Filbinger-Riggert, Susanna, Kein weißes Blatt. Eine Vater - Tochter - Biographie. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2013. 283 S. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.

 

Zahlreiche Zeitungsartikel und Rechtsstreite begleiteten im April und Mai 2013 das Erscheinen dieses Buches der ältesten Tochter des ehemaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs. Sie waren geeignet, große Erwartungen bei zeitgeschichtlich interessierten Voyeuren zu wecken. Hierzu gehört die Neugierde, aus den 2009 bei der Räumung des Freiburger Wohnhauses gefundenen 60 Tagebuchheften, die Hans Filbingers Zeit ab 1940 beschrieben, Details zu erfahren. Für alle, die erwartet hatten, das Buch enthalte eine mit Dokumenten angereicherte Auseinandersetzung zu Problemen der Zeitgeschichte wird dies Buch eine Enttäuschung sein.

 

Für alle jedoch, die einen Einblick in das Leben der Familie Hans und Johanna Filbinger mit ihren fünf Kindern tun möchten, ist dies Buch ein Gewinn. Überaus offen beschreibt die Autorin ihr Leben in der Familie und ihr Erleben der Politik, die für ihren Vater über Jahrzehnte das Leben bestimmte. Außenstehenden wird selten bewusst, wie viele Politiker  das Leben ihrer Familien den Forderungen des Politikerberufs nachordnen; zu selten geben Familienangehörige solche tiefen Einblicke wie die Autorin. Gespannt kann man auf ein ähnliches Buch eines von sieben Kindern einer Ministerin sein. Hans Filbinger hat keine Ausnahme davon gemacht, dass trotz einer Arbeitswoche in das Wochenende noch Akten zur Bearbeitung nach Hause genommen werden. Familienleben war wohl beschränkt auf Urlaubstage in der Schweiz. Eine trotzdem funktionierende Familie gehörte zu dem nach außen wirkenden Bild des aufstrebenden Politikers. Das Buch ähnelt insoweit den Schilderungen aus der Familie Helmut Kohls. Johanna Filbinger reagierte auf ihre Weise mit gesundheitlichen Problemen und entzog sich nicht selten Anforderungen, die Frau an der Seite des Herrn Ministerpräsidenten darzustellen. Dadurch wurde die älteste Tochter schon früh als ihr Ersatz in die Welt der Politiker eingeführt. Ihre Schilderung mancher Erlebnisse bei derartigen Repräsentationsereignissen ist ebenso erfrischend wie der von ihr gewährte Einblick in die Vorgehensweise der Akteure, die hochpolitische Kontakte vermitteln.

 

Viele Passagen des Buches regen zum Nachdenken an. Warum wird Kindern Prominenter nicht auch zugestanden, dass sie durch Gelegenheitsarbeiten ihr eigenes Geld verdienen wollen, dabei aber auf die Verwandtschaft angesprochen werden oder gar bei ihren eigenen Wünschen gehindert werden? Der Irrglaube, Prominenz sei nur förderlich, wird durch die Autorin mehrfach belegt. Beeindruckend ist die Schilderung, wie eine heranwachsende Tochter, die altersentsprechendes Verhalten zeigt, angeblich für ein Jahr in ein Internat (in Hohenzollern, nicht im Allgäu) geschickt wird, dann aber drei Jahre dort bleiben muss. Der Widerspruch zwischen einem Politiker, der das christliche Familienbild in seiner Politik fördern will und in seiner eigenen Familie eklatant dagegen verstößt, ist selten so eindringlich wie dennoch warmherzig beschrieben.

 

Für die Autorin spricht, dass sie trotz dieser Erlebnisse zu ihrem Vater ein wenig gebrochenes Verhältnis führen kann. Gerade nach seinem Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten erlebt die Autorin einen Vater, wie ihn sie vorher kaum gekannt hat. Zu diesem neuen Vater, den die Autorin erlebte, gehörte auch die Freude über den ersten Enkel, mit dem ihn seine alleinerziehende Tochter überraschte. Überaus deutlich wird in der Schilderung, dass das Verhältnis der Autorin zu ihrer Mutter lange Jahre problembeladener war als zu ihrem Vater.

 

Im vorletzten der 40 Kapitel versucht sie eine Würdigung des Verhältnisses des Vaters zum Nationalsozialismus zu geben. Nach der Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1940 bis 1945 stellt sie zwar fest, dass sich der Vater im Laufe der Jahre, trotz seiner Vorbehalte gegen das System der von der Zeit geforderten Haltung der Soldaten angenähert hat. „Tatsächlich wirft er sich selbst Unbeständigkeit in Haltung und Meinung vor…“ Damit entspricht er der Vielzahl seiner Zeitgenossen, die an der neuen Zeit Positives entdeckten, ihren eigenen Beitrag zur Erhaltung des Systems leisteten, Widerstand für sich ausschlossen und sich dagegen sträubten, von Verbrechen des Systems Kenntnis zu nehmen. Bezeichnend ist, dass er von einem Widerwillen gegen seine Richtertätigkeit schreibt, aber nichts davon erwähnt, welche Bemühungen er unternahm, um von der Bürde entlastet zu werden. Ein Held und Widerständler war er gewiß nicht.

 

Neu-Ulm                                                                                                          Ulrich-Dieter Oppitz