Diestelkamp, Bernhard, Vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz. Die deutsche Königsgerichtsbarkeit und die Verdichtung der Reichsverfassung im Spätmittelalter (= Quellen und Forschungen zur Höchstgerichtsbarkeit im alten Reich 64). Böhlau, Köln 2013. 159 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Individualität des Menschen und die ihn auszeichnende Erfindungskraft bringen es mit sich, dass viele Menschen zu vielen anderen Menschen in Interessengegensätze geraten, in denen außer Resignation auch die Konfliktaustragung möglich ist. Da das eine vor allem psychische Folgen und das andere in erster Linie physische Wirkungen auslösen kann, sind in beiden Fällen Einbußen möglich, die insgesamt sehr weit reichen können. Als weniger schädliche Alternative haben sich die Menschen oder ihre Meinungsführer im Laufe der Zeit auf die Lösung der Konflikte zweier durch Dritte geeinigt oder verständigt, weshalb bereits in frühen Zeiten das Gericht sichtbar wird, das mit seiner Entscheidung grundsätzlich einen Streit beenden und dadurch den Interessenkonflikt ohne Gewalt auflösen will.

 

Als der in Magdeburg 1929 geborene, bei Hans Thieme in Freiburg im Breisgau 1960 über die Städteprivilegien Herzog Ottos des Kindes (1204-1252) promovierte, 1967 auf Grund einer gewichtigen Untersuchung über das Lehnrecht der Grafschaft Katzenelnbogen (13. Jahrhundert bis 1479) habilitierte, umgehend nach Frankfurt am Main berufene und inzwischen emeritierte Verfasser seine grundlegende, langjährige Arbeit an den Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451 in jungen Jahren begann, hatte er nach dem kurzen Vorwort des vorliegenden Werkes die Hoffnung, auf der am Ende neu gewonnenen, breiten Quellengrundlage die Geschichte der hoch- und spätmittelalterlichen Königsgerichtsbarkeit von den Anfängen bis zum Verschwinden des Hofgerichts im Jahre 1451 schreiben zu können. Leider lief ihm die Zeit davon, indem ihn sein Bemühen um die Sicherung und Fortführung der Publikation zusammen mit andern Aufgaben hinderten, den Plan rechtzeitig anzugehen. Im Laufe der Jahre wuchs die Erkenntnis, dass eine Vollendung der Regestierung in seiner Lebenszeit nicht mehr zu erwarten sein würde, zumal sich die Zahl der urkundlichen Quellen im 15. Jahrhundert exponentiell vergrößerte und die beiden verdienstvollen Bearbeiter der Regesten bald in Ruhestand gehen werden.

 

Diese Umstände erzwangen die Einsicht, dass die ursprüngliche Planung nicht vollendet werden kann. Im bisherigen Stil kann das Projekt nur bis zum Ende der Herrschaftszeit König Ruprechts im Jahre 1410 fortgesetzt werden. Die restliche Zeit bis1451 kann zwar hilfsweise durch die Regesta Imperii geschlossen werden: Aber in ihnen werden die Urkunden von Hofríchtern und Richterkommissaren nicht aufgenommen, so dass eine schmerzliche Lücke unausweichlich sein wird.

 

Verknüpft mit diesen unabänderlichen Gegebenheiten wuchs auch die Erkenntnis des Verfassers, dass er selbst die ursprünglich geplante Geschichte der deutschen Königsgerichtsbarkeit im Hochmittelalter und Spätmittelalter nicht mehr schreiben können werde. In dieser misslichen Lage bot sich im Rahmen einer in Wien im September 2011 abgehaltenen Tagung der österreichischen Akademie der Wissenschaften ein Vortrag über die Appellation als Katalysator für die Veränderung der Höchstgerichtsbarkeit am deutschen Königshof um die Mitte des 15. Jahrhunderts als eingeschränkte Lösung der bisherigen Aufgabe an. Damit konnte er zwar die anfängliche angestrebte Gesamtdarstellung nicht verwirklichen, aber doch einen außerordentlich bedeutsamen Teilaspekt erörtern.

 

Indem er den dortigen Vortrag zu einem eigenen Buch erweiterte, konnte er zugleich symbolisch einen Kreis schließen. Dieser wurde 1973 in der gerade gegründeten Reihe mit der Drucklegung der 1936 verfassten, zunächst infolge zeitgeschichtlicher Umstände ungedruckt gebliebenen und nur durch günstige Umstände vor der Vernichtung geretteten Studie Hanns Wohlgemuths über das Urkundenwesen des deutschen Reichshofgerichts (1273-1378) eröffnet, mit der die Phase neuer Beschäftigung mit der Geschichte des Hofgerichts auf der Grundlage des älteren Werkes Otto Franklins aus dem Jahre 1865 begann. Vierzig Jahre später kann der Verfasser jedenfalls für seine Person nach 63 Bänden und 14 bisherigen Regestenbänden (Band 1 911-1197 1988, 2 1198-1272 1994, 3 1273-1291 1986, 4 1291-1313 1992, 5 1314-1347 1987, 6 1346-1355 1990, 7 1355-1359 1994, 8 1360-1364 1996, 9 1365-1371 2003, 11 1376-1387 2001, 12 1388-1392 2008, 13 1393-1396 2001, 14 1397-1409 2004, 15 1400-1403 2009), die eigene Nutzung der durch sein Projekt erschlossenen Quellen mit einer zusammenfassenden Studie förmlich beenden.

 

Seine neue, abschließende Untersuchung gliedert der Verfasser klar in vier Abschnitte. Zunächst stellt er dabei die vier verschiedenen Formen der Königsgerichtsbarkeit dar. Hierbei betrachtet er nacheinander die persönliche Gerichtsbarkeit des Königs, die an seiner Stelle tätigen Richterkommissare, das königliche Hofgericht und das königliche Kammergericht.

 

Danach wendet er sich den neuen Anforderungen an die Königsgerichtsbarkeit im 14. Jahrhundert zu. Sie betreffen den Rechtszug an den König mit Ansätzen bei Appellationen, Nichtigkeitsbeschwerden wegen Verfahrensverstoßes, Beschwerden wegen Rechtsverweigerung und bloße Urkundenvidimierungen. Insgesamt kann er dabei eine deutliche Zunahme der Gerichtsbarkeit seit der Mitte des 14. Jahrhunderts erkennen.

 

Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts verstärkt sich diese Entwicklung sichtlich. Dabei scheidet das Hofgericht schon weit vor 1451 als nennenswerter Faktor der königlichen Gerichtsbarkeit aus und verschwindet 1451, weil es die Anforderungen als ein oberstes Appellationsgericht nicht erfüllen kann. In dieser Lage versuchen die Heerscher die Begründung einer Stellung als oberster Richter.

 

In einer gewichtigen Entscheidung vom 14. März 1450 weist der König eine Appellation vom Kammergericht an ihn als unzulässig zurück, weil das Kammergericht von ihm beauftragt ist und er Appellationen gegen kammergerichtliche Urteile nicht annimmt. Mit dieser neuen Funktion als oberster Richter wächst nach den Erkenntnissen des Verfassers dem König eine zusätzliche Kraft zu, mittels deren er das Reich besser zusammenhalten kann. Damit wurde nach den Worten des Verfassers der Grundstein für die Ausbildung des Heiligen römischen Reiches als Justizstaat gelegt.

 

Mit diesen weiterführenden Ergebnissen kann der sich für Gericht und Recht in langen Jahren beispielhaft mit besonderem Erfolg einsetzende Verfasser zwar nicht sein ursprüngliches Vorhaben vollständig ersetzen. Er kann aber doch mustergültig zeigen, welch großes Gewicht die Entwicklung vom einstufigen Gericht zur obersten Rechtsmittelinstanz für die Reichsverfassung insgesamt hat. Dass das Reich Jahrhunderte später an gegensätzlichen Landesinteressen seiner Einzelteile zerbricht, ist der früheren günstigen Entwicklung zum geringsten Teil anzulasten.

 

Innsbruck                                                        Gerhard Köbler