symbolischen Bekräftigung (nach innen) und der Verschleierung beziehungsweise Okkultisierung (nach außen) des gewalttätigen und mörderischen Machtanspruchs der SS sein“ (S. 86). Seit 1982 operiert das Kreismuseum als Ort der Erinnerung und der zeitgeschichtlichen Forschung und präsentiert seit 2010 die Dauerausstellung „Ideologie und Terror der SS“. Das in ihrem Rahmen gezeigte Original von Himmlers Taschenkalender 1940 konnte 2008 käuflich erworben werden und soll nun durch die Edition „ortsunabhängig in größerem Ausmaß zum Sprechen gebracht werden“ (S. 13).

 

Die Herausgeber räumen ein, dass, bedingt durch die „meist sehr allgemein gehaltenen Eintragungen“, der „größte historische Gebrauchswert“ dieses handschriftlichen Ego-Dokuments wohl im detaillierten Itinerar besteht. Es mache nachvollziehbar, wo sich Himmler im Laufe des Jahres 1940 aufgehalten habe: an mindestens 239 Tagen zumindest zeitweilig in, an mindestens 186 Tagen außerhalb von Berlin (neben dem engeren Reichsgebiet bereiste er die besetzten und eingegliederten Gebiete der Tschechoslowakei, Polens, der BENELUX-Staaten und Frankreichs sowie in offizieller Mission Spanien und Italien). Im Gegensatz dazu sei „über das politische Tagesgeschäft Himmlers im Jahr 1940 […] am wenigsten zu erfahren“ (S. 11f.). Um den Aussagewert der Quelle zu erhöhen, war es daher unumgänglich, Informationen aus Parallelaufzeichnungen heranzuziehen und mit ihrer Hilfe das magere Gerüst der wenigen Schlagworte zu einem plastischen Bild der täglichen Arbeits- und Freizeitbetätigungen des Reichsführers-SS (1929), Chefs der deutschen Polizei (1936) und Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (1939) im Scharnierjahr 1940 zwischen der Vorkriegszeit und dem Übergang zum Vernichtungskrieg zu verdichten. Zu diesem Zweck wurden in erster Linie relevante Eintragungen aus dem wohl von Himmlers Sekretärin und dessen Adjutanten geführten „Termintagebuch“ (TT) und aus dem Diensttagebuch des persönlichen Referenten Rudolf Brandt (B) in den fett gedruckten Text des Taschenkalenders interpoliert, darüber hinaus gelegentlich handschriftliche Gesprächs- und Vortragsnotizen sowie Reiseprogrammentwürfe aus der Feder Himmlers und entsprechend datiertes Bildmaterial in Schwarzweiß. Selbstverständlich verarbeitet der im Fußnotenapparat erscheinende Kommentar auch die aktuellen Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft.

 

Es stellt sich die Frage, ob auf diese Weise tatsächlich die optimale Form der Präsentation verwirklicht worden ist. Der Editionsteil mitsamt des Kommentars (S. 171 – 404) nimmt weniger als die Hälfte des Seitenumfanges des vorliegenden Bandes ein. Während die von Himmler, beginnend mit dem Tag des Kriegsausbruchs, in fortlaufender Zählung nummerierten Eintragungen von Montag, 1. Januar 1940 (Nr. 123) bis Dienstag, 31. Dezember 1940 (Nr. 488) mit ihrem spärlichen Informationsgehalt in großzügiger Weise den Großteil des Druckraums beanspruchen, findet sich der alle wesentlichen Inhalte dokumentierende und daher stets zu lesende Kommentar gedrängt in die klein gedruckten Fußnoten verbannt. Nach Ansicht des Rezensenten wäre es sicher benutzerfreundlicher gewesen, diesen Kommentar deutlich gekennzeichnet und in entsprechender Schriftgröße direkt in den Textfluss zu integrieren.

 

Nicht immer können alle Notizen Himmlers befriedigend kommentiert werden. Beispielsweise findet der Eintrag „Mittags beim Führer“, ergänzt durch die sehr interessante handschriftliche Notiz „Exekution Kohn [-] wird d[urch] Gr[uppen]f[ührer] Wolff d[em] Führer z[ur] Entscheidung vorgelegt“, vom Montag, dem 24. Juni (Nr. 298), keine nähere Erläuterung. Auf der anderen Seite können Tage, für die sich im Taschenkalender kein Eintrag findet, so für Freitag, den 28. Juni (Nr. 302), ausführlich kommentiert sein: „Himmler untersagte, dass von Verwaltungs- und Polizeidienststellen - wie offensichtlich häufig geschehen - Angaben über internierte niederländische Staatsangehörige an schwedische Konsularbehörden gemacht würden. Entsprechende Anfragen seien ausschließlich an das Auswärtige Amt weiterzuleiten […]. Himmler ließ festhalten, dass er nach dem Krieg die Strafbemessung bei Eigentumsdelikten verändern und das Strafmaß verdoppeln wolle […]. Himmler ließ mitteilen, dass er in der Frage des Heiratsgesuchs von SS-Ustuf. Wolfgang G. und Ursula L. noch keine Entscheidung getroffen habe, weil er erst von G. wissen wolle, ob er aufgrund von äußerem Druck den Entschluss zur Heirat gefasst habe. Der schwangeren Ursula L. teilte er mit gleichem Schreiben mit, dass er ihr ‚selbstverständlich in geeigneter Form helfen‘ wolle, und bot ihr eine Unterbringung in einem ‚Lebensborn‘-Heim an […]“ (S. 286, Fußnote 409). Zusätzlich findet der Leser ein Bild, das Himmler an dem betreffenden Tag zusammen mit anderen Exponenten des Regimes im Gefolge Hitlers unterhalb der Ruine Limburg zeigt.

 

Um die Benutzung der Edition zu optimieren, haben die Herausgeber den Band mit einem mehr als 60 Druckseiten umfassenden, nach Möglichkeit aus zeitgenössischen Primärquellen schöpfenden und die in den edierten Kalendarien erwähnten Namen erfassenden Personenglossar versehen, das auch die Tage der Nennung verzeichnet, eine Ausstattung, die durch entsprechende Verzeichnisse (Abkürzungen, Quellen und Literatur, Personen, Orte) und eine Äquivalenztabelle der Offiziersdienstgrade der SS und der Wehrmacht ergänzt wird. Etwa 150 Seiten des Buches sind erläuternden Beiträgen zu Himmlers Biographie und zu seinen Tätigkeitsfeldern im Jahr 1940 gewidmet: Erstere, eingeleitet von einem tabellarischen Lebenslauf Heinrich Himmlers, betrachten dessen Herkunft und politischen Werdegang (Moritz Pfeiffer), dessen Privatleben (Katrin Himmler) und das Projekt Wewelsburg (Markus Moors); letztere setzen sich mit der Rasse- und Siedlungspolitik (Moritz Pfeiffer), dem Polizei- und Sicherheitsapparat (Michael Wildt), dem Ausbau der Waffen-SS (Jean-Luc Leleu), der Expansion der Konzentrationslager (Jan Erik Schulte) und dem Bedeutungswandel der Allgemeinen SS (Bastian Hein) auseinander. Ein Autorenverzeichnis gibt Aufschluss über die wissenschaftliche Expertise der genannten Verfasser.

 

Alles in allem erlaubt der Band trotz der beanstandeten, nicht optimal anmutenden Placierung von Quelle und Kommentar eine verlässliche Rekonstruktion vieler der zahlreichen Aktivitäten Heinrich Himmlers für das Jahr 1940, eine glückliche, in der zeitgeschichtlichen Forschung mitnichten alltägliche Situation. Dieser Umstand verdient vor allem deshalb Würdigung, weil das Nachvollziehen weitgehend lückenloser, präziser Tagesabläufe wichtiger Entscheidungsträger in aller Regel entweder durch unzureichende oder fehlende Überlieferungen unmöglich gemacht oder durch den erforderlichen, meist erheblichen Rechercheaufwand gescheut wird. Isoliert betrachtet, beschränkt sich die Funktion des Taschenkalenders 1940 auf die eines zeitlichen und örtlichen Orientierungsrahmens, der nur in Verbindung mit inhaltlich aussagekräftigen Archivalien, wie dies im Kommentar erfolgt, weiter reichende Erkenntnis generiert.

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic