Dornik, Wolfram, Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf, mit einer Nachbetrachtung von Moritz, Verena/Leidinger, Hannes (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung 25 = Schriften aus dem Museum im Tabor Feldbach 12). StudienVerlag, Innbruck 2013. 279 S., 37 Abb., 4 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.
Feldmarschall Franz Conrad von Hötzendorf (1852 – 1925) führte als Chef des Generalstabes von 1906 bis 1911 und von 1912 bis 1917 die Streitmacht Österreich-Ungarns in den und im Ersten Weltkrieg. Durch seine lange Amtszeit hatte er „in einer sehr kritischen Phase der Habsburgermonarchie […] zumindest indirekt entscheidenden Einfluss“, war aber zugleich „Teil eines komplexen Systems, in dem der Einzelne oft nicht die gewünschte Handlungsmacht hatte“. Wolfram Dorniks Biographie sucht deshalb nach Antworten auf die folgenden Fragen: „Welche Rolle nahm Franz Conrad von Hötzendorf in diesem Großen und Ganzen ein? Wer war er? Ein genialer Stratege? Ein wirklichkeitsferner Kriegstreiber? Ein Rassist, Sozialdarwinist und Antisemit? War er Getriebener eines Systems, und wie weit ging seine Handlungsfreiheit? Wie groß war sein Anteil an der Herbeiführung des Ersten Weltkrieges? Sind ihm Fehler in der Armeeführung zuzuschreiben? Ist er für Kriegsverbrechen verantwortlich zu machen? Wie sah sein Weltbild, wie sein privates Umfeld aus? Wodurch wurde er und wen hatte er selbst beeinflusst? Welches Bild wollte er von sich selbst für die Nachwelt gesichert sehen? Und von wem wurde er zeitlebens und nach seinem Tod instrumentalisiert?“ (S. 12f.). Zu diesem Zweck beschäftigt sich der Verfasser zunächst mit der Prägung Conrads durch dessen familiären Hintergrund und den allgemeinen Geist der Zeit und folgt danach dessen Spuren im Militär bis zur Berufung zum Generalstabschef, jene Funktion, die ihn in die Geschichte eingehen ließ und die folgerichtig im Schwergewicht der vorliegenden Lebensbeschreibung liegt. Bemüht, sein Wirken in das ihm angemessen erscheinende Licht zu rücken und die Deutungshoheit darüber zu wahren, hinterließ Conrad der Nachwelt entsprechende, zwischen 1921 und 1925 publizierte Schriften („Mein Anfang. Kriegserinnerungen aus der Jugendzeit, 1878 – 1882“, und vor allem fünf Bände „Aus meiner Dienstzeit 1906 – 1918“, reichend bis zum Dezember 1914) und stellte damit auch eine materielle Grundlage für die, wie Verena Moritz und Hannes Leidinger in ihrer abschließenden Betrachtung klarlegen, bis heute fortwirkende Auseinandersetzung um seine Person und seine Amtsführung bereit.
Der Weg des jungen Conrad führte von der Kadettenschule in Hainburg, wo er als Kind den Preußisch-Österreichischen Krieg von 1866 hautnah miterlebte, über die Militärakademie in Wiener Neustadt an die Kriegsschule in Wien, nach deren Abschluss er 1876 zum Generalstabskorps transferiert wurde. Unter anderem 1878 am Okkupationsfeldzug in Bosnien-Herzegowina und dem Sandschak Novi Pazar sowie 1882/1883 an der Niederwerfung des Aufstandes in Süddalmatien beteiligt, konnte er die dort gemachten Lehren in die Praxis umsetzen, indem er als Stadtkommandant in Triest 1902 den von der irredentistischen Bewegung unterstützten Streik durch Verhängung des Standrechts und die Besetzung wichtiger Infrastruktur niederschlug und sich damit „erstmals als Falke bei Hofe bemerkbar machte (S. 56). Im Herbst 1906 „beeindruckte Conrad bei den Manövern in Südtirol Kaiser und Thronfolger durch seine geschickte Führung […]. Einige Monate später wurde er ins Belvedere gerufen, wo ihm Franz Ferdinand eröffnete, dass er ihn als neuen Generalstabschef vorschlagen möchte“ (S. 61), eine Schlüsselstellung, deren Kompetenzen er gezielt auszubauen verstand und die er mit Ausnahme des Intermezzos unter Blasius Schemua (Dezember 1911 – Dezember 1912) bis 1917 innehaben sollte.
Die Armee galt als „wichtigstes Werkzeug des Kaisers“ und kultivierte im überwiegend deutschen Offizierskorps „antidemokratische, antirevolutionäre, antiliberale und antinationale Prinzipien“ (S. 28), denen sich auch der Generalstabschef vollauf verpflichtet fühlte. Sie wurde „zum einen zu einer bürgerlichen Institution, in der sich die militärische Elite mehr oder weniger selbst forttradierte und von der zivilen Gesellschaft abkoppelte, zum anderen wuchs insbesondere im Berufsoffizierskorps eine Generation heran, die keine oder nur sehr eingeschränkte Kriegserfahrungen hatte, an die aber hohe Erwartungen in Bezug auf ihre soziale Position gestellt wurden“, welchen aber „weder eine anerkennende soziale Basis noch die Legitimation durch die Praxis gegenüber(stand) - es gab also einen ‚Mangel an Krieg‘“ (S. 32).
Wohl auch um diesem Mangel endlich abzuhelfen, forderte der begabte, in steter Offensive den Erfolg suchende, so selbstbewusst wie undiplomatisch auftretende und mit seiner Meinung nie hinter dem Berg haltende Conrad bei jeder Gelegenheit sowohl in der Annexionskrise 1908 als auch während der Balkankriege 1912/1913 vehement den Präventivschlag gegen Serbien und Italien, konnte aber weder den Thronfolger und schon gar nicht den Kaiser zu einer derartigen Maßnahme bewegen. Als der Krieg nach der Ermordung Franz Ferdinands in Sarajevo zur Realität zu werden drohte, trat er weiterhin als „Brandbeschleuniger“ auf, hatte er doch „durch sein jahrelanges Drängen auf Krieg sowie durch sein Agieren in der Julikrise selbst die Option Krieg nicht mehr als Option, sondern als unumstößliche Notwendigkeit festgeschrieben. Hätte der Generalstabschef als Bedingung für einen Krieg klare Bündnisverhältnisse gefordert oder gar vor den bereits sich abzeichnenden militärstrategischen Gefahren gewarnt, hätten die zweifelnden ungarischen Vertreter sicherlich Rückenwind bekommen und es wären vielleicht auch andere Optionen offen gehalten worden“. Wie sehr sich Conrad bereits damals des unkalkulierbaren Risikos bewusst war, zeigt seine dem Band gleichsam als Motto vorangestellte, gegenüber Leopold Freiherrn von Chlumecký geäußerte Bemerkung: „Im Jahr 1908/09 wäre es ein Spiel mit aufgelegten Karten gewesen, 1912/13 noch ein Spiel mit Chancen, jetzt ist es ein va banque Spiel“ (S. 133f. u. S. 7).
In Letzterem hat der Generalstabschef, wie der mit einem verunglückten Aufmarsch beginnende, insgesamt für Österreich-Ungarn unglückliche Kriegsverlauf erweisen sollte, Recht behalten. Schwelende Kompetenzkonflikte und der Streit um Prioritäten mit der deutschen Obersten Heeresleitung beeinträchtigten trotz des von Conrad durchgesetzten, höchst erfolgreichen Durchbruchs bei Tarnów-Gorlice an der Ostfront die dortige Kriegsführung, sein „Privatkrieg“ gegen Italien beschwor neue Probleme herauf, sodass Kaiser Karl, der Nachfolger des 1916 verstorbenen Franz Joseph, als neuer Oberkommandierender ihn Anfang März 1917 seines Amtes enthob und zunächst zum Kommandanten der „Heeresgruppe Conrad“ in Tirol, dann zum „Obersten aller Garden“ ernannte. Was Karl dem „sehr genialen Strategen“ unter anderem vorwarf, waren dessen Truppenferne, dessen Ungeduld, dessen schlechte Personalkenntnis und die Neigung, Generäle rasch abzusetzen, dessen mangelndes Gefühl für die öffentliche Kommunikation und die Stimmung im Hinterland, dessen wenig präzise Reglements, dessen geringes Verständnis vom Verteidigungskrieg sowie die angeblich zu große Abhängigkeit von seiner zweiten Frau Gina.
Das Privatleben des Generalstabschefs blieb von Schicksalsschlägen nicht verschont: 1905 verstarb seine erste Frau und Mutter seiner vier Söhne, zwei der Söhne überlebten den ersten Weltkrieg nicht. Um seine zweite Frau Gina, geschiedene Baronin Reininghaus, musste er lange kämpfen, bevor er sie 1915 ehelichen konnte. Die aus Conrads klagenden Briefen zu erschließende Persönlichkeit beurteilt der Verfasser folgendermaßen: „Wir sehen einen fragilen Menschen, der die Öffentlichkeit mied, sein Leben und sein Umfeld durchwegs pessimistisch betrachtete. Seine Gedanken pendelten zwischen manischen und depressiven Auswüchsen, er war unfähig, anstehende Probleme rasch einer Lösung zuzuführen, es fehlte ihm an Empathie […]. Und dies bei einer Person, die so im Rampenlicht stand wie der Chef des Generalstabes, der mit Druck umgehen, armeeintern wie auch im Staatsgeflecht vermittelnd auftreten, die Gesamtlage Europas erkennen und mitgestalten und immer wieder auch mit verschiedensten Menschen zusammenarbeiten musste. […] Es stellt sich […] die berechtigte Frage, ob Conrad für dieses so wichtige Amt und die damit verbundenen Aufgaben die passende Persönlichkeitsstruktur mitbrachte“ (S. 77). Auch Selbstkritik war seine Sache nicht, wenn er äußerte: „Ich habe nie etwas bereut, weil ich stets nach bestem Können, Wissen und Gewissen so gehandelt habe, wie es meinem Wesen, meinem Charakter entsprach und weil ich überzeugt davon bin, daß ich in gleicher Lage immer wieder in gleicher Weise so gehandelt hätte“ (S. 187).
Anlass zu Kritik geben allerdings nicht nur sein Kriegskurs und seine militärischen Entscheidungen, sondern auch einige weitere Aspekte seiner Persönlichkeit und seines Wirkens. Für den Sozialdarwinisten Conrad war der „Krieg die natürlichste Sache der Welt“, die den Einsatz aller Mittel rechtfertigte; so befürwortete er den uneingeschränkten U-Boot-Krieg und zeigte sich begeistert von der Wirkung des Giftgaseinsatzes. Im Kampf gegen den „Russophilismus der Ruthenen und Tschechen“ ließ er „bei Gefahr verräterischer Umtriebe seitens der Bevölkerung […] gegen schuldige Individuen, eventuell ganze Gemeinden mit der größten Energie und Rücksichtslosigkeit“ (S. 140f.) vorgehen, in der Folge kam es zu massenhaften Übergriffen gegen Zivilisten und zu Kriegsverbrechen. Historiker haben zudem „die Frage gestellt, ob die zum Teil überaus hohe Mortalitätsrate unter serbischen oder italienischen Gefangenen nicht nur als Folge einer allgemeinen Ressourcenknappheit oder anderer materieller sowie organisatorischer Defizite zu betrachten ist, sondern auch einen intentionalen Hintergrund hat. Man wird zudem nicht an der Frage vorbeikommen, inwieweit die mentale Prägung eines Gutteils des Offizierskorps, für das Conrad eine Vorbildfunktion hatte, Wegbereiter für Verstöße gegen geltendes Kriegsrecht gewesen ist“ (S. 212). Demgegenüber wirken nach Meinung des Rezensenten die Versuche, den Feldmarschall, dessen „Radikalisierung“ (S. 178) laut Verfasser mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie eingesetzt habe, in einen betont deutschnationalen (weil er 1915 bei einer möglichen Abtrennung des Trentino die Berücksichtigung der Sprachgrenze gefordert, sich durch Abstammung vonseiten beider Eltern als Deutscher empfand und 1923 in einem Anschluss Österreichs an Bayern Vorteile zu erblicken glaubte) oder gar antisemitischen (obwohl „bis zu seinem Tod […] Kontakt mit jüdischen Freunden und Kameraden“ haltend, vertrat er angeblich „antisemitische Diskursmetaphern“, S. 191) Rahmen zu stellen, weniger überzeugend.
Tod und Begräbnis Conrads 1925 waren „innenpolitisch ein Kristallisationspunkt des auseinanderdriftenden und sich radikalisierenden gesellschaftspolitischen Diskurses“ (S. 195f.): Während Christlichsoziale und Deutschnationale dem Feldherrn huldigten, blieben sozialdemokratische Politiker den Feierlichkeiten demonstrativ fern. Nach Perioden der Hagiographie und der Vereinnahmung habe sich seit den 1960er Jahren eine kritischere Geschichtsschreibung Raum verschafft, im öffentlichen Bewusstsein sei Conrad von Hötzendorf heute als historische Figur wohl nur mehr am Rande präsent.
Seit Karl Friedrich Nowaks ersten zeitgenössischen und sehr populären Schriften („Hötzendorfs Lager“, 1916; „Der Weg zur Katastrophe“, 1919) bildet das Selbstbild des Generalstabschefs die Grundlage der Auseinandersetzung mit seiner Person und seinem Wirken. Wolfram Dorniks Studie präsentiert sich als gut lesbare, inhaltlich konsistente Darstellung, die - ohne überraschende Neuigkeiten ans Tageslicht zu bringen - ein von den militärischen und sicherheitspolitischen Agenden dominiertes, aber auch den privaten Bereich nicht aussparendes Lebensbild dieser bedeutenden, aber auch umstrittenen historischen Persönlichkeit zeichnet und den aktuellen Wissensstand prägnant zusammenfasst. Zu vielen der eingangs aufgeworfenen Fragen kann sie dementsprechend plausible Aussagen anbieten. Nicht erwogen wird die Frage, welche Optionen realistisch denkbar gewesen wären, hätte sich Conrad mit seiner Forderung nach präventiven Militärschlägen gegen Serbien und/oder Italien tatsächlich frühzeitig durchgesetzt. Ein tabellarischer Lebenslauf über mehr als drei Druckseiten verzeichnet neben den wichtigsten privaten Eckdaten (Geburts- und Ablebensdaten, Eheschließungen, Geburtsdaten der Kinder) in erster Linie die militärischen Verwendungen und Auszeichnungen. Mit jeweils Seitengröße viel zu klein geraten und dadurch ohne wirklichen Informationswert sind allerdings die zum Teil in Farbe gehaltenen vier Karten im Anhang, die in den Text eingebundenen 37 Fotografien zeigen überwiegend die Person Conrads in verschiedenen Phasen seines Lebens. Unangenehm sind die orthografischen und grammatikalischen Flüchtigkeitsfehler, die diese Schrift ständig begleiten und im schlimmsten Fall ins Sachliche gehen. Der weltberühmte italienische Renaissancekünstler Raffael da Urbino erscheint als „Rafael da Urbio“ (S. 57), der geschlagene Feldherr von Königgrätz 1866, Ludwig August Ritter von Benedek, erhält den Vornamen „Heinrich“ (S. 205 u. 273). Eine Verunglimpfung erfährt auch der wohl bekannteste preußische Orden, der Pour le Mérite, der auf S. 227 als „pour le meritee“ und „pur le meritee“ gleich zweimal in unterschiedlicher falscher Schreibung erscheint.
Kapfenberg Werner Augustinovic